Michael Kohlhaas oder Über Gerechtigkeit

Wir hinken in der Kinostadt ja manchmal hinterher, was Filme angeht. Unglaublich eigentlich, aber so ist es. So haben wir die französische Verfilmung der Kleist-Novelle Michael Kohlhaas, immerhin aus dem Jahre 2013, gerade erst gestern gesehen. Dabei war der Film seinerzeit sogar ein Anwärter für die Goldene Palme. Die hat aber La Vie d’Adèle bekommen (das habe ich gerade nachgelesen). Das Gerechtigkeitsdrama Michael Kohlhaas ging damals komplett unbemerkt an mir vorbei. Es war wohl noch nicht mein Interessenschwerpunkt, sagen wir mal so.

Das Leben wollte, dass es mich Jahre später nun doch interessiert. Seit Monaten rumort es nämlich in meinem Hirn: “du musst Michael Kohlhaas lesen!”, denkt es wieder und wieder. Ich kaufte immerhin bei einem bouquinisten eine Novellensammlung Kleists (in Deutsch) aus dem 19. Jahrhundert und stieß bei weiteren Recherchen auch auf den schon erwähnten Film. Oh! Und es gibt ihn auch in französischer Sprache! Wie klasse, dachte ich, wir schauen den Film, dann muss ich Kleist für Monsieur nicht mal mühsam übersetzen. Gestern haben wir ihn in der Médiatheque ausgeliehen und angesehen.

Nun, ich fasse Ihnen Michael Kohlhaas für alle Fälle mal zusammen. Falls Sie noch wissen, um was es geht, können Sie den nächsten Abatzt komplett überspringen. Falls Sie auch den Film schon kennen, können Sie sogar zwei Absätze überspringen und setzen nach dem zweiten Trailer wieder ein. So sparen Sie wertvolle Sekunden, ist ja wichtig in Zeiten, in denen Texte mit ungefährer Lesezeit angegeben werden. Wir haben ja alle keine Zeit mehr. Ich fürchte übrigens, dass dieser Text heute sehr lang wird. Außerdem wird es kein heiterer Südfrankreich-ist-sooo-toll-Artikel. Es wird genauso düster wie der Film. Sie können sich das Weiterlesen noch überlegen und wegklicken. Zeit gespart. Keine Sorge. Alles gut. Ich bin niemandem böse. Vielleicht schauen Sie einfach in ein paar Tagen wieder rein.

Hier jetzt also erstmal die Zusammenfassung:

Dem frommen Pferdehändler Kohlhaas wird Unrecht getan: auf dem Weg zum Markt, auf dem er seine Pferde verkaufen will, wird ihm Wegezoll abverlangt, da er (noch) kein Geld hat, lässt er zwei seiner Pferde als Pfand da und einen Knecht, der sich um die Pferde kümmern soll. Als er wiederkommt, sind seine Pferde in einem elenden Zustand, da man sie als Arbeitspferde eingesetzt hat. Auf den Knecht hat man zuerst die Hunde gehetzt und ihn dann fortgejagt. Außerdem hat Kohlhaas erfahren, dass der Wegezoll zu Unrecht verlangt wurde. Er findet, dass das alles so nicht geht, erkennt die geschundenen Pferde nicht als seine an und erhebt Klage. Sie wird (mehrfach) abgelehnt, der Beklagte hat zu gute Beziehungen zum Gerichtshof. Kohlhaas’ Frau begibt sich als Vermittlerin auf den Weg zum Hof einer Prinzessin, um dieser einen Bittbrief an den König zu übergeben. Sie kommt unverrichteter Dinge, dafür tödlich verletzt wieder, und sie stirbt kurz darauf. Jetzt sieht Kohlhaas keinen anderen Weg, als sich selbst Gerechtigkeit zu verschaffen. Mit einer Gruppe kampfbereiter Männer macht er sich auf und richtet im Haus des Täters ein Blutbad an, der Täter entkommt jedoch und versteckt sich in einem Kloster. Kohlhaas belagert das Kloster, der Mann entkommt auch von dort, und Kohlhaas zieht fortan mit seinen Helfern mordend und brandschatzend durch das Land, bis dass man ihm Gerechtigkeit widerfahren lässt. Am Ende bekommt er tatsächlich einen gerechten Prozess, erhält seine Pferde in einem guten Zustand zurück, bekommt zusätzlich finanzielle Entschädigung, wird danach aber wegen Landfriedensbruch und all der Gewalttätigkeiten verurteilt und hingerichtet. Er nimmt die (Todes-)Strafe aber geradezu gelassen an, er hat Gerechtigkeit erlangt. Schluss. So in etwa zumindest.

Falls Sie noch mehr Hintergrundwissen möchten, können Sie auch googlen (oder schreibt man googeln?), hier als Beispiel der Wikipedia-Text.

Warum also quäle ich Sie heute mit diesem Film, der kinotechnisch schon Schnee von gestern ist? Mit all der Düsternis? Der Film wurde anscheinend ganz authentisch ohne künstliches Licht gedreht, die Hälfte der Szenen liegt so im Dunkeln und auch viele Grausamkeiten sind nur zu erahnen. Einen guten Teil des wenigen Textes, den der durchaus hinreißend aussehende Mads Mikkelsen mit seinem niedlichen Dänisch-Französisch zu sagen hatte, habe ich auch nicht verstanden. Und jedes Mal, wenn ich Monsieur anstieß und fragte, was hat er gesagt?, schüttelte der nur den Kopf: chais pas. Hat er auch nicht verstanden. Dafür pfiff der Wind umso lauter übers karge Land, die Fliegen sirrten, und es ist immer nur Winter oder Herbst in den Cevennen. Warum also? Weil es bei der Geschichte, die uns gerade passiert, seit mehr als zwei Jahren um genau zu sein, ebenso um Gerechtigkeit geht. Und Monsieur ist im Begriff, sich in einen Mads-Mikkelsen-Michael-Kohlhaas zu verwandeln.

Sie erinnern sich vielleicht, im Herbst 2015 verwüstete das Hochwasser ganze Stadtteile von Cannes. Wir haben dabei große Teile von Monsieurs Kriminalromansammlung verloren. ich schrieb darüber hier oder hier. Die Dame, von der in einem der Texte die Rede ist, die im Hochwasser all ihr Hab und Gut verloren hatte, wollte gerne entschädigt werden. Das ist durchaus verständlich, aber sie war nicht versichert. Daher wandte sie sich an uns und drohte gleichmal, uns verklagen zu wollen, falls wir ihr nicht umgehend eine Summe X zukommen lassen würden, über deren genaue Höhe sie sich allerdings ausschwieg. “Angemessen” müsse sie sein. Wir fanden ihre Situation zwar beklagenswert, so wie die Situation aller Menschen, die vom Hochwasser betroffen waren, nicht jedoch, dass wir sie mit der Summe X entschädigen müssten, denn immerhin handelte es sich bei dem Hochwasser um eine Naturkatastrophe, an der wir schuldlos waren, und wir haben ebenso Dinge verloren. Tatsächlich hatten wir erwogen, sie vorübergehend in meinem Büro zu beherbergen, hätten ihr weiterhin gerne mit einer neuen Matratze ausgeholfen, mit Möbeln, mit Bettwäsche oder Elektrogeräten. Und wir hätten die Wohnung, sobald sie wieder trocken wäre, auch renoviert. Genauso wie wir auch unsere Bibliotheks-Keller wieder hergerichtet haben. Ihre Aggressivität und ihre immer wüsteren Drohungen uns anklagen zu wollen, ließen uns davon absehen, sie bei uns aufzunehmen. Unsere Matratze wollte sie auch nicht, sie wollte die Summe X und forderte nun zusätzlich, dass wir sie in einer anderen Wohnung unterbringen müssten, und wenn wir keine hätten, dann müssten wir ihr eben eine anmieten und die Miete dafür zahlen. J’y connais mes droits!, schimpfte sie. J’y connais mes droits! Und die momentan unbewohnbare Wohnung müsste außerdem vollkommen neu konzipiert werden. So wie bisher könne sie da zukünftig nicht mehr leben! Das sei eine Zumutung. Mich erschütterte das alles sehr, denn in dieser kleinen Wohnung habe ich von April bis September 2010 gelebt und sie noch bis 2012 als Büro genutzt. Hier begann mein Cannoiser Leben, ein neues Leben nach dem Tode Patricks. Hier habe ich in dem verwunschenen Garten gesessen und gelesen, gepicknickt und in die Sonne geblinzelt. Einen kleinen Teil davon habe ich umgegraben und bearbeitet und einen Gemüse- und Blumengarten angelegt. Über meine fragwürdigen Ernteerfolge, den Kampf gegen die Nacktschnecken und gegen Blumen klauende Nachbarn habe ich launige Kolumnen geschrieben (unter Pseudonym, über das wir jetzt vielleicht sprechen dürfen; die Texte sind übrigens so zerknittert, weil sie auch mit dem Hochwasser in Kontakt gekommen sind; immerhin konnte ich sie retten und habe sie einzeln getrocknet und von Hand gebügelt).

Zurück zur Wohnung. Hier gab mir Monsieur irgendwann einen ersten Kuss. Ich war hier sehr glücklich und habe die Wohnung als Büro nur aufgegeben, weil das Finanzamt eine unverschämt hohe taxe professionnelle, eine Art Gewerbesteuer, dafür einforderte, die in keinem Verhältnis zu meinen geringen Einkünften stand. Ich verstand nicht, was an dieser Wohnung so unzumutbar sein sollte. Und so weit ich es mitverfolgt habe, hatte Madame B. auch drei Jahre lang dort normal gelebt, die Miete bezahlt und immer wieder davon gesprochen, auch einen Gemüsegarten anlegen zu wollen, aber gemacht hat sie es dann doch nie.

Ihre Vorstellungen, was wir ihr jetzt und zukünftig schuldeten, gingen ins Absurde. Der Ton war feindselig. Wir lehnten ab und schlugen ihr vor, sich besser nach einer anderen Wohnung umzusehen, schon weil die bisherige von nun an als überschwemmbar eingeschätzt wird und daher nicht mehr vermietet werden kann. Immerhin warf sie uns ja auch vor, ihr Leben in Gefahr gebracht zu haben. Nun, Sie denken es sich: Sie verklagte uns. Die Anklage war grotesk. Sie machte sich den Umstand des feuchten, schlammigen Zustands der überschwemmten Wohnung zunutze, um zu behaupten, die Wohnung sei schon vorher in diesem Zustand gewesen: feucht, mit einer Sickergrube, aus der widerwärtige Gerüche drangen. Das alles war so überzogen, dass wir lachten. Das würde jeder einsehen, dass es nicht stimmte. Sickergrube! In einer Stadtwohnung! Aber sie fand Menschen, die eidestattlich logen, dass es sich so verhielt. Und einen Anwalt, der eine Anklageschrift verfasste, die uns darstellte wie Halsabschneider, die eine arme unschuldige Frau in einem dunklen vergitterten Kellerloch eingesperrt hielten, in dem Schimmel an den Wänden wuchs und es widerwärtig stank. Er verlangte für seine Mandantin binnen 48 Stunden eine angemessene Wohnung oder ein Hotelzimmer, für das wir aufzukommen hätten, forderte für sie die Gesamtsumme der seit über drei Jahren gezahlten Miete zurück und klagte uns weiterhin an, Wohnungen in unzumutbarem Zustand zu vermieten, die für die Mieterin eine Gefahr an Leib und Leben darstellte. Die Prozesskosten gingen ebenso zu unseren Lasten. Undsoweiter. Wir lasen diese Anklageschrift mit zitternden Händen. Es war absurd. Aber klar war auch, dass wir einen Anwalt bräuchten.

Wir wandten uns vertrauensvoll an Maître C., der, so schien mir, uns nicht wirklich glaubte und vor seinem geistigen Auge eine Wohnung in mittelalterlichem Zustand sah und sagte “Sickergrube, hmhm” und “so etwas ist heute nicht mehr zulässig” und “einigen Sie sich besser gütlich”. “Aber hallo”, sagte ich, “ich habe in dieser Wohnung gelebt, das ist eine kleine Wohnung unter Straßenniveau, davon gibt es viele in Cannes, aber sie ist vollkommen korrekt und es gibt dort keine Sickergrube, das kann ich beschwören.”  “Ja”, lächelt der Anwalt milde, “Sie als Ehefrau können sagen, was Sie wollen, es hat vor Gericht keinen Bestand, und solche Wohnungen sollte man heute wirklich nicht mehr vermieten.” “Nun”, wende ich ein, “alle Großstädte der Welt sind voll mit Wohnungen, die unter Straßenniveau liegen, ich kenne das aus London, Amsterdam, New York. Sie sind vielleicht weniger schick, aber billig und es hat einen Sinn, dass man diese Wohnungen vermietet, denn es gibt Leute, die können sich die teurere Wohnung im ersten Stock nicht leisten. (Madame B. hat die Wohnung immerhin aus freien Stücken angemietet.) Die Wohnung ist völlig korrekt, sie hat nach hinten hinaus zwei Fenster auf normaler Höhe (das Haus liegt, wie so viele in Cannes, am Hang) und die “Sickergrube” ist eine Brauchwasserpumpe, die das Wasser auf Straßenniveau pumpt und an die Kanalisation angeschlossen ist.” “Jaja”, sagt Maître C. genervt, “ich rate Ihnen dennoch zu einer gütlichen Einigung” und er nennt eine Summe Y. Davon sind wir weit entfernt. Wo kommen wir denn da hin? Wenn wir der Dame eine Summe X oder Y zahlen, nur weil sie lügt und uns erpresst, was fordert sie denn dann zukünftig? Da er uns aber nur “so” verteidigen würde, gehen wir zur ersten Verhandlung ohne Anwalt und verteidigen uns selbst. Es wird eine Gerichtsexpertise angeordnet, um den Zustand der Wohnung zu überprüfen. Unsere Mieterin “wohnt” offiziell noch immer in dieser Wohnung, das heißt sie hatte die Schlüssel dazu, und wir haben gegen ihren Willen keinen Zugang (in Wirklichkeit logiert sie bei Bekannten, und zahlt, das ist allerdings selbstverständlich, nun keine Miete mehr), sie hält (entgegen unsere Bitte aber) alle Fenster und Türen geschlossen und sorgt so dafür, dass ein nettes Feuchtbiotop entsteht, indem sie vermutlich Pilze züchtet. Das Gericht wollte uns keinen Zugang zu der Wohnung gewähren, damit wir mit den Reparatur- und Aufräumarbeiten beginnen könnten. (Falls Sie sich den Zugang gegen ihren Willen verschaffen, kann man Sie wiederum wegen Hausfriedensbruch verklagen, was die Lage nur verschlimmert, also taten wir das nicht und sahen dem Expertentermin entgegen.)

Monate später. Expertentermin. Alle finden sich ein. Madame B., ihr Anwalt G., der Experte G. aus Toulon und Monsieur. Die Wohnung ist nun schwarz verschimmelt, riecht modrig und als man die berühmte “Sickergrube” öffnet, stinkt es dort tatsächlich bestialisch. Anwalt G., der Experte G. aus Toulon und die Dame B. schauen dramatisch besorgt. Unausgesprochen sagen sie: das wird böse für euch enden.

Die Zeit vergeht. Madame B. wird in der Zwischenzeit von der Stadt Cannes eine andere Wohnung zugewiesen und sie gibt uns die Schlüssel zurück. Wir erhalten Kenntnis davon, dass das Hygieneamt der Stadt, auf Bitte von Madame B., die Wohnung ebenfalls inspiziert hatte, schon gleich nach der Hochwasserkatastrophe. Die Expertise der Stadt besagt, dass die Wohnung sich in einem korrekten Zustand befindet (Fenster, Deckenhöhe, Quadratmeterzahl, Heizung, sanitäre Einrichtungen), dass sie aufgrund des Hochwassers beschädigt wurde und erkennt eine Brauchwasserpumpe, die an die Kanalisation angeschlossen ist. Die “pestilenziellen” Gerüche, die die Mieterin beklagt, waren an dem Tag nicht vorhanden.

Monate später erhalten wir den “Entwurf” des Expertenberichts. Darin massakriert er uns. 50 Seiten voller Lügen. Es steht “Sickergrube” quasi auf jeder Seite. Was eine “Sickergrube” ist, wird seitenlang erörtert und dass sie, natürlich, nicht zulässig ist. Dazu eine ganze Serie schrecklicher Bilder, unter anderem von Sickergruben, die mit der Wohnung nichts zu tun haben. Er kommt zum Schluss, dass wir, wie vom Anwalt gefordert, zur kompletten Mietrückzahlung verurteilt werden sollten, einschließlich der Prozesskosten, die Kosten seiner Expertise etc.  Wir haben noch ein paar Tage Zeit, um Einspruch zu erheben, bevor er diesen Bericht “endgültig” abschicken wird.

Maître C. blättert mit besorgter Miene den Bericht durch und sagt wieder “einigen Sie sich gütlich” und schlägt erneut die Summe Y vor, damit wir nicht zu der Summe XYZ verurteilt würden. Das lehnen wir ab. Maître C. lehnt daraufhin ab, uns zu verteidigen. Wir beauftragen in Windeseile einen anderen Experten S., der uns von Maître C. immerhin noch genannt wird, und der, so hat es den Anschein, auf unserer Seite ist. Er liefert einen Bericht ab, der den des Gerichtsexperten in sämtlichen Punkten widerlegt (glauben wir, aber, um es gleich vorweg zu nehmen, ein Experte hackt dem anderen kein Auge aus und letztlich erweist sich sein Bericht für uns als unbrauchbar). Wir geben diesen Bericht, sowie den Bericht der Stadt in die Unterlagen aller Beteiligten (Experte, Richter, Gegenanwalt) und suchen Händeringend einen anderen Anwalt. Es ist nicht leicht. Maître B. ist, oh Wunder!, disponibel und möchte uns auch verteidigen. Bislang geht es noch darum, den Expertenbericht des Experten G. aus Toulon zu widerlegen. Wir finden Maître B.’s Brief, in dem er den Experten “zur Vernunft” bringen möchte, ruhig, sachlich und vernünftig. Nützt aber nichts. Der Experte liefert den Bericht sogar noch dramatischer ab. Es gäbe keine Abflüsse behauptet er, weder im Bad noch in der Küche. Und er hat Fotos von eigenartigen Abwassersystemen eingebaut, die nicht aus der Wohnung stammen, von denen er aber eidestattlich und mit Brief und Sigel behauptet, sie stammten aus besagter Wohnung.

Wir lassen den Zustand der Wohnung nun von einem Gerichtsvollzieher dokumentieren, der Fotos der Brauchwasserpumpe und von den sehr wohl vorhandenen Abflüssen usw. macht, und der uns zertifiziert, dass einige in der Gerichtsexpertise vorkommende Fotos nicht aus der Wohnung stammen.

Vorsichtshalber haben wir auch den Staatsanwalt in Grasse angeschrieben, der uns rät bei der Hauptverhandlung eine gerichtlich angeordnete Gegenexpertise zu fordern.

Monate später, die Justiz arbeitet langsam, werden wir zur Hauptverhandlung vorgeladen. Hier wird plädiert und am Ende steht ein Urteil. In der Zwischenzeit gibt es am Gericht von Cannes sogar eine neue Richterin. Das lässt hoffen. Maître B.’s abschließende Verteidigungsschrift ist weiterhin sachlich und vernünftig, scheint uns aber etwas schwach angesichts der dreisten Lügen, die uns gegenüberstehen, und wir bitten darum, dass er die Expertise und alle Forderungen entschiedener zurückweist, mit Hinblick auf den Bericht des Gerichtsvollziehers. Maître B. möchte das anscheinend nicht, denn er ist von nun an nicht mehr erreichbar. Der Gerichtstermin naht, Maître B. ist noch immer “nicht erreichbar” für uns, wir entziehen ihm kurzerhand den Fall und verfassen fieberhaft in den folgenden Tagen und Nächten unsere Verteidigungsschrift selbst. Es ist der Tag X. Zum Plädieren und Verteidigen  kommen wir gar nicht. Die Richterin, deren Unterlagenmappe leer ist, sieht den Stapel Papier, den wir ihr überreichen, kritisch an. Das kann sie jetzt nicht durcharbeiten. Sie will auch Monsieur nicht anhören. Sie schickt uns wie unfolgsame Kinder auf unseren Platz und nach einer kurzen Aussprache mit dem Gegenanwalt G. nimmt sie alles an sich und ordnet eine Entscheidung für Mitte Dezember an. Die Sitzung ist geschlossen.

Zwei Tage vor Weihnachten erhalten wir das Urteil. Wir haben verloren. Wir werden zum Zahlen der Summe XZ verurteilt, weil wir eine Wohnung in unzumutbarem Zustand mit unzulässiger Sickergrube etc. an Madame B. vermietet haben. Die Summe ist weniger hoch, als vom Experten gefordert, aber ungefähr doppelt so hoch wie das, was man uns die ganze Zeit als “gütliche Einigung” geraten hat und entspricht in etwa einer Mietrückzahlung von zwei Jahren.

Sind Sie noch da? Die Geschichte ist lang und kompliziert, ich weiß. Alle Menschen aus unserem Umfeld können sie auch schon nicht mehr hören. Hättet Ihr Euch mal gütlich geeinigt sagen die einen. Hättet ihr mal gleich mit einem Anwalt gearbeitet, sagen die anderen oder auch: Hättet ihr mal eine guten Anwalt genommen. Haha. Genauso wie man Michael Kohlhaas geraten hatte, es gut sein zu lassen. Nimm deine halbverreckten Pferde zurück und lass es gut sein. Dass man die Hunde auf deinen Knecht gehetzt hat. Lass gut sein. Wegezoll zu Unrecht verlangt. Lass gut sein. Deine Frau getötet. Jetzt lass erst recht gut sein, wer weiß, was sonst passiert!

Die Geschichte ist eigentlich noch viel komplizierter, ich könnte auch noch weiter ins Detail gehen, aber lassen wir es dabei und sagen nur, dass diese Anklage von Madame B. nur ein weiterer Stein ist, den man uns seit Jahren in den Weg legt. Es geht wohl darum, uns mürbe zu machen, damit wir dieses Haus loswerden, sprich verkaufen wollen. Die Vorfälle in diesem alten Mietshaus, das Monsieur mit seinem Bruder geerbt hat, häufen sich, seitdem der Bruder zwei der Wohnungen an die ebenso an Geld- wie Einfluss-reiche Madame C. verkauft hat, die sich das Haus nun gerne komplett aneignen würde, einschließlich des für Innenstadtverhältnisse überraschend großen Gartengrundstücks, um das Haus abreißen zu lassen, und auf dem Grund etwas Rentableres zu bauen. Das können wir natürlich alles nicht beweisen. Aber das ärmliche Stadtviertel steht, so haben wir gehört, kurz vor seiner Gentrifizierung, und man könnte einen schönen Immobiliendeal damit machen. Wenn Monsieur nur nicht so stur wäre und an diesem Haus mit all seiner Liebe hinge (es wurde von den Urgroßeltern erbaut) und er es einfach gerne selbst behalten möchte, um es wiederum seinen Kindern und Enkelkindern zu vererben.

Kommt Ihnen das bekannt vor? Ja? Nein? Christine Cazon hat in ihrem zweiten Krimi “Intrigen an der Côte d’Azur” so ein ähnliches Szenario entwickelt. Es geht da um ein Hotel. Aha, sagen Sie jetzt vielleicht verdutzt und stellen mir die Frage, die mir auf der Buchmesse gestellt wurde: Wo bleibt denn da die Fiktion? Wer braucht denn Fiktion, wenn die Realität die Fiktion übersteigt, frage ich zurück. Und keine Sorge, das Hotel immerhin hatte ich frei erfunden.

Die Menschen in unserem Umfeld, die das alles nicht mehr hören können und nur in Frieden ihr kleines Leben leben wollen, sagen nun erneut zu Monsieur, lass gut sein, wenn es tatsächlich so ist, hast du es mit einer so mächtigen Person zu tun, dass du eh nichts ausrichten kannst. Und: verkauf ihr doch das alte Haus, was musst du dir in deinem Alter denn noch so einen Ärger zumuten? Du ruinierst deine Gesundheit, du ruinierst dich finanziell. Wozu? Lass gut sein.

Was würde Michael Kohlhaas tun? Sehen Sie!

Also überlegen wir, in Berufung zu gehen. Ein neuerlicher Prozess vor dem höheren Gericht in Aix en Provence würde Jahre dauern, uns weiterhin Sorgen machen und schlaflose Nächte bereiten und zudem Summen XZ oder sogar XYZ verschlingen, und es wäre nicht sicher, dass wir gewännen, sagt uns ein Anwalt in Nizza, dort wo mich neulich das Navigationssystem nicht hinführen wollte. Und er rät ab. Es war ein beinahe tröstlicher Termin. Er plauderte aus dem Nähkästchen, Richter seien auch nur Menschen, und man müsse Glück haben bei Justizangelegenheiten, sagt er. In acht von zehn Fällen habe man leider kein Glück. Er verbleibt mit dem Hinweis auf das Gottesgericht am Ende jeden Lebens. Das letzte Hemd hat keine Taschen, sagt man. Man stirbt allein, heißt es bei Michael Kohlhaas. Und vor Gott werden sich alle verantworten müssen. So lange müssen wir wohl warten. Auf Erden gibt es derzeit keine Gerechtigkeit. Zumindest nicht in Cannes.

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Nun wir sind verurteilt worden, zu Unrecht. Wir gehen nicht in Berufung, wir werden die Summe, zu der man uns verurteilt hat, zahlen, aber wir gehen auch an die Öffentlichkeit. Nice Matin hat uns angehört, einen Journalisten und einen Fotografen geschickt, die sich die Wohnung angesehen haben. Und es gab einen Artikel. Immerhin etwas.

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24 Responses to Michael Kohlhaas oder Über Gerechtigkeit

  1. dreher sagt:

    Danke Franka und Ingrid! Und danke Ihnen allen, die Sie sich hier äußern.

    Ich verstehe schon – ich denke ähnlich, aber meinen Mann “freut” und “interessiert” der Besitz seines Hauses schon. Er würde es auch gerne, wie seine Vorfahren, weitervererben, und für ihn ist es nicht “nur Geld”.

  2. Karin sagt:

    Liebe Christiane,
    wie gut kann ich Monsieur verstehen! Ich hatte mal einen natürlich nicht vergleichbaren Fall, aber am Ende liess mich meine Untermieterin mit der letzten Miete, einem Haufen Müll und vor allem mit einem sehr schlechten Gefühl zurück nachdem sie jahrelang von meiner Freundlichkeit profitiert hatte, die gesamte Wohnung genutzt hatte, obwohl sie nur Mieterin eines der Zimmer mit Küchen-/Badbenutzung war, und plötzlich eine sehr unangenehme Seite von sich zeigte. Es war hart, dies als “Lebenserfahrung” abzuhaken, aber es war für mich der einzige Weg wieder ruhig zu schlafen. Am schmerzhaftesten war es, dass ich mich so in ihr getäuscht hatte.
    Ich wünsche Dir und Monsieur die Kraft, dies hinter Euch zu lassen. Es ist zum Verzweifeln, man hat Recht, kann es aber nicht durchsetzen. Vielleicht bewirkt der Artikel in der Zeitung ja etwas?
    Liebe Grüsse,
    Karin

  3. Caroline Bahri sagt:

    Wir wollten einem Bouleskumpel kurzfristig behilflich sein und haben ihm ein Appartement in Vallauris vermietet, weil er aus seiner Wohnung musste. Er hat dann dort über 3Jahre gewohnt, ohne je einen Cent Miete zu zahlen. Er hat im Salon auf einem Camping-Gaskocher gekocht, weil er auch keinen Strom gezahlt hat. Wir haben über 3 Jahre, auch mit Rechtsanwalt, gebraucht, bis er dann freiwillig mit unbekanntem Ziel verschwunden ist. Wir haben schnell die Schlösser getauscht, die Wohnung renoviert, waren froh, dass er nicht das ganze Haus abgebrannt hat und haben die Geschichte unter „Erfahrung in Frankreich“ verbucht.

  4. dreher sagt:

    Danke liebe Caro und liebe Karin,
    solche Geschichten könnte ich seitenweise erzählen. Früher hatte ich Tendenz den Vermieter als “böse”, auf jeden Fall als “Gegner” zu sehen. Ich selbst hatte gute und schlechte. War als Mieterin aber immer korrekt. Ich wäre lieber nicht in Urlaub gefahren oder hätte keine Weihnachtsgeschenke gemacht, als meine Miete nicht zu zahlen. Das sehen viele Mieter (in Frankreich) aber anders. Ich sehe heute auch vieles anders, seitdem ich (indirekt) auf der Vermieterseite stehe.

  5. Vinni sagt:

    Uff, was für eine Geschichte. Ich wünsche gute Nerven und dass die Geschichte bald ein Ende findet, auch wenn das mit der Gerechtigkeit wohl schwer werden wird.