Das 2. DEFA-Festival in Cannes

Es war toll! Wir sollten mehr dieser Veranstaltungen machen, bat uns der derzeitige Kinobetreiber des Olympia in Cannes, denn bei den von uns gezeigten Filmen, obwohl sie nicht einmal plakatiert waren, d.h. es war eine reine Insider-Veranstaltung, Geheimtipp sozusagen, waren die Säle voller als bei anderen Filmen, die derzeit im Kino laufen. Das muss man erstmal schaffen, an einem sonnigen Sonntagmorgen um halb elf 50 Leute für einen alten unbekannten Schwarz-Weiß-Film ins Kino zu bekommen. Der Saal war halbvoll, ja, stimmt, beim letzten Defa-Festival waren wir doppelt so viele, aber damals stand das Festival im Kontext 30 Jahre Mauerfall und allüberall sprach man von der DDR. Jetzt musste sich unser kleines Festival gegen x andere Veranstaltungen, darunter das riesige Yacht-Festival in Cannes und gegen unzählige TV-Dokumentationen zum Tode von Queen Elizabeth II durchsetzen. Und nach zwei Jahren Covid gehen die Menschen deutlich weniger ins Kino, meiden Veranstaltungen in geschlossenen Räumen generell. Wenn man all das berücksichtigt, dann war dieses kleine Festival ein großer Erfolg!

Ich meckere oft über Cannes, aber dieses Mal bin ich stolz, denn eines ist sicher, Cannes hat ein cinephiles, Film-erfahrenes und auch an außergewöhnlichen Filmen interessiertes Publikum.

Die DEFA-Filme sind außergewöhnlich, man konsumiert sie nicht einfach so, und sie bleiben im Gedächtnis hängen. Allerdings, das wissen Sie noch vom letzte Mal, muss man, um sie wirklich zu verstehen, etwas von der Geschichte der DDR allgemein und von den Umständen im besonderen wissen. Glücklicherweise hatte uns Franka Günther, die ehemalige Leiterin des Institut Francais in Erfurt, auf deren Idee und Betreiben die DEFA-Filmfestivals in Cannes überhaupt entstanden sind, und die zusammen mit dem Goethe-Institut und Serge Basilewsky, dem Vereinspräsidenten von Cinécroisette, nicht nur die Filmauswahl mitgestaltet, sondern uns auch den sympathischen und kompetenten Wieland Koch von der DEFA-Stiftung mitgebracht hat, der uns über die Filme, die Regisseure und Schauspieler und vor allem über die Einordnung der Filme in die Geschichte der DDR, erhellte.

Und dennoch. Ich sagte es vorgestern schon, nachdem ich Konrad Wolfs Film “Der geteilte Himmel” (nach einem Roman von Christa Wolf, nicht verwandt mit dem Regisseur, und übrigens überall falsch übersetzt in “Le ciel partagé”, anstelle von “Le ciel divisé”) gesehen hatte: Ich bin Deutsche, ich kenne unsere deutsche zweigeteilte Geschichte (die der DDR zumindest etwas), ich sehe einen deutschen Film, die Schauspieler sprechen deutsch, und ich habe den Eindruck, ich verstehe nichts oder zumindest nicht alles. Die Art, wie die Menschen in den Filmen miteinander sprechen, was sie sagen, beibt mir fremd. Jedes Wort, jeder Satz, jedes Zitat ist spürbar bewusst gewählt und hat, so scheint es mir, eine tiefere Bedeutung, spielt auf etwas an, was sich mir entzieht. Der Film ist groß und großartig! Die expressionistische Bildsprache (Licht, Schatten, Regen) ist beeindruckend, ebenso der Kontrast der proletarischen Arbeitswelt in einem Waggonwerk und der Hochschule, zwischen denen die Heldin Rita pendelt. Und er spielt vor dem Hintergrund des durch eine Mauer geteilten Deutschlands (damals also ein aktueller Gegenwartsfilm!), ohne die Mauer je zu zeigen! Es passiert so viel in diesem Film, jenseits der Liebesgeschichte zwischen der jungen Rita und dem Chemiker Manfred, die letzten Endes zerbricht. Manfred kommt von einem Kongress im Westen nicht zurück; Rita aber bleibt im Osten, denn, ich zitiere hier nur aus dem Gedächtnis “bei der zukünftigen Gestaltung des Landes kommt es auf jeden einzelnen von uns an”. Ich müsste ihn noch mehrfach sehen, um alles darin zu erfassen, etwa die Diskussionen unter den Arbeitern und die zwischen Manfred und Rita, die Details in den gezeigten Räumen! die Bilder an der Wand, die Musik, die aus dem Radio schallt und die Vinyl-Platten, die aufgelegt werden) und alles zu begreifen, wie etwa die Kritik an den “Normen”: Wieviele Fenster kann man an einem Tag in einen Zugwaggon einbauen? Die Brigade, der Rita zugeteilt wird, schafft zwei Fenster mehr als vorgegeben. Ein heikles Thema vor dem Hintergrund der Arbeiteraufstände von 1953, wo man seinerzeit wegen ebendieser Normerhöhungen (und Verschlechterung der Arbeitsbedingungen) auf die Straße ging, ein Aufstand, der von sowjetischer Seite niedergeschlagen wurde und der (kleine Info für die eventuell jüngeren LeserInnen unter Ihnen), zu unserem vormaligen Tag der deutschen Einheit am 17. Juni geführt hat.

Der Film bekam viel verdienten Applaus!

Nachmittags sahen wir in einem kleinen und fast noch nagelneuen Vorstadtkino “Jadup und Boel” – einen Film aus den achtziger Jahren gedreht von Rainer Simon, einem Schüler von Konrad Wolf; Rainer Simon war ein kritischer Geist, dem man schon den ersten Film, den er drehen wollte (über eine rebellische Jugend), nicht erlaubte; stattdessen wurde er beauftragt Märchenfilme für die Defa drehen. Dass man ihm später dennoch “Jadup und Boel” drehen ließ, hatte auch damit zu tun, dass man ihn, der immerhin ein begabter Regisseur war, im Land halten und “sinnvoll” beschäftigen wollte.

Jadup, der Bürgermeister einer kleinen Stadt, weiht ein Kaufhaus ein, als direkt daneben ein altes Haus einbricht. Ein angereister “Historiker” (der im Prinzip Flohmarkthändler ist und den Leuten alte Schätzchen abschwatzt, die er in Berlin teuer weiterverkaufen will) mit dem sprechenden Namen “Gwissen” (amüsanterweise gespielt vom (bereits verstorbenen) Michael Gwisdek), findet in den Trümmern des Hauses ein Buch, dass der Bürgermeister als junger Mann kurz nach dem Krieg dem “Flüchtlingsmädchen” mit dem “komischen Namen” Boel gewidmet hatte. Boel war damals aus dem Dorf verschwunden, man munkelt, dass sie vergewaltigt worden sei. Es wurde nie geklärt, was wirklich geschehen war. Mit dem gefundenen Buch lebt die Erinnerung an Boel wieder auf. Der Kleinstadtklatsch geht los. Hat der Bürgermeister sich etwas vorzuwerfen?

Mich hat der Film bedrückt, nicht nur wegen der realistischen Darstellung der armseligen 80er Jahre Kleinstadt-Piefigkeit, die mich so trifft, weil sie mich an meine eigene 70er/80er Jahre West-Jugendzeit erinnert. So weit waren wir nicht davon entfernt. Vor dem Haus standen dieselben verdellerten verzinkten Mülltonnen, es gab frühreife Mädchen mit ebenso kunstvoll geföhnter Außenwelle in meiner Schulklasse und coole Jungs, die mit den “richtigen” Mofas herumknatterten, und lange Zeit hatte ich auch nicht die “richtige” Jeans, weil sie zu teuer war. An all das erinnere ich mich, und auch daran, dass ich später, kurz nach dem Mauerfall, kreuz und quer in der Ex-DDR herumfuhr und versuchte, ein Land zu erkunden. Vergeblich, um es gleich zu sagen, oder sagen wir so, gesehen habe ich viel, verstanden nichts. In Quedlinburg, einem überraschend komplett erhaltenen Fachwerkstädtchen, sahen viele alte Häuser so fragil aus, dass ich dachte, wenn hier einer das Hoftor zu fest zuwirft, wird das Haus darüber zusammenkrachen. Insofern wunderte mich das zusammengerutschte Haus im Film überhaupt nicht.

Der Film wurde während seiner Entstehung bereits zensiert, immer wieder musste Rainer Simon die gedrehten Szenen vorlegen, musste sie ändern oder ganz streichen. Zwar ließ man ihn den Film zu Ende drehen, doch dann wurde er sofort verboten, so viel tristen Realismus wollten die Kulturverantwortlichen nicht sehen. Erst 1988, aufgrund der veränderten politischen Situation, konnten 7 Kopien des Filmes in ausgewählten Kinos gezeigt werden.

Warum?, fragte nach dem Film ein Zuschauer verständnislos. Er habe nichts Kritisches in dem Film entdeckt.

Das Kritische war, die Gesellschaft so zu zeigen, wie sie ist. Denn, wenn die Menschen in “Der geteilte Himmel” noch in positiver Aufbruchsstimmung und voller Hoffnung waren und es damals “auf jeden einzelnen ankam, die neue Gesellschaft zu gestalten”, so sieht man hier, zwanzig Jahre später, wie müde und resigniert die Menschen sind. Sie nehmen lustlos und gelangweilt an offiziellen Veranstaltungen teil. Sogar die Kinder kennen die floskelhaften Reden der Politiker auswendig und machen sich darüber lustig. Der Bürgermeister selbst unterbricht ein Mädchen, das, zumindest der Form nach, eine engagierte kleine Rede halten will. Er winkt ab. Auch er hat alles schon so oft gehört.

Man sieht, wie ärmlich der Alltag ist: Die Menschen stehen Schlange vor Geschäften, sie leben in abgewohnten Häusern, der Bürgermeister etwa über einer lauten Tischlerei, und er muss sein außerhalb der Wohnung gelegenes Waschbecken nebst Toilette über den alten Balkon erreichen. Auch das brandneue HO-Kaufhaus ist kein Erfolg, und dessen unzufriedener Kaufhausleiter beschwert sich darüber, dass man ihn gezwungen hat, das Kaufhaus mit einem Gesamtwarenangebot zu füllen, an dem nichts geändert werden kann. Die Verkäuferin zeigt derweil ihren Kundinnen missmutig Oberteile in der Größe 44, und muss sich dafür beschimpfen lassen, aber sie hat einfach keine andere Größe vorrätig. Das gäbe es doch bei uns (in Frankreich) auch, Engpässe in der Versorgung, meinte ein Zuschauer (klar, ich sage nur Senf). Er versteht nicht, dass schon das Zeigen dieser Unzufriedenheit und der Versorgungsengpässe in der DDR, die ein idealer Staat sein wollte, zu viel an Kritik ist.

Was in der Kleinstadt kurz nach Kriegsende wirklich geschehen ist, erfährt man in Flashbacks, Erinnerungen, nicht nur denen des Bürgermeisters. Dennoch bleibt die Frage nach dem Täter offen. Aber die Aufklärung ist auch nicht das entscheidende Thema des Films; viel wichtiger ist es zu zeigen, dass es in dieser Stadt ein Geheimnis gibt, und dass Vieles aus der Vergangenheit nicht aufgearbeitet wurde. Auch diesen Film müsste ich mindestens ein zweites Mal sehen, um “alles” zu sehen und zu verstehen.

Heute gestern früh dann sahen wir vom selben Regisseur “Die Frau und der Fremde” – auch dieser Film adaptiert nach einer Novelle (“Karl und Anna” von Leonhard Frank). Ein Kriegsgefangener, der aus russischer Haft flieht, nimmt die Identität eines anderen Gefangenen an und sucht dessen Frau auf, von der ihm der andere sehnsuchtsvoll erzählt hat, und dabei selbst intime Details preisgab. Obwohl die junge Frau weiß, dass er nicht ihr Mann ist, lebt sie mit ihm, verliebt sich und wird letzten Endes schwanger. Dann aber kehrt ihr richtiger Mann aus der Kriegsgefangenschaft zurück.

Nach dem Debakel um seinen Film “Jadup und Boel” hatte Rainer Simon sich vorgenommen, nur noch historische Stoffe zu drehen. Der Film spielt während und nach dem Ersten Weltkrieg; Kritik übt Rainer Simon dennoch, nicht nur am Krieg: gleich in der ersten Szene singen glockenhelle Kinderstimmchen ein Loblied auf den tapferen Soldaten und wie schön es ist fürs Vaterland zu sterben, die Kamera schwenkt über auf die Kriegsgefangenen in einer öden Steppe, die einen riesigen Graben ausheben, wobei, völlig absurd, einer ihn aushebt und der andere ihn zuschüttet. Später hält die Kamera lange auf eine von Tauben “beschissene” Hindenburg-Skulptur, und ebenso werden die “Verhältnissen” beklagt, die “Schuld seien”, wenn man kein Zimmer fände und daher zu dritt (wohlgemerkt in einer ménage à trois) in einer Wohnküche leben müsse. Die Wohnungsnot in der DDR ist mitgemeint.

Der Film ist mit wenigen Mitteln gedreht und Simon hatte einerseits den Anspruch realistisch zu sein, andererseits aber wollte er dieses Mal auch Gefühle à la Hollywood erzeugen und dem Zuschauer ein Happy End bescheren. Ist ihm gelungen. Sehr angetan waren wir alle auch vom Spiel der sehr jungen Kathrin Waligura, die Anna verkörpert (die wir später fast nur noch in TV-Produktionen wie “Für alle Fälle Stefanie” zu sehen bekommen), und nett zu sehen, dass die junge Katrin Knappe, die das Mädchen Boel gespielt hat, in diesem Film wieder auftaucht. Mich persönlich rührte, den jungen Ulrich Mühe in einer kleinen Rolle zu entdecken.

Der Film hat die im Durchschnitt älteren ZuschauerInnen sehr bewegt; viele erzählten, teils mit zitternder Stimme, aus ihrer Kindheit, und wie die Mutter im Krieg auf den Vater wartete oder auch nicht. Oder wie gebrochen die Väter aus dem Krieg gekommen waren und wie unglücklich die Mutter (und die Kinder) war(en), die mit diesem so veränderten Mann und Vater weiterleben mussten. Niemand aus dem Publikum verurteilte Karl, der sich die Identität seines Kameraden angeeignet hatte, denn er liebte das Mädchen schließlich wirklich, und schon gar nicht verurteilten sie das junge Mädchen. Alle waren der Ansicht, dass wir alle nach Glück und Liebe streben, das alles sei menschlich, und dass es auch in Friedenszeiten vorkomme, dass man sich in einen anderen Menschen verliebe, obwohl er oder sie verheiratet sei. Für den verlassenen Richard, der uns natürlich trotzdem leid tut, wird auch ein mögliches Happy End angedeutet.

Sie merken, die Filme haben uns nachhaltig berührt. Und nach allen drei Filmen standen immer Menschen zusammen und sprachen und diskutierten. Das DEFA-Festival war wirklich ein kulturelles Highlight. Ein großer Dank gebührt dem Verein Cinécroisette, der sich für den Vorschlag, DEFA-Filme zu zeigen, erneut begeisterte, Dank geht an die Goethe-Institute Lille und Marseille, die uns die Filme zur Verfügung gestellt haben, besonderer Dank an Franka Günther, die “Frontfrau” im Hintergrund, und an Wieland Koch von der DEFA-Stiftung, dass sie uns die Filme aus dem anderen Deutschland, das es nicht mehr gibt, nahegebracht haben. Und nicht zuletzt Dank an das Publikum, dass so zahlreich ins Kino gekommen ist! Dankeeee! Und bis zum nächsten Mal :-)

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4 Responses to Das 2. DEFA-Festival in Cannes

  1. Marion sagt:

    Interessant und danke für euer kulturelles Engagement! Es ist so schade, dass bis heute die ost- und westdeutschen Welten so wenig zueinander gefunden haben. Dabei lohnt es sich doch, die jeweilige “terra incognita” zu entdecken oder zumindest den Versuch zu unternehmen.

  2. Sunni sagt:

    Wie schön, dass diese Filme und ihr Inhalt noch Menschen berühren. Ich habe immer den Eindruck, dass man gerade in Deutschland das alles gern hinter sich lassen möchte und sich auch gar nicht dafür interessiert, warum jemand mit völlig anderer Vergangenheit anders ist. Und die Filme sind handwerklich sehr gut, nicht nur inhaltlich. Es tut gut zu wissen, es geht auch anders. Liebe Grüße und für Ihre ukrainische Familie eine gute Rückkehr und ein hoffentlich glückliches Leben, soweit irgend möglich. Herzlich, Sunni

  3. Reiner Wadel sagt:

    Wenn es interessiert:
    Alle genannte Filme sind heute noch auf DVD erhältlich (Amazon hilft!). “Jadup und Boel” von Rainer Simon allerdings zu einem erstaunlichen Preis!

    Bei der Bundeszentrale für Politische Bildung gab es vor Jahren mal eine Sammlung alter, zeitweilig verbotener DDR-Filme (leider mittlerweile vergriffen) mit 12 Filmen auf 5 DVDs:
    Parallelwelt: Film. Ein Einblick in die DEFA
    https://www.bpb.de/shop/multimedia/dvd-cd/33933/parallelwelt-film/
    Im Handel für 50€!