Die Unentschiedenen

Das wäre ein guter Filmtitel. Die Prognosen sprechen von einer großen Gruppe von “Unentschlossenen”, die sich erst auf den letzten Metern vor dem Wahllokal entscheiden könnten. Ich bin also nicht allein. Wenn ich mir vorstelle, dass Trump wiedergewählt wird, der bereits angekündigt hat, die Unterstützung für die Ukraine zu beenden, möchte ich sofort ein linkes Statement abgeben und Le Nouveau Front Populaire wählen. Wenn ich höre, wie Mélenchon es lustig findet, dass auf den Demonstrationen skandiert wird: “Ein toter Flic ist eine Stimme weniger für den RN”, bin ich wieder weit davon entfernt, eine Partei zu wählen, in der auch Mélenchon mitarbeitet.

Auch der Sommer ist hier im Süden unentschlossen. Vor zwei Tagen endlich mal kein Regen und fast blauer Himmel. Wir sind früh an den Strand gegangen, ich war so lange nicht mehr schwimmen. In den letzten zwei Wochen hat sich dort alles verändert. Die Bademeisterhütte steht und ist geöffnet, coole junge Männer stehen dort herum, grüne Fähnchen, die unbeschwertes Baden ankündigen, flattern im Wind. Viele Sonnenschirme stehen schräg im Sand, der Strand ist schon um 10 Uhr morgens gut besucht. Das Meer ist kühl, aber schmutzig. Die Kläranlage scheint zu schwächeln, wir schwimmen ein paar Runden durch schäumendes Spülwasser. Weiter draußen wird es sauberer.

Gestern war es wieder bedeckt und um die 24 Grad, nicht gerade das, was man sich unter Sommer an der Côte d’Azur vorstellt. Aber egal, wir sind sowieso wieder in die Berge gefahren. Wir müssen ja wählen. Auf halbem Weg zum Bergdorf ist es plötzlich sonnig, blauhimmelig und die Temperaturanzeige im Auto, eben noch bei 24 Grad, zeigt plötzlich 34 Grad an. Das ist er also, der Sommer! Für uns dauert er noch genau einen halben Tag, jetzt, am Samstag, war der Himmel morgens schon wieder gelblich und haben wir schon wieder Saharasandregen und Temperaturen um die 20 Grad.

Heute Morgen fahre ich ins “große” Dorf zum Einkaufen: Ich erstehe, und das ist wörtlich zu nehmen, denn überall stehen die Leute Schlange: Käse und Joghurt bei der Schäferin, Salat, Zucchini, Mangold und Blumen (meine ersten und vermutlich auch letzten Pfingstrosen und Rittersporn in diesem Jahr!) bei einem kleinen Erzeuger, Pfirsiche, Aprikosen und Melonen, Tomaten und Auberginen am Gemüsestand. Brot (eine Fougasse) beim Bäcker, Schinken und Mittagessen beim Metzger, Milch, Butter, Schokoladenkekse beim kleinen Tante-Emma-Laden und Bio-Müsli und getrocknete Aprikosen bei der Kooperative. Überall steht man an und plaudert mit dem Verkäufer oder der Verkäuferin und mit den ebenfalls anstehenden Dorfbewohnern und Sommergästen, außerdem treffe ich beim Schlendern von einem zum anderen Menschen von “früher”, man bleibt stehen, gibt sich Küsschen, erzählt sich, was es Neues gibt. Mit einer Freundin trinke ich noch einen späten Kaffee in einem der Bistros. Aus dem Augenwinkel sehe ich, dass sich eine Demo formiert. Eine Demo im Dorf! Liberté, Égalité, Fraternité steht auf einem Leintuch, es gibt fetzige Musik, ein paar Plakate und die etwa 50 Leute ziehen, begleitet von zwei Gendarmen, die Straße hinunter, durchs Oberdorf zurück und versammeln sich auf dem Platz vor der Schule, sie tanzen, singen und machen gut gelaunt Lärm: Es sind die “Linken” aus dem Tal, ich erkenne ein paar ehemalige Hippies und Aussteiger aus verschiedenen Dörfern, von meinem Hof sind Leute dabei, man winkt und ruft mich dazu, ich winke und umarme hier und da, aber ich gehe nicht mit; und es sind auch ein paar Jüngere und Ältere dabei, die ich nicht kenne. Es sei die erste politische Demonstration in Guillaumes, sagt mir einer der jungen Männer zufrieden und stolz. Später würden sie noch Wahlprogramme des Nouveau Front Populaire in den Dörfern verteilen.

Beim Metzger treffe ich eine Frau aus der alternativen Szene, ich frage sie, warum sie nicht mitdemonstriere – ich muss mir einen langen Vortrag anhören, dass es ja schön sei, für die “Brüderlichkeit” zu demonstrieren, im Alltag spüre sie davon nichts, da denke wieder jeder nur an sich. Sie wählt links, aber mit “diesen Leuten” würde sie nicht mehr demonstrieren. “Diese Leute” – ich habe mich in diesem sehr linken und alternativen Milieu auch nie so richtig zu Hause gefühlt, aber die Leute vom Hof sind irgendwie doch auch meine Familie, selbst wenn es den Hof so nicht mehr gibt, Leute gestorben sind, andere weggezogen, Paare sich getrennt haben und die Kinder, die zu meiner Zeit zwei und drei Jahre alt waren, erwachsen sind und in Paris studieren, in Marseille oder in der weiten Welt.

Eines der kleinen Mädchen vom Hof, mit dem ich damals “Engelchen flieg” gespielt habe, ist jetzt Anfang 20, ich folge ihr auf Instagram, sie ist so radikal geworden, ich kann es kaum glauben, mir gefällt nicht immer, was sie schreibt, manchmal schockiert es mich auch. Sie hat aber immerhin eine politische Haltung. Die angeheirateten Enkel sind viel unpolitischer, aber auch sie werden wählen gehen. Was wissen sie von der Welt? Die Ukraine berührt sie nicht, viel zu weit weg, obwohl wir die kleine Familie hier aufgenommen haben. Israel interessiert sie nicht, viel zu kompliziert, jüdische Freunde und Freundinnen scheint es nicht zu geben, arabischstämmige auch nicht, das gute katholische Gymnasium, das sie auf das Leben vorbereitet hat, ein weltfremder Ort.

Ich fahre wieder hoch in “mein Dorf”, ich bereite das Mittagessen zu; ich bin immer so tief zufrieden, wenn ich frische Lebensmittel direkt vom Erzeuger gekauft habe, ich koche dann lieber und esse es auch lieber. Und ich bin so verliebt im meine Blumen. Tatsächlich ein Glücksmoment.

Der wird nur kurz getrübt, weil Monsieur während meiner Abwesenheit zwei alte Radios repariert hat und jetzt verkratzt und verrauscht und etwas zu laut Radio hört.

Nachmittags habe ich mir immerhin die Kandidaten meines Wahlkreises in einer Fernsehsendung angesehen, also vier von sieben durften sich vorstellen und auf Fragen antworten. Später besuchen wir Freunde und diskutieren über Unerfreuliches, das sich im Dorf ereignet hat und natürlich auch Politik. Am Abend auf dem Dorfplatz tranken wir einen Apéro, das Dorf ist voll wie selten, die Wahl morgen ist wichtig, alle sind gekommen. Wir diskutieren vor allem Politik. Um 21 Uhr gab es ein Gitarrenkonzert in der kleinen Kirche, die ebenfalls voll ist. Félix Lalanne, ein Gitarrist und Komponist aus Nizza hat ein leichtes aber angenehmes Konzert konzipiert, spielt uns Filmmusiken vor, lässt uns Filmmusiken raten und erzählt kleine Anekdoten aus der Musikwelt. Es ist ein schöner Abend. Ich weiß immer noch nicht, was ich wählen werde.

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2 Responses to Die Unentschiedenen

  1. Marion sagt:

    Wie auch immer sie ausfällt, ich hoffe, es ist heute eine vertretbare Entscheidung für dich. USA: Es ist schon tragisch, dass weder die Republikaner noch die Demokraten geeigneten PräsidentschaftskandidatInnen-Nachwuchs finden. “Fachkräftemangel” auch in der Politik, überall. Auch hier spielt das Wetter immer wieder verrückt, auch gestern beim Fußballspiel Deutschland-Dänemark, das aufgrund von Blitz, Donner und Hagel sogar unterbrochen werden musste. War übrigens auch immer noch nicht schwimmen, ist irgendwie unplanbar gerade.

  2. Pingback: 24-07-02 Vier Schattierung der Schwüle – iberty.de

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