Die Schafe sind da! Als wir gestern auf dem Weg ins nächstgrößere Dorf waren, haben wir sie schon gesehen. Sie machten nach dem frühmorgendlichen Aufstieg vom Fluss Var (auf etwa 800 Metern), wo sie ein paar Tage gegrast hatten, eine Pause auf dem Plateau, wo der Lavendel wächst (auf etwa 1200 Metern).
Am Nachmittag ging es dann weiter bis auf 1700 Meter ins Oberdorf. Dort werden sie auch ein paar Tage die Wiesen abgrasen, bevor sie noch weiter nach oben „transhumieren”. Was bedeutet nochmal Transhumance?
Transhumanz oder Wanderweidewirtschaft ist (nach der deutschen und romanischen Literatur) eine vorwiegend für den Markt produzierende Form extensiver Fernweidewirtschaft unter der Obhut von halbsesshaften oder halbnomadischen Hirten mit einem klimabedingten saisonalen Wechsel der in verschiedenen Klimazonen oder Höhenstufen liegenden Weidegebiete, weil diese jeweils nur während einer Jahreszeit ausreichend Futter bieten.
Auf dem Rückweg halten wir kurz an, begrüßen die Schäfer, die sich ebenso ausruhten, plaudern ein bisschen über das Metier, das nicht mehr das ist, was es mal war, seufzt der Senior, nicht nur der Wolf, auch die französische Verwaltung und die neuseeländische Konkurrenz machen ihnen das Leben schwer. Die Herde ist klein dieses Jahr. Ob ich mal “Touristin” spielen dürfe, frage ich, und zeige auf mein Smartphone. “Klar”, stimmt der Senior zu, “nehmen sie sie auf, wer weiß wie lange es uns und die Schafe noch gibt.”
Ich mache trotzdem nur ein paar Fotos der Herde, von dort, wo ich stehe und nähere mich nicht, ich will die Wachhunde und die kleinen Hütehunde, die die Herde umkreisen, nicht beunruhigen. Zwei der Schäfer nehmen den Schafen während der Ruhepause das Geläut ab.
Nachmittags wollen wir ins Oberdorf fahren, wird es Probleme geben, wenn wir später wieder runter fahren und der Schafherde begegnen? Eigentlich wissen wir es, wir haben schon oft genug Schafherden getroffen, wir fragen aber trotzdem. Nein, der Schäfer schüttelt dann auch den Kopf. Wir müssten im Zweifelsfall kurz stehenbleiben, würden einen Moment von Schafen überflutet, aber dann ziehen die Schafe weiter hinauf und wir können ohne Probleme weiter nach unten fahren.
So wird es dann auch. Wir treffen die Schafe allerdings schon ziemlich weit unten, wo es Ausweichstellen gibt, so dass sie einfach an unserem Auto vorbeitraben, blöken, bimmeln und brummeln.
Es ist wirklich nur eine kleine Herde, in weniger als fünf Minuten sind sie an uns vorbei und bereits den Feldweg hinaufgetrottet.
Ich veröffentliche hier noch einmal ein Filmchen, das ich schon vor ein paar Jahren gemacht habe, das die Schafe beim Aufstieg zum Plateau zeigt und wo man das Blöken der Schafe, das Glockengeläut und die Rufe der Schäfer hören kann. Das muss man sich bei den Fotos immer dazudenken.
Einmal bin ich einen Teil des Weges bei einer Transhumance mitgelaufen, das war im Juni 2009. Ich habe damals nicht davon berichtet, aber das Erlebte ist später in einen Kriminalroman miteingeflossen.
(c) Jean-Pierre Champoussin
Damals habe ich versucht, ein kleines Lamm, das von seiner Mutter nicht angenommen wurde, und am Straßenrand zurückblieb, zu retten, in dem ich es zur alten Schäferin Maria gebracht habe. Darüber habe ich hier schon einmal geschrieben. Es ist ein, wie ich finde, sehr berührender Text, den ich zum Tod der beiden Schäferinnen, Maria und ihrer Tochter Rosette, verfasst habe.
(c) Geneviève Sozzani
Sie merken schon, es wird ein erinnerungslastiger Sommer!
Man beachte den passenden Nagellack. Die Farbe heißt so frenchie : “Bardot”.
Ich sah sie und war schockverliebt. Die musste ich haben! Nichts Besonderes eigentlich, ein schlichtes Gebrauchsobjekt aus dem Beginn des letzten Jahrhunderts. Es gibt aufwändigere Formen und Verzierungen und doch bin ich dieser schnörkellosen Soupière mit diesem nostalgischen rosa-grauen Rosenmuster erlegen. Ja, richtig, wir reden von einer Suppenschüssel. Stolz und gerührt verließ ich den Trödelladen, Brocante, wie sie hier heißen, mit einem großen Paket unter dem Arm.
War ich eigentlich verrückt geworden? Was sollte ich mit einer Suppenschüssel und vier Tellern, wovon außerdem einer einen Sprung hatte?! Ich war mit dem Rucksack unterwegs! Für ein Jahr! Und bei meinem allerersten Besuch in einem Trödelladen kaufe ich eine Suppenschüssel! Ich esse nicht einmal gern Suppe! Abends zeigte ich meinen Schatz auf dem Hof. „Ich habe keine Ahnung, wie ich das je im Rucksack nach Hause kriegen soll“, sagte ich zu Anne, „aber ich musste das kaufen!“ Anne lächelte. „Es ist vielleicht ein Zeichen, dass du hierbleiben wirst.“ „Ach was“, wehrte ich ab und stellte die Suppenschüssel auf das Regal neben meinem Bett.
Eine Auszeit in Frankreich wollte ich machen und auf einem Bauernhof in den Alpen Südfrankreichs war ich gelandet. Mein Herz hatte sich dafür entschieden, obwohl ich nicht einmal ein Foto vom Hof gesehen hatte. Dann aber war es ein Schock, denn so einen kleinen und, in meinen großstädtischen und designverwöhnten Augen, ärmlichen und schlampigen Hof, so abgelegen, so alternativ und im besten Sinne an ein Freilichtmuseum erinnernd, hatte ich mir nicht vorgestellt. Dabei war es genau dieses ländliche Frankreich, wie ich es aus Filmen kannte und liebte, das mich so angezogen hat. Und nun war ich mittendrin. Wir saßen zahlreich am schweren Holztisch, alle sprachen durcheinander, es wurde gelacht, getrunken und gegessen. Viel gegessen! Die Hühner gackerten im Hof, die Enten und Gänse spazierten frei über die Wiese, es gab Hunde und Katzen, Kühe und Kälbchen und ein fettes Schwein. Und trotzdem. Wie fremd alles war. Fremde Sprache, fremdes Miteinander, fremde Gerüche, fremder Geschmack. Ich war angezogen und abgestoßen gleichzeitig, staunte, sah und hörte zu und versuchte mich einzufinden. Ich verstand so wenig und ich konnte noch viel weniger sagen. Stellte man mir eine Frage, stotterte ich hilflos herum. Ein paar Tage bleibe ich, dachte ich anfangs, nur bis ich weiß, wo ich stattdessen hingehen könnte. In der Zwischenzeit kletterte ich auf Bäume, um Kirschen zu pflücken, erntete ich im Garten Bohnen und Erbsen und Zucchini. Ich riss auf dem Feld wucherndes Unkraut heraus und ich half im Stall beim Melken und in der Fromagerie beim Käsemachen mit. Ich spielte mit kleinen Mädchen Fangen und Verstecken und putzte ihnen die Nase. Die Zeit verging, es wurde Herbst und ich war immer noch da. Ihre warmherzige Art, mit der sie mich selbstverständlich aufgenommen hatten, ohne mich zu kennen, war so wohltuend, dass ich mich trotz aller Fremdheit geborgen fühlte. Und ich genoss die Sonne und die Wärme des Südens. Noch im November aßen wir draußen auf der Veranda und die Sonne schien mir warm auf den Rücken. Ich konnte mir gar nicht vorstellen, dass es kalt werden würde. Wir waren doch in Südfrankreich! Aber dann wurde es Winter und es begann zu schneien. Das Leben wurde richtig anstrengend: Schnee schippen, Holz holen und Feuer machen, und trotzdem jeden Tag hinausgehen, die Tiere füttern, die Kühe melken und den Käse machen. In den langen Nächten habe ich so gefroren, wie noch nie in meinem Leben. Ich, die Deutsche, die aus dem Norden kam, fror im Winter in Südfrankreich. Sie lachten verständnislos. Als ich dachte, jetzt kann ich nicht mehr, kam das Frühjahr. Noch nie war ich so nah dran gewesen am Wetter, an der Natur und an ihren täglichen Veränderungen. Ich sah, wie das Grün explodierte, die Krokusse und die ersten Schlüsselblümchen auf den Wiesen wuchsen, lauschte dem Vogelzwitschern und dem Kuckuck, der ununterbrochen rief. Wie übermütig die Kühe auf der Weide sprangen, als sie erstmals wieder hinaus durften! Und auch mein Herz pochte stark. Ich hatte mich verliebt. In diese Menschen, in die Natur, in die Berge und den Himmel, in all das Fremde, das ich zu verstehen begann. Plötzlich war das Jahr um und ich wollte nicht mehr weg. Also blieb ich. Gegen alle Vernunft, gegen Sinn und Verstand. Seit vielen Jahren lebe ich nun in Südfrankreich. Und die Suppenschüssel habe ich immer noch.
Dies war der erste Text, den ich vor fünf Jahren für das Frankreich-Magazin geschrieben habe. Die Zeit fliegt, denn heute sind es auf den Tag genau zwanzig Jahre, dass ich nach Frankreich aufgebrochen bin – zwanzig Jahre Suppenschüssel sozusagen. Ein knappes Drittel meines Lebens habe ich in Frankreich verbracht. In der Zwischenzeit habe ich noch eine Waschschüssel und einen Krug im vermeintlich selben Muster erstanden. Ich habe mich aber getäuscht, die Waschschüssel hat ein (und wie ich finde noch schöneres) Nelkenmuster, die Suppenschüssel wie gesagt ein Rosenmuster. Ich habe sie zwar nie als Suppenschüssel benutzt, aber sie ist seit zwanzig Jahren Deko neben meiner (auf mehrere Orte verteilten) Bettflaschensammlung, von der man auf dem Foto auch etwas sieht.
Zwanzig Jahre sind vergangen. Und wir sind in den Bergen. So wie es sich gehört. Seit letztem Sonntagabend, als wir vor der Hitze an der Côte d’Azur hierher geflohen sind. Sie erleben das dieses Jahr auch. Ich muss Ihnen nicht erzählen, wie es ist, wenn es 31 Grad in der Wohnung und gefühlte 39 Grad draußen sind. Und dass es so gut wie keinen Luftaustausch gibt und die Nächte nicht kühl werden. Jetzt stellen Sie sich einfach vor, dass es für die nächsten zwei Monate so bleibt, dann wissen Sie, wie der Sommer hier ist. Ich schlief schlecht, wir stritten darüber, ob der Ventilator nachts anbleiben darf, und ich setzte schließlich durch, dass er so aufgestellt wird, dass ich ein bisschen, Monsieur aber eher wenig Wind abbekommt. Besonders hilfreich war es nicht, zu laut ist er außerdem. Ich schlief weiterhin schlecht, bekam Bläschen an Händen und Füßen und vor allem bekam ich, stets unausgeschlafen und schwitzend, schlechte Laune.
Am vergangenen Sonntagmorgen lungerte eine große Gruppe sehr junger Möwen elternlos am Strand herum. Ich hatte bedauerlicherweise, saisonbedingt, Sie erinnern sich, einmal beklaut, nie wieder, kein Handy dabei, um sie aufzunehmen. Sie flogen kleine und eher tiefe Runden und bewegten dabei schon die Flügel. Zuvor hatten sie eher auf die richtige Thermik gewartet, um abzuheben, so schien es mir zumindest, und glitten ohne einen Flügelschlag durch die Lüfte. Die großen Bojen im Meer sind alle heftig zugeschissen. Sie sind die rettenden Stopps, wenn die jungen Dinger sich bei ihrem Ausflug übers Meer mit ihren Kräften ein bisschen verschätzt haben.
Archivbild (keine jungen Möwen)
An diesem ganz frühen Sonntagmorgen schwamm ich noch eine Boje weiter und wurde dann zur Belohnung von einer Qualle am Knie geküsst. Herrje! Das gab mir den Rest. Es war noch nicht einmal Juli, und wir hatten Temperaturen wie im August. Der Körper war ständig feucht, es war nicht auszuhalten! Selbst das Meer war schon lauwarm, und die ersten Quallen sind da. Der Sommerumzug in die Berge ist logistisch immer eine Herausforderung, die ich gerne vor mir herschiebe, aber jetzt war ich bereit, auch wenn ich alles im Schneckentempo erledigte.
Wir fuhren durch das abendliche, immer noch 36 Grad warme und sonntäglich leere Hinterland. Ich starrte auf das Thermometer, das selbst in 800 Metern Höhe noch über 30 Grad anzeigte. Hier oben waren es dann 28 Grad. Ich zog die Flanell-Winterbettwäsche ab, stopfte das Deckbett in den Schrank und wir schliefen hier oben erstmals nur unter einem Leintuch. Nachts wurde es etwas kühler, doch am nächsten Morgen waren die Sonnenstrahlen bereits gegen 7 Uhr ziemlich anstrengend. Es blieb aber unter dreißig Grad, die Luft ist außerdem trocken hier oben, man kann atmen und die Bläschen an Händen und Füßen trocknen aus. (Das Quallengift kommt jedoch an anderen Körperstellen zum Vorschein. Ich habe überall juckende Quaddeln, die genauso aussehen und sich genauso anfühlen wie der Quallenstich. Das Projekt „Ganzkörperbedeckung im Meer” wird jetzt durchgezogen, sonst bekomme ich, befürchte ich zumindest, irgendwann einen anaphylaktischen Schock.)
Wie sehr habe ich vor zwanzig Jahren die Sonne gesucht und mich in ihrer Wärme gebadet! Jetzt schleiche ich, wie eine Katze, an den Hauswänden entlang durch den Schatten. Nachmittags verdichteten sich die Wolken, Wind kam auf, die Wolken wurden schwarz und schon kam ein Gewitter mit Regen, sodass es abkühlte! Hurra!
So ist es jetzt jeden Tag, seit wir hier oben sind: Mal kommt es früher, mal später, mal mit mehr Blitzen und Donner, mal weniger – aber immer mit Regen, einem kleinen Stromausfall und einer Internetpause.
So war es vor zwanzig Jahren auch schon. Wie sehr haben mich diese Sommergewitter, die regelmäßig mit kürzeren oder längeren Stromausfällen verbunden waren, verwundert! Vor allem, dass man das so hinnahm. Man kochte Tee, erzählte, sah dem platschenden Regen zu und wartete, bis er wieder aufhörte. Am nächsten Morgen schien zu meiner großen Erleichterung die Sonne erneut und ließ sich das Unkraut so viel leichter aus dem Boden harken, also arbeiteten wir etwas effizienter und schneller. Und wenn es nachmittags wieder regnete und der Strom ausfiel, dann war das eben so.
Und so ist es zwanzig Jahre später immer noch. Selten bekomme ich eine große wilde Möhre so komplett aus dem Boden gezogen! Allerdings wächst dank des Regens auch alles genauso schnell wieder nach. Heute habe ich schon die zweite Generation Gräser in diesem Sommer ausgerissen.
Die Handschuhe ändern sich, das (Un-)kraut bleibt gleich: Wilde Möhre
Was die jungen Frauen auf dem Hof damals en boucle, also ununterbrochen hörten, und was manchmal sogar die Mittagsruhe au dem abgelegenen Hof störte, weil eine von ihnen es laut aufdrehen und mitsingen musste, war das damals neu erschienene zweite Album der Sängerin Camille, Le fil; sie und ihr Album wurden damals genauso gefeiert wie heute Zaho de Sagazan. Ich verstand damals nur wenig von den poetischen Texten, aber die Musik rauschte durch meinen Körper und elektrisierte mich. Vor allem Ta douleur –
Lève toi c’est décidé Laisse-moi te remplacer Je vais prendre ta douleur
Doucement sans faire de bruit Comme on réveille la pluie Je vais prendre ta douleur
…
Si tu as mal là où t’as peur Tu n’as pas mal là où je chante!
Camille “Ta douleur”
Die Jungs hörten ebenso in Dauerschleife L’agriculteur von Ridan. Auch das sprach mich an.
Et puis merde! J’ai décidé de vivre loin sur la colline Vivre seul dans une maison avec la vue sur ma raison J’préfère vivre pauvre avec mon âme, que vivre riche avec la leur Et si le blé m’file du bonheur, j’me ferais p’têt’ agriculteur
Ridan l’Agriculteur
Landwirtin bin ich ja nun nicht geworden, aber immer noch habe ich diese große Liebe für mein französisches Dorf und das einfache und langsame Leben dort. Mit meinem vue sur la colline lasse ich Sie heute, höre en boucle Camille und Ridan und gebe mich meinen Erinnerungen hin
Die Möwen fliegen und kreischen immer noch höchst erregt durch den südlichen Himmel, um ihr Territorium und die Flugversuche ihrer Jungen zu verteidigen. Heute Morgen gegen halb acht war ich im Meer schwimmen und wunderte mich über die anhaltende Aufregung der relativ tief fliegenden Möwen ein Stück weiter rechts. Ich dachte, es sei vielleicht ein Fischschwarm dort und die verschiedenen Eltern stritten sich um die Fische für ihre noch ungeschickt danach tauchenden Kinder. Was man als Möwe eben so lernen muss – ich konnte es aus der Entfernung nicht erkennen. Auf dem Rückweg zum Strand attackierten die wütenden Möwen plötzlich direkt über mir einen komisch aussehenden Vogel, der ihnen gerade noch so entkam: eine Drohne! Man sollte sich nicht mit Möweneltern anlegen, sie sind nicht zum Scherzen aufgelegt! Ich weiß nicht, ob es dieses Jahr mehr Möwen gibt, aber das scheinbar endlose Möwengeschrei (bis spät abends) ist mir bislang noch nie so aufgefallen.
Nach Abgabe eines Textes habe ich mich gestern mit zwei Stunden klimatisiertem Kino belohnt und mir den gerade angelaufenen Film „Avignon” angesehen. Eine romantische Komödie, die im Theatermilieu des jährlichen Festivals in Avignon spielt. Es ist der erste Spielfilm von Johann Dionnet, der im Film selbst mitspielt. Der Film handelt von der Diskrepanz zwischen Boulevardtheater und klassischem Theater und von einem jungen Schauspieler, der in Avignon im Off-Programm ersteres spielt, in einem Stück mit dem Titel „Ma soeur s’incruste” (zu Deutsch etwa: „Meine Schwester zieht bei mir ein und bleibt”). Er gaukelt jedoch einer jungen, aufstrebenden klassischen Schauspielerin, in die er verliebt ist, vor, er spiele die Hauptrolle in dem klassischen Theaterstück schlechthin: „Le Cid” von Corneille, das in Avignon im renommierten In-Programm gespielt wird. Die Geschichte wird konventionell erzählt, ist aber kurzweilig, pfiffig und amüsant. Nebenbei wird die Realität der Schauspieler (und des Regisseurs) erzählt, die sich im Leben mit kleinen Rollen und anderen Jobs durchschlagen, finanzielle Probleme haben, und beim Theaterfestival in Avignon neben dem Proben und Spielen auch noch Plakate aufhängen, Handzettel verteilen und eine „Parade” machen müssen, um Zuschauer in den Saal zu locken.
Man glaubt es kaum, aber ich habe 2006 in Avignon in einem Boulevardtheaterstück mitgespielt. Wir waren nur eine Woche lang dort, mehr konnten wir uns weder zeitlich noch finanziell leisten. Man muss den Saal, die Unterkunft, die Anreise mit dem Auto, das Benzin und die Verpflegung vor Ort zahlen. Wir haben vorher mit Theaterspektakeln, die wir im Tal gegeben haben, Geld „gesammelt”, um uns Avignon leisten zu können. Wir, das war eine kleine Theatergruppe namens „L’illustre Troupeau”, eine Anspielung auf das „L’illustre Théâtre”, eine berühmte Theatergruppe um Molière, und eine Anspielung auf unsere landwirtschaftliche Herkunft – „troupeau” meint Herde, insbesondere Schafherde. Für die Parade hatten wir uns als Schafherde verkleidet. Es war sicherlich das erste Mal, dass in Avignon eine Gruppe mit „Bäh, bäh”-Rufen durch die Stadt zog. Ich habe hier schon einmal darüber geschrieben, als ich 2011, dieses Mal als Zuschauerin, ein paar Tage in Avignon verbracht habe. Damals wurden die Bilder noch ganz klein im Text angezeigt. Man muss sie anklicken, um sie richtig sehen zu können. (Erkennen Sie mich?) Unser selbst geschriebenes Theaterstück drehte sich um den Abbau der letzten Telefonzelle in einem Bergdorf (das war damals aktuell!), um vergessene Träume und den Verlust von Kommunikation.
Während ich „Avignon” sehe, tauche ich ein in das Avignon-Ambiente im heißesten Hochsommer, in die Schwierigkeiten der Boulevardtheatergruppe. Ich sehe den alten klapprigen Bus – so einen hatten wir auch – und muss lachen, wenn der Tontechniker im Film seinen Einsatz verpasst, so wie unser Tontechniker auch immer mal wieder seine Einsätze verpasst hat. Melancholisch denke ich an unsere Theatergruppe zurück, die sich, anders als die Film-Gruppe, die ihr Stück später in Paris weiterspielt, in Avignon vollkommen zerstritten hat.
Ein sehr netter Sommerfilm, den ich mir glatt noch einmal ansehen würde, so gut hat er mir gefallen, irgendwie möchte man die Personen im Film gar nicht verlassen (und zwei Stunden im klimatisierten Kino tun ihr Übriges).
Bei diesen bereits hochsommerlichen Temperaturen Mitte Juni gibt es immerhin eine nette Sache: Die Wäsche, sogar die großen Bettwäsche-Stücke – erinnern Sie sich? Die 2,20 Meter mal 2,40 Meter großen Deckbettbezüge, die man hier hat –, sie verdrehen sich in der Waschmaschine immer zu einem vollgestopften Klumpen, in dem sich alles sammelt. Man kann das Monster kaum aus der Waschmaschine ziehen. Diese Wäschemonster sind in der Regel mein Wäschealptraum: Sie sind nass und schwer, schwer aufzuhängen und sie trocknen schlecht. Jetzt sind sie in Rekordzeit trocken. Wir haben das Deckbett gerade erst gegen die leichtere Leintuch-Decken-Variante ausgetauscht. Ich kam noch nicht mal zum Waschen, da ist auch die leichtere Variante bereits zu warm und wir strampeln nachts die Decke weg. Der Sommer kam über Nacht. Und sofort ist alles zu heiß, zu schwül, zu anstrengend. Ich wedele mir zwar in dieser Saison erstmals mit einem Fächer lauwarme Luft zu, aber mit dem Ding in der Hand kann man nicht arbeiten. Heute Morgen habe ich deshalb den Ventilator aus dem Keller geholt und reaktiviert.
Ich wusch gestern drei (und heute bereits eine) Maschinen Wäsche, kriege alles in Nullkommanichts trocken und werde heute Abend, trotz Hitze und mit Unterstützung des Ventilators, die Sommerhemden des Gatten bügeln. Dazu schaue ich übrigens die Netflix-Serie „Pernilla”, die im norwegischen Original „Pörni” heißt, mit durchgestrichenem o. Die kennen Sie vermutlich alle schon, ich bin immer etwas spät dran. Es ist eine norwegische Dramedy, in der man einer vierzigjährigen alleinerziehenden Mutter und Sozialarbeiterin im Alltag zuschaut. Es gibt Trauer um die in einem Unfall getötete Schwester, einen Neffen, der zum Pflegesohn wird, einen Vater, der sich im hohen Alter als homosexuell outet, zwei sehr unterschiedliche Teenagertöchter, einen abwesenden, von ihnen verehrten, aber an ihnen uninteressierten Kindsvater und eine nicht so richtig funktionierende Liebesgeschichte mit einem deutlich jüngeren Mann. Das könnte trist und elend sein, ist es aber nicht (die kurzen Szenen, die Pernillas Arbeitsalltag mit vernachlässigten Kindern zeigen, sind allerdings herzzerreißend). Die erste Staffel habe ich fast in einem Rutsch durchgeschaut!
Wenn man derzeit durch Cannes Straßen läuft, hört man stets ein leises monotones Fiepen, in der Regel kommt es von oben. Hebt man den Blick, sieht man auf den Dächern plusterige graue Jungmöwen, die sich seelisch und körperlich auf ihren ersten Flug vorbereiten, aufgeregt unterstützt von den Eltern, die es, nicht weit entfernt, von einem anderen Dach etwa, ermuntern, loszufliegen. Leider kreischen sie ihre ängstliche Möwenbrut ziemlich laut an, das würde mich auch eher einschüchtern. Gleichzeitig werfen sie sich ebenso laut kreischend tieffliegend durch die Lüfte, um uns Menschen für alle Fälle gleichmal in Schach zu halten. “Hee! Achtung! Unser Kind wird gleich losfliegen, weg da! Wehe ihr rührt unser Kind an!” “Los jetzt flieg schon!”, kreischen sie dann wieder nach oben zu ihrem unentschlossenen Kind. “Wir können nicht ewig warten! Wir halten den Weg frei, aber du musst jetzt mal losfliegen! Los jetzt! Komm schon!” Irgendwann haben die Möwenkinder genug gefiept, die Eltern genug geschimpft und ermuntert. Dann heben die grauen, rundlichen Möwenbabys endlich ab. Noch ziemlich ungelenk fliegen sie mit ausgebreiteten Flügeln schnurstracks geradeaus. Man ahnt ihren panischen Blick und möchte nicht in ihrem Weg stehen. Sie können noch nicht manövrieren. Es würde unweigerlich zu einer Kollision kommen. Wahrscheinlich würde man gleichzeitig von den aufgeregten Eltern attackiert werden. Es ist viel los in den Lüften von Cannes und es ist ziemlich laut! Im Wikipediaartikel habe ich hübsche Hörbeispiele gefunden, und ich lerne außerdem, dass wir es erstens mit der Silbermöwe zu tun haben, zweitens, dass die grauen Möwenbabies vier Jahre brauchen, bis sie erwachsen sind, und dass das, was ich als lautes Kreischen bezeichne, eigentlich ein “Jauchzen” ist und Territorialabgrenzungen dient.
Das Jauchzen der Silbermöwe (Hörbeispiel[7]) kann mit aau aau au kjiiiau kjau kjau beschrieben werden. Es wird meist von einigen tief bellenden Lauten eingeleitet, denen ein sehr erregter, hoher Laut und dann eine in Intensität und Tonhöhe absteigende Rufreihe folgt.[1] Das einleitende Bellen, das auch mit hau oder bau beschrieben werden kann, ist auch separat als Aufforderung zum Abfliegen zu vernehmen. Im Flug wird es mit den Flügelbewegungen synchronisiert und ist dann ein zweisilbiges aa-o.[8]
Strandbaustelle mit Möwe
Und das Meer. Noch ist es kühl und erfrischend, und vorausgesetzt man ist früh da, am besten noch vor den Wasserski-Motorbooten, dann ist das Schwimmen eine echte Freude, es fühlt sich so viel entspannter und freier an, im Meer zu schwimmen als im Schwimmbad, wo ich zwar gestern Abend auch war, der Vorteil hier, ganz klar: keine Quallen, aber bisher habe ich im Meer noch keine gesehen; früh um Acht am Meer ist es wundervoll, alle sprechen noch leise und man sagt sich mit freundlichem Insider-Lächeln beim Schwimmen “guten Morgen” und “Ist es nicht ganz wunderbar?”.
Morgens am Meer mit Kormoran
Um zehn Uhr ist die erste Reihe bereits voll und ich halte es nicht mehr in der Sonne aus. Außerdem ist es jetzt laut. Ganz Cannes ist in dieser Saison (mal wieder) eine Baustelle. Der Markt ist nach wie vor wie ein Kunstwerk von Christo eingepackt und auch hier am Strand sind die Bauarbeiten für die nach zehn Jahren neu zu errichtenden Restaurants noch nicht abgeschlossen. Nur eines von zwei Restaurants ist rechtzeitig zum Saisonauftakt fertig geworden. Das relativ neue Loi littoral sieht vor, dass man am Strand nur noch in abbaubarer Leichtbauweise Restaurants errichten kann. In der Realität sind das ziemlich hässliche Container-Konstruktionen, die immerhin mit Holz verkleidet sind. Nach zehn Jahren muss man sie abreißen und wieder neu bauen.
Vielleicht werden die Konzessionen auch alle zehn Jahre erneuert, das entzieht sich meiner Kenntnis. Es ist auf jeden Fall eine gewaltige Investition für die Restaurateure, was erklärt, warum das Essen dort auch ziemlich teuer ist. Nach zehn Jahren alles neu zu machen (einschließlich der Fundamente), ist aber nicht verkehrt, in der letzten Saison war hier und da alles schon ziemlich schmuddelig, angerostet und windschief. Wind, Salz und Wellen sind eine Herausforderung für jedes Bauwerk am Meer. Dieses Jahr wird also bald alles nagelneu sein, einschließlich des Mobiliars und der Sonnenschirme, auf der Seite Richtung Mandelieu zumindest.
Alles neu macht der Junialles neu mit Sandsiebwalze
So viel für heute von hier, ab morgen erneut ein kleiner Deutschland-Aufenthalt, dann fliehen wir vermutlich vor der Hitze in die Berge – à bientôt!
Egal, ob wir vier oder vierzehn Tage in die Berge fahren, die Logistik ist immer dieselbe. Man schleppt immer Essen für mehrere Tage und eventuelle Gäste mit und Monsieur schleppt immer Werkzeug von A nach B und später wieder zurück. Dieses Mal kommen auch kleine, noch aufzubauende Küchenmöbel mit. Gewaschene Bettwäsche und Kleidung werden hochgefahren, ebenso die Bücher, die ich eigentlich lesen will, es dann aber nicht tue, weil ich stattdessen Unkraut jäte, Holz stapele, Möbel aufbaue, koche und mit den Nachbarn plaudere.
Immerhin wurde der mitgebrachte Laptop genutzt, um das Tennis-Finale der French Open zu sehen. Fünf Stunden lang prügelten Jannik Sinner und Carlos Alcaraz auf die kleinen gelben Bälle ein. Wahnsinn! Übrigens war dieses Mal ganz Frankreich aus dem Häuschen wegen Lois Boisson, dieser jungen Französin, die aus dem Nichts aufgetaucht ist und sich bis ins Halbfinale durchgekämpft hat. Haben Sie sie gesehen?
Und jetzt gibt es noch ein paar Bilder vom Juni. Es ist wunderschön im Juni in den Bergen. Alles ist grün und wächst. Kräuter, Gräser und Blumen sprießen überall.
Leinen-Blüten
Natürlich wächst es auch wieder auf der gekiesten Zufahrt. Aus Sicht der Natur ist es ein absolut sinnloses Unterfangen, inmitten von Wiesen ein Stück Land haben zu wollen, auf dem jetzt bitte möglichst nichts mehr wachsen soll. Während ich hier gerade Gräser herausreiße, weht der Wind schon wieder Grassamen von der Wiese nebenan, wo mir die Gräser bis zur Hüfte reichen, über den Kies. Eine Never-ending-Story.
Wilde Möhre (an der arbeite ich mich ab!)
Heute haben wir einen Ausflug in ein benachbartes Dorf gemacht, in dem ich bislang nur einmal mit Patrick, meinem ersten Mann, war. Das ist fast zwanzig Jahre her. Sie sehen, man kommt nicht so richtig herum, wenn man ein eigenes Berghaus hat, bei dem es immer etwas zu tun gibt. Ich hatte vergessen, dass die Straße dorthin so lang, so eng und so kurvig ist.
Am Wegesrand: Gedenken an Jean Vercelli, 20 Jahre alt, von den Deutschen im Juli 1944 erschossenBlick auf die Serpentinenstraße
Glücklicherweise kam uns niemand entgegen. In der Auberge, die leider keine Internetseite hat, gibt es nur ein Menü, das in den Grundzügen immer gleich ist. Aber es ist perfekt: Als Entrée gibt es selbst gemachte, mit Kürbis gefüllte Ravioli in einer Walnusssauce, danach Lammkeule und Zucchinigratin, grünen Salat und eine Auswahl von regionalem Käse. Zum Dessert gibt es selbst gemachte Apfeltarte oder Crème Caramel, Kaffee und wer mag, bekommt noch selbst gemachten Génépi zum Verdauen. Die Portionen sind üppig und danach rollt man zu einem kleinen Verdauungsspaziergang durch das winzige, absolut ruhige Dorf. Die Straße endet hier, es gibt also keinen Durchgangsverkehr.
Das Schild zeigt es richtig an: Der Wanderweg ist in der Tatder Wiesenpfad da rechts untenLinks Wanderweg nach Châteauneuf, geradeaus ist der Weg verboten, weil irgendwo Gelände abzurutschen drohtBlick auf Châteauneuf d’Entraunes
Dann fahren wir müde wieder nach Hause, machen eine lange Sieste. Später kommt eine Nachbarin vorbei und wir besprechen die Sommeraktivitäten des Dorfes (wir werden, wenn dieses Jahr alles gut geht, wieder einen Lotto-Nachmittag organisieren). Und heute Abend sind wir immer noch so satt von mittags, ich musste ausnahmsweise nichts mehr kochen! Hurrah!
So, da sind wir wieder. Der Stromausfall in Cannes und Umgebung hat es ja wohl sogar bis in die deutschen Nachrichten geschafft. Seit gestern haben wir wieder heißes Wasser und seit heute – nach einem langen Chat mit einem echten Menschen – funktioniert auch das Festnetztelefon wieder. Es war Sabotage. Für die Anschläge bekennen sich gleich zwei anarchistische Gruppen.
Falls Sie es nicht mitbekommen haben: Im Hinterland von Nizza wurde ein Hochspannungsmast angesägt, sodass er in Schräglage fiel, und in einem Elektrizitätswerk wurde Feuer gelegt. Damit wollte man bewusst das Festival treffen, aber nicht nur Cannes war am Samstag ab etwa 10 Uhr ohne Strom, sondern die ganze Region. Das Palais des Festivals, aber auch Polizei, Feuerwehr und Krankenhäuser, verfügen jedoch über Notstromaggregate. Trotzdem ging es am Tag, an dem abends die Goldene Palme verliehen werden sollte, natürlich hoch her. In Cannes ging von 10 Uhr bis etwa 15 Uhr nichts mehr. Blackout. Es gab keine Kaffeemaschine, keine Kasse, keinen Aufzug, keinen elektronischen Türöffner, kein Telefon und auch kein Mobiltelefon, da das Mobilfunknetz und Internet ebenfalls betroffen waren. Züge fuhren nicht. Auch Radio und Fernseher funktionierten natürlich nicht. Das Merkwürdige war, dass man so keinerlei Informationen darüber bekam, was eigentlich los war.
Ich hatte mich in aller Frühe am Gare Maritime angestellt, wo die Karten für die Goldene Palme an die Einwohner von Cannes vergeben werden. Um Viertel vor acht war ich da, um neun wird überhaupt erst geöffnet, aber schon zwei Menschenschlangen umrundeten das Gebäude. Zumindest sah es so aus, als ich ankam und man mich an eine andere Ecke als üblich schickte. Ich war schon leicht verzweifelt. Wenn an der anderen Seite schon kein Platz mehr war und man deshalb diese zweite Schlange geöffnet hatte, dann würde es dieses Jahr erneut nichts mit Karten werden. Die Ersten seien schon um sieben Uhr da gewesen, hieß es. Sie saßen teilweise auf kleinen Klapphockern und/oder standen in der prallen Sonne. Immer wieder klappten Personen zusammen, die dann in den Innenhof auf schattige Stufen vorgelassen wurden. Man plaudert ein wenig mit den Menschen, die vor und hinter einem stehen oder sitzen. Immerhin hatte ich dieses Mal zwei nette dänische Damen (mit Hund) vor mir.
Punkt neun ging es los. Man geriet in ein Labyrinth aus Absperrgittern, ähnlich wie am Flughafen. Die andere Schlange war nicht sehr lang, da die Jachtbesitzer untersagt hatten, dass stundenlang Krethi und Plethi vor ihren Schiffen stehen und gucken. Das will man nicht.
Daher standen wir dieses Mal entlang der Straße an. Nur die allerersten, die noch vor dem Sicherheitspersonal gekommen waren, wussten das noch nicht und hatten sich wie jedes Jahr auf der Jachtseite angestellt. Damit es logistisch korrekt zuging, blieben sie eben dort stehen.
Unsere Berechtigung als Einwohner von Cannes wird kontrolliert und wir werden in das Gebäude gelassen. Hurra! Um Viertel vor zehn habe ich zwei Karten für die Vorstellung um 18 Uhr ergattert! Abendgarderobe ist Pflicht! Na dann.
Ich gehe jetzt erst einmal frühstücken und bekomme vermutlich den letzten Caffè Crème des Tages, denn um zehn fällt der Strom aus. Ich telefoniere noch mit einer Freundin, die sich auf dem Weg zum Flughafen befindet. Die Verbindung bricht mehrfach zusammen, dann ist auch das Mobiltelefon stumm.
Es werden nur noch kalte Getränke serviert, und zwar so lange, bis der Kühlschrank leer ist. Für die Eisdielen ist es ein Desaster, weil ihnen das Eis schmilzt. Bezahlt wird bar, sofern man Bargeld hat. Abheben kann man auch keines mehr. Die Angestellten der Hotels sitzen draußen herum und Reisende können weder ein- noch auschecken. Die kleinen Geschäfte in der Innenstadt sind alle dunkel, die meisten haben geschlossen. Die Mitarbeiter eines Barbershops haben ihre Stühle nach draußen gestellt und schneiden Haare unter freiem Himmel.
Ich fahre nach Hause und finde es cool, wie die Franzosen an der großen Kreuzung mit sieben Straßen ohne Ampelschaltung (und bislang auch ohne Polizisten, die den Verkehr regeln) ein Verkehrsknäuel mit Bussen, Scootern und Autos flüssig und ohne Aggressionen bewältigen. Zuhause findet die Samstags-Nathalie es jedoch untragbar, dass sie mit einem Besen statt mit dem Staubsauger arbeiten soll. Ich kann sie nicht einmal mit einem Kaffee besänftigen, denn die Kaffeemaschine geht auch nicht. Gegen Mittag bricht sie ihre Tätigkeit schließlich ab. Immerhin kann ich das Mittagessen zubereiten, denn ich habe einen Gasherd. Später fahre ich Monsieur zum Bridge. Kartenspielen im dämmrigen Raum geht auch ohne Strom. Anschließend fahre ich an den Strand, sonne mich, schwimme (das erste Mal!) und lese ein Buch.
Abends geht der Fernseher wieder und ich schaue die Übertragung der Zeremonie der Goldenen Palme, die wie geplant stattfindet. Im Hintergrund gab es viel Chaos. Es sei die Hölle gewesen, werden die Schneiderinnen und Friseurinnen zitiert, die ohne Strom (und somit ohne Nähmaschine, Fön und Lockenstab) Kostüme anpassen oder Frisuren stylen mussten. Vermutlich hat Juliette Binoche deshalb wieder eine wenig glamouröse Frisur.
Sie wissen es natürlich schon: Der deutsche Film „In die Sonne schauen” von Mascha Schilinski hat den Preis der Jury bekommen! Wow! Glückwunsch! Auch wenn sie sich den Preis mit einem anderen Film „Sirat” von Oliver Laxe teilen muss. Die Goldene Palme wurde an den iranischen Filmemacher Jafar Panahi für „It Was Just an Accident” („Ein einfacher Unfall”) vergeben. Jafar Panahi hat seit Jahren Berufsverbot und muss seine Filme immer heimlich drehen. Er durfte den Iran jahrelang nicht verlassen und war dieses Jahr mit seinem Filmteam anwesend. Ich hätte vielleicht lieber „In die Sonne schauen” gesehen, bin aber mit dem iranischen Film durchaus auch zufrieden. Ich finde, es ist eine gute Entscheidung. Letztes Jahr konnte man sich nicht dazu durchringen, eine „politische” Goldene Palme an den Iraner Mohammad Rasoulof für „The Seed of the Sacred Fig” zu vergeben. Er hatte den Iran durch Flucht verlassen, bevor man ihn verhaften konnte. Er bekam letztes Jahr „nur”, so wie dieses Jahr der chinesische Film, einen kurzfristig erfundenen Sonderpreis.
“Das Wichtigste ist unser Land und die Freiheit unseres Landes. Ich wünsche allen Iranern und Iranerinnen, die sich für die Demokratie schlagen, egal woran sie glauben und wo sie sich gerade befinden, dass wir gemeinsam eine Zeit erleben werden, in der uns niemand mehr sagt, was wir anziehen sollen, was wir sagen sollen, was wir nicht tun sollen.”
Jafar Panahi, anlässlich der Verleihung der Goldenen Palme
Es ist immer wieder aufregend, die (schon etwas abgenutzten) roten Teppichstufen selbst hinauflaufen zu dürfen. Karnevalsstimmung liegt in der Luft, die Musik ist laut, alle lachen und freuen sich, haben sich herausgeputzt und machen Selfies, obwohl es eigentlich untersagt ist, aber niemand nimmt es so genau. Man kann sich natürlich auch von einem richtigen Fotografen ablichten lassen, der extra dafür bereitsteht.
Wir laufen die schöne Doppelhelix-Treppe hinauf, diese Art Treppe wurde übrigens erstmals im Schloss Chambord erbaut – kleiner Kulturexkurs, bitte sehr – und suchen uns Plätze im oberen Bereich. Und schon geht’s los.
Ich zitiere hier wie so oft Katja Nicodemus:
„It Was Just an Accident“ (Ein einfacher Unfall) ist eine Auseinandersetzung mit Jafar Panahis eigenen Gefängniserfahrungen und der Gewalt des Regimes.
Sein Held Vahid, ein Arbeiter, begegnet durch Zufall dem Mann, der ihn im Gefängnis gequält hat. Er entführt ihn mit seinem Lieferwagen. Um sicherzugehen, dass es sich wirklich um seinen Folterer handelt, kontaktiert er weitere Frauen und Männer, die mit ihm eingesperrt waren. Sie überlegen, was sie tun sollen: Sollen sie Rache üben und sich damit mit dem Regime gemein machen? Oder den mutmaßlichen Peiniger laufen lassen und das Risiko einer schweren Bestrafung eingehen?
„Ob wir einen schönen Film gesehen hätten”, fragte uns Monsieur, den wir später in einem Restaurant trafen. Schön, nein, schön ist der Film nicht. Er ist gewalttätig und da er heimlich gedreht wurde, ist er auch bildsprachlich wenig spektakulär. Aber es ist ein guter und wichtiger Film und er lässt mich lange nicht los. Ob Jafar Panahi nach allem, was er in diesem Film über die Folter in den iranischen Gefängnissen sagt, problemlos in sein Land zurückkehren kann?
Lesen Sie dazu gerne den Artikel über die zehn Tage in Cannes von meiner Lieblingskritikerin und ihr Interview mit Jafar Panahi. Es ist das erste Interview Panahis mit einem deutschsprachigen Medium seit 15 Jahren, denn eines der Verbote, denen Panahi unterlag, war auch, keine Interviews zu geben.
So war es. Das Festival ist vorbei. Die Stadt ist wieder leerer und ruhiger. Ich fliege morgen nach Deutschland, sodass Sie ein paar Tage lang nichts von mir hören werden. Bleiben Sie mir dennoch gewogen.
Eine der wenigen kostenlosen und für alle zugänglichen Veranstaltungen während des Filmfestivals in Cannes sind die Open-Air-Kinovorstellungen am Strand, das sogenannte Cinéma de la plage. Das Ambiente ist eigentlich toll, aber das Wetter macht den Vorstellungen oft einen Strich durch die Rechnung. Außerdem werden dort in der Regel bekannte Klassiker gezeigt, die ich entweder schon gesehen habe oder die mich nicht interessieren.
Die Vorstellung beginnt erst spät, wenn es wirklich dunkel ist. Man muss aber früh da sein, um überhaupt auf den Strand gelassen zu werden und um möglicherweise einen Liegestuhl zu ergattern. Dann wartet man lange, bis es losgeht. Hin und zurück geht es im Festivalgetümmel nur zu Fuß. All das hat dazu geführt, dass ich in all den Jahren bislang nur ein einziges Mal dort war.
Eine Freundin hat mich jetzt aber motiviert, hinzugehen. Der gestrige Film sei bestimmt ein toller Musikfilm und es gäbe außerdem ein Konzert im Stil der Gipsy Kings vorher. Außerdem sei es eine Vorpremiere, der Film komme erst im Juni in die Kinos. Ich lasse mich überreden und wir verabreden uns vorher im Suquet zum Abendessen.
Den ganzen Tag über weht ein starker Wind. Wir befürchten, dass der Film gar nicht gezeigt werden kann. Gegen 18 Uhr legt sich der Wind jedoch und kurz scheint die Sonne. Auf dem Weg zum Restaurant zieht sich der Himmel bedrohlich zu und ein Gewitter scheint im Anmarsch zu sein. Laut diverser Wetter-Apps, die wir konsultieren, wird es gegen 22 Uhr erwartet. Ob die Veranstaltung stattfinden wird, ist absolut ungewiss.
Wir gehen trotzdem rechtzeitig los, bleiben hier und da stehen und schauen dem heute eher schwach besuchten Festivalgetümmel zu. Das Festival neigt sich dem Ende zu. Die großen Produktionen wurden bereits gezeigt und die bekannten Stars waren auch schon da.
Gestern Abend wurde im Wettbewerb ein chinesischer Film gezeigt, der die Massen jedoch nicht anzog. Es war ziemlich leer um den roten Teppich herum, nur ein paar junge chinesische Mädchen, manche in traditioneller Kleidung, standen auf der anderen Seite des Palais und warteten auf Jackson Yee, einen sehr süß aussehenden jungen chinesischen Sänger und Schauspieler.
Dann erreichen wir den Kinostrand. Es sind erstaunlich wenige Menschen da – Wind und das drohende Gewitter haben wohl viele abgeschreckt. Die Sicherheitsleute am Eingang wissen auch nicht, ob alles wirklich stattfinden wird. Im Moment regnet es aber noch nicht, zucken sie mit den Schultern und überprüfen unsere Taschen, in denen wir Jacken und Decken mitgeschleppt haben.
Schon sind wir drin! Und oh Wunder, wir bekommen die letzten der gerade aufgestellten freien Liegestühle. Man merkt, dass alles auf den letzten Drücker entschieden wurde.
Die anderen, die jetzt noch kommen, müssen sich in den Sand setzen, der aber trocken sei, wie uns von der Bühne zugerufen wird.
Zunächst gibt der Hauptdarsteller des musikalischen Road-Movies, Arthur H., ein kleines Konzert, dann folgt ein spanisches Gypsie-Konzert, das auf den Film einstimmt.
Die Menschen vor der Bühne tanzen im Sand. In der Zwischenzeit ist es dunkel geworden. Man sieht die schwarzen Gewitterwolken nicht mehr. Laut einer Wetter-App sind sie auch gar nicht mehr über Cannes. Nun zieht man doch die Kinoleinwand hoch und dann beginnt der Film „Ange”.
Lustigerweise beginnt der Film mit einem wahnsinnigen Gewitter, ob das ein böses Vorzeichen ist? Arthur H. spielt einen seltsamer Musikhistoriker, der auf der Suche nach einem verschollenen Musiker-Freund mit einem alten Campingwagen durch die Gegend fährt. Er besucht zunächst seine frühere Geliebte. Zwölf Jahre hat er sich nicht sehen lassen und kein Lebenszeichen von sich gegeben. Dennoch fällt sie ihm voller Glück in die Arme. Da beginne ich, genervt zu sein. Das ist eine typische Männerfantasie der Männer (nicht nur?) meiner Generation. Der Mann, der einsame Cowboy, lebt sein Leben, kommt, wie es ihm passt, und die Frau erwartet ihn stets mit offenen Armen. Er erfährt, dass die Tochter (okay, es ist nicht seine Tochter, erfahre ich später) „Dummheiten” gemacht habe, und fragt ziemlich trottelig „Warum denn das?”. Klar, wenn man sich zwölf Jahre lang nicht um (s)ein Kind kümmert, kriegt man auch nichts mit. Und dann fängt es an zu regnen. Die Menschen verlassen fluchtartig den Strand – wir auch. Alle fürchten jetzt das große Gewitter und suchen Schutz. Aber es regnet überhaupt nur wenig und kurz. Pech ist nur: Einmal draußen, dürfen wir nicht mehr rein. Man kann natürlich auch von der Mauer aus zusehen, aber der Film ist sowieso nichts für mich. Ich verabschiede mich und laufe nach Hause.
Unterwegs werde ich Zeuge einer süßen Szene – zwei langbeinige Damen in fast durchsichtigen Kleidern lassen sich von einem Herrn filmen, immer wieder laufen sie vor dem hell erleuchteten Fenster von Prada hin und her. Ein kleines Mädchen ist fasziniert von den beiden Damen, die es vermutlich für Prinzesinnen hält und rennt spontan ins Bild, um sich stolz mit ihnen fotografieren zu lassen. Die beiden Damen waren sehr gerührt.
Und hier noch der Trailer von “Ange”. Vielleicht schaue ich ihn mir doch noch mal im Kino an.
Gestern Abend begann es zu regnen und heute Vormittag gab es ein wahnsinniges Gewitter und stundenlang schüttete es wie aus Kübeln. Es ist immer so während des Festivals, siehe diesen Beitrag von vor zwei Jahren, das ist vermutlich die ausgleichende Gerechtigkeit des Universums, das als Gegengewicht zum Glamour von Cannes den armen ambulanten Regenschirm-Händlern in Cannes das Geschäft der Saison verschafft. Im Nachbardepartement Var sind heute drei Menschen bei diesem Unwetter ums Leben gekommen. In Cannes ist vor ein paar Tagen ein chinesischer Film-Agent auf der Croisette von einer Palme fast erschlagen worden. Eine Windböe soll die Palme entwurzelt haben, die genau auf den Mann kippte und ihn “platt machte”, wie die Presse schrieb und sofort wegen des Ausdrucks kritisiert wurde. Der Mann kam mit starken Kopf- und Wirbelsäulenverletzungen ins Krankenhaus und die chinesische Delegation sagte sofort sämtliche Termine ab. In der Zwischenzeit konnte er das Krankenhaus wohl wieder verlassen, mehr war seither nicht zu erfahren. Mich erinnert es an die tragische Todesursache des Schriftstellers Ödon von Horvath, der aus Nazideutschland floh und in Paris von einem herunterfallenden Ast erschlagen wurde.
Was ist sonst noch so los? Bono von U2 war anwesend, um einen Film über ihn, kein Biopic, aber deutlich mehr als ein Konzertfilm heißt es, “Stories for Surrender” von Andrew Dominik vorzustellen, und er hatte Sean Penn und einige Soldaten aus der Ukraine eingeladen, um mit ihnen zusammen auf dem Teppich zu posieren, als Zeichen der Unterstützung für die Ukraine. Die Soldaten passten nicht zum geforderten Cannes-Dresscode, aber nun, es gibt wie immer Ausnahmen.
Tom Cruise war da (und mit ihm die nun wirklich letzte Folge der “Mission Impossible”), Angelina Jolie war da, ebenso Amal Alamuddin (besser bekannt als Amal Clooney), beide kamen allein und waren sehr elegant, wie die Vogue berichtete. Und ebenso Carla Bruni (allein, elegant in Rot). Carla Bruni sollte übrigens bei einer Veranstaltung in einem schicken Strandrestaurant singen, aber sie kam mit ihrem zarten Stimmchen nicht gegen die lauten Bässe der Musik des Nachbarrestaurants an, sie war dégoutée, beschwerte sich, und das laute Strandrestaurant wurde zur Strafe einen Tag gesperrt.
Isabelle Huppert trug einmal ein leuchtendes limettenfarbiges Kleid; btw. Grün in allen Schattierungen ist dieses Jahr übrigens sehr präsent, Charlotte Gainsbourg trug etwa einen grünen Kissenbezug, halt nein, ein kurzes Kleid von Yves St Laurent war es, und natürlich ist es ultraschick, genau wie der eigenartige Jeanslook den Isabelle Huppert ein anderes Mal präsentierte, langer Rock mit umgedrehter und verdrehter Jeansweste, so ließe meine Mutter mich nicht rausgehen, aber natürlich ist es Balenciaga und die Vogue schmachtete: “on adoooore”
Sie müssen bitte auf die Links klicken, um das alles zu sehen, die Fotos hier reinzusetzen ist nicht ganz legal, und ich befinde mich quasi schon mit einem Fuß in einem Abmahnungsprozess …
Denzel Washington flog kurz ein, um eine Überraschungs-Ehrenpalme entgegenzunehmen, zum Anzug trug er weiße Sneakers und Krawatte, was nicht dem Dresscode entspricht, Spike Lee trug ebenfalls nicht den geforderten Abendanzug, sondern ein buntes Streifenoutfit in den Farben seiner liebsten Baseballmannschaft. Rihanna trug ein blaues Kleid um ihr schwangeres Bäuchlein und ihr Gatte goldene Zähne (und auch nur eine Krawatte, herrjeh!) Hier sehen Sie übrigens schon den gestrigen Regen.
Rihanna et A$AP Rocky sur les marches du Festival de Cannes. (Le 19 mai 2025.) ABACA
Und während unsereins sich vermutlich vom roten Teppich scheuchen lassen müsste, wenn man den Dresscode nicht einhielte, so dürfen die geladenen Gäste dann doch irgendwie machen, was sie wollen. Übrigens sind Kleider mit langen Schleppen seit diesem Jahr auch nicht mehr gestattet, weil sie auf dem Teppich den Bewegungsfluss aller stören und man sie im Saal kaum auf einem Sitz unterbringen kann, aber man ließ es Heidi Klum noch einmal durchgehen. Nur die Presse fragte genervt: Hat sie eigentlich nichts verstanden?
Heidi Klum en Elie Saab sur le tapis rouge. (Cannes, le 13 mai 2025.) Marc Piasecki / FilmMagic
Heute Abend erklommen unter anderem Jodie Foster die roten Stufen und Scarlett Johannson. Letztere war dieses Mal nicht als Schauspielerin da sondern als Regisseurin. Sie hat ihren ersten Spielfilm abgeliefert, Eleanor the Great, über eine transgenerationelle Frauenfreundschaft. Ich bin dieses Jahr so gespannt auf so viele Filme und kann es kaum erwarten, sie in den Kinos zu sehen!
So viel für heute. Bonne nuit!
ps: Hab ich es nicht gesagt? Schon ist es passiert! Ein eingeladenes Starlet, schick, aber in Glamourkreisen noch eher namenlos, wurde wegen ihrer zu voluminösen Schleppe vom Sicherheitsdienst nicht auf den roten Teppich vorgelassen. Ihre Begleitung riss ihr kurzerhand die angenähte Schleppe ab (glücklicherweise ohne das Kleid dabei zu zerreißen), und verschenkte sie an irgendjemanden im zuschauenden Publikum. Zu sehen in einem TiktokVideo publiziert bei Elle.
Ich weiß nicht, wie viel von Cannes überhaupt zu Ihnen dringt. Wissen Sie beispielsweise, dass dieses Mal mehrere deutsche Filme vertreten sind? „In die Sonne schauen” von der bislang unbekannten Filmemacherin Mascha Schilinski wurde hier sehr gut aufgenommen. Dann gibt es noch „Amrum” von Fatih Akin, der aber nicht im Wettbewerb läuft, sowie Christian Petzolds Film „Miroirs No. 3”, der innerhalb der „Quinzaine des Réalisateurs” gezeigt wird.
Ich hatte mir gestern vorgenommen, für „Amrum” von Fatih Akin eine Karte zu erbetteln, so wie ich das letztes Jahr für die Verleihung der Goldenen Palme gemacht habe. Das hatte prima geklappt und so war ich guten Mutes mit meinem Zettel „Cherche Invitation Amrum” zum Palais des Festivals gelaufen. Ja, gelaufen, denn die Busse fuhren eher nicht, und nachdem ich eine Viertelstunde gewartet hatte, dachte ich, der Film würde ohne mich anfangen, wenn ich nicht losginge.
Ich bin zunächst ein kleines bisschen aufgeregt mit meinem Schild in der Hand, aber ich bin nicht die Einzige, die eine Karte sucht. Jemand möchte eine Karte für „La Petite Dernière“, ein Coming-of-Age-Film von Hafsia Herzi, und jemand anderes möchte eine Karte für „Eddington“, den „Le Monde“ für den schwärzesten Film in dieser Saison in Cannes hält. Ich stehe vor dem Zugang und versuche die Leute gewinnend anzulächeln. Ein junger Mann fragt mich, ob ich stattdessen einen anderen Film sehen möchte. Offensichtlich ist der Saal so leer, dass sie Zuschauer suchen. Ich lehne jedoch ab, da ich so fixiert auf „Amrum” bin und von dem Film, den der junge Mann mir vorschlägt, noch nie etwas gehört habe. Viele sehen mein Schild und gehen weiter. Aber eine Frau in Begleitung eines Mannes nickt mir zu. Sie hat drei Karten und könnte mir eine geben. Das Problem ist nur, dass die Karten alle digitalisiert sind. Mit einem Blick auf meinen Oberkörper, an dem kein Badge herumbaumelt, stellt sie fest, dass ich keine Akkreditierung habe. Also müssen sie mich mitnehmen, ohne sie käme ich nicht rein, sagt sie. Das Paar und ich eilen also zu einem anderen Eingang. In der Zwischenzeit ist vor dem Palais aber alles weitläufig abgesperrt. Wir müssen einen großen Umweg nehmen, auf der anderen Straßenseite am Palais vorbei und dann erneut die Straße überqueren, um hinter dem Palais zum direkten Eingang des Saales Agnes Varda zu gelangen. Es wimmelt vor Menschen. Ich habe Mühe, Schritt zu halten, und die beiden nicht aus den Augen zu verlieren. Sie tippt beim Laufen und schickt mir immerhin schon eine Karte via WhatsApp auf mein Handy. Der Mann, neben dem ich hereile, kommt mir bekannt vor, aber ich weiß nicht, woher. Ein Schauspieler? Außer Atem erreichen wir den Eingang und die Sicherheitskontrolle. Und dann komme ich nicht rein! Die Karte ist eines. Aber ohne Akkreditierung geht nichts. Auch wenn die Dame mich tapfer als ihre Begleitung ausgibt. Nichts zu machen. „Tut mir leid”, sagt sie schließlich achselzuckend und lässt mich am Eingang zurück. “Vielleicht klappt es an einem anderen Zugang”, sagt die Dame von der Sicherheitskontrolle und schickt mich wieder zurück, dorthin, wo wir hergekommen sind.
Aber jetzt rollen schwarze Autos mit getönten Scheiben auf der Straße vor dem Palais entlang. Hier komme ich nicht mehr über die Straße, signalisieren mir die strengen Polizeibeamten. Ich müsse entweder warten oder einen noch längeren Umweg nehmen. In fünf Minuten wird der Zugang zum Film geschlossen, aber ich brauche bei dem Umweg und all den Menschen mindestens fünfzehn Minuten, um überhaupt zurückzukommen. Ich stehe da und bin kurz verzweifelt. Dann atme ich aus, höre auf zu hetzen und lasse es gut sein.
Ich nehme den langen Weg zurück, gehe erstmal ein Eis essen und entscheide mich für Plan B: Ich fahre zum Kinokomplex Cineum in Cannes la Bocca, wo es in zwei Stunden auch eine Vorstellung von „Amrum” gibt. Vielleicht sind sie dort etwas weniger streng. Ich suche die Bushaltestelle, aber nein, hier fährt kein Bus, denn während des Festivals ist alles anders. Also laufe ich zurück zum Bahnhof, denn das ist der einzige Ort, von dem ich sicher bin, dass er von allen Bussen angefahren wird., Ich erwische gerade noch den richtigen Bus, der aber, wie ich bemerke, während des Festivals eine andere Route fährt und keinesfalls bis zum Kinokomplex. Eine Dame tröstet mich: Von der Endhaltestelle könne ich in gut zwanzig Minuten auch zu Fuß hinlaufen. Der Busfahrer schlägt mir jedoch vor, unterwegs umzusteigen und den extra dafür eingerichteten Shuttlebus zu nehmen. Das mache ich dann auch – und mit mir viele andere. Der Bus ist proppevoll und quält sich endlos durch den dichten Straßenverkehr. Vierzig Minuten später sind wir da.
Auch hier gibt es einen roten Teppich und ein Sicherheitsempfangskomitee, dem ich mein Anliegen vortrage. Sie schütteln den Kopf. Ohne Akkreditierung komme ich auch hier nicht rein. „Gibt es denn gar keine gedruckten Karten mehr?”, frage ich. Die jungen Menschen wissen gar nicht, wovon ich rede. Einer der Herren schlägt mir vor, ich könne doch einen anderen Film im Kinokomplex ansehen. Ja, das hatte ich mir als Plan C auch überlegt. Allerdings ist das Nachmittagsprogramm im Kinokomplex etwas mau. Der einzige Film, für den ich nicht noch einmal zwei Stunden warten muss, ist die Geschichte des “Gesang”-und-Tanz-Duos Milli Vanilli. „Girl, you know it’s true” ist vielleicht nicht nur der französische Titel. Die Dame an der Kinokasse empfiehlt ihn mir sehr. Sie bedauert, dass er in Frankreich keinen Erfolg hat.
Den jungen französischen Zuschauer:innen von heute sagt „Milli Vanilli” natürlich nichts, aber ich habe die Geschichte der beiden in meinen jüngeren Jahren live mitverfolgt, wenn auch nur am Rande meines Gesichtsfeldes; es war einfach nicht meine Musik. Dass sie damals aufgeflogen sind, weil sie überhaupt nicht selbst gesungen haben, sondern der Produzent Frank Farian oder andere Sänger, hat mich wenig berührt. Dass man darüber einen Film drehen kann? Aber es ist das oder nichts. Es ist ein deutscher Film und ich will jetzt einen Film sehen! Aber ich muss noch warten, bis der Saal frei ist. Leider muss ich direkt neben der Schlange der Festivaliers warten, die für „Amrum” anstehen. Das grämt mich sehr und ich spüre noch einmal meine große Enttäuschung. Fast kommen mir Tränen.
Wir gehen zeitgleich in unsere Säle: „Amrum” links, „Milli Vanilli” rechts. In meinem Saal bin ich ganz allein, das ist mir noch nie passiert. Und ich bleibe auch allein.
Vermutlich war ich psychologisch nicht wirklich für „Milli Vanilli” bereit. Zusätzlich ist es die französische Version. Ich finde den Film schlecht, und weder witzig noch anrührend, wie ich beim Nachlesen in allerhand guten Kritiken gelesen habe. Allerdings habe ich seit gestern „Baby, don’t forget my number” als Dauerschleife im Kopf.
Hier bitteschön, damit Sie auch etwas davon haben.
Danach steht mir eine erneute Bus-Odyssee bevor und es dauert etwa eine Stunde, bis ich müde zu Hause ankomme.
Zuhause suche ich den Namen der Dame, die mir die Karte via WhatsApp geschickt hat. Sie ist Politikerin (La Gauche républicaine et socialiste) und in ihrer Timeline sehe ich, dass sie an vielen Demonstrationen in Paris teilgenommen hat. Dort sehe ich auch immer wieder den Mann, der sie in Cannes begleitete. Auch er ist vermutlich Politiker, was erklären würde, warum ich glaube, ihn „vom Sehen” zu kennen. Vermutlich vom Fernsehen. Seinen Namen finde ich jedoch nicht.
PS: Der Film, den ich ausgeschlagen hatte, ist “L’Inconnu de la Grande Arche”, der von dem bis dahin unbekannten Architekten Johan Otto van Spreckelsen und den Bau des großen Triumphbogens, der Grande Arche, in La Défense (in Paris) handelt. Gerade gegoogelt: Der junge Mann, der mich angesprochen hat, war der Regisseur persönlich. Ach je. Ich schäme mich. Und es wäre vermutlich deutlich interessanter geworden als Milli Vanilli.
Dieses Mal waren wir wieder im Kino, ich finde das immer ziemlich genial, das Spektakel auf dem roten Teppich ist so laut, Musik wummert, die Fans, die Journalisten, die Fotografen, alle rufen und sprechen aufgeregt durcheinander, und man ist im Kino so nah dran, dass man wirklich glaubt, Robert de Niro, Quentin Tarantino und Juliette Binoche live gesehen zu haben. Aber natürlich bin ich hier schon wieder zu spät, Katja Nicodemus hat ihren amüsanten Text über die ersten Eindrücke in Cannes (es gibt deutsche Filme im Wettbewerb, außerdem Kakerlaken, frau darf erstmals auch in flachen Schuhen auf den roten Teppich, Luxusjachten sind dieses Jahr billiger zu mieten) wie sich das gehört, gestern Nacht schon geschrieben.
Die Eröffnunsgzeremonie, dieses Mal geleitet vom Schauspieler Laurent Lafitte (ihn kennt man vielleicht, weil er in einer Netflix Serie ziemlich genial Bernard Tapie darstellt), die letztes Jahr noch als “Wort- und Tränenreich” kritisiert wurde (Katja Nicodemus), schien mir dieses Jahr ziemlich rasant durchgetaktet zu sein. Die Jury, deren Vorsitz Juliette Binoche hat, wurde vorgestellt, Mylene Farmer sang ein Liedchen zu Ehren von David Lynch, dann kam schon Leonardo di Caprio auf die Bühne und überreichte dem sehr gerührten Robert de Niro die Ehrenpalme. Quentin Tarantino eröffnete danach ohne Umschweife das Filmfestival 2025 und warf das Mikro dramatisch auf den Teppich. Lafitte, Binoche und vor allem Robert de Niro hatten ernste Themen in ihren Reden, Kriege, Terrorismus, Faschismus, sie machten sich für die Kunst stark, für Freiheit und für die Demokratie.
Der Eröffnungsfilm “Partir un jour”, wie ich in einem Kommentar zum gestrigen Beitrag schon schrieb, ist vielleicht kein großer Kinofilm, ich mochte ihn aber dennoch gerne und zitiere erneut Katja Nicodemus:
Er handelt von einer aufstrebenden Pariser Köchin, die wegen ihres kranken Vaters zurück in das Fernfahrerrestaurant ihrer Eltern kommt. Außerdem sind da: eine ungewollte Schwangerschaft, die ehemalige große Liebe und das Leben überhaupt. Zwischen Tanz- und Gesangseinlagen und einer Küche, der man ansieht, dass dort wirklich gekocht wird, gelingt es dem Film, von Frankreich zu erzählen, von seiner Kulinarik, dem Verhältnis von Provinz und Hauptstadt, von denen, die dableiben, und denen, die eines Tages weggehen.
Es ist der erste Spielfilm der Filmemacherin Amélie Bonnin, außerdem eine Comédie Musicale, das heißt, es wird mal wieder gesungen. Das ist vielleicht nicht neu, ich kann mir auch vorher nie vorstellen, wie das passen soll, aber es passt. Ich habe begeistert mitgesungen (bekannte französische Chansons), war mittendrin und manchmal gerührt (etwa wenn der herzkranke Vater beim Kartoffelschälen in der Küche “Je veux mourir sur scène” von Dalida singt). Wir sehen eine neue und frische Schauspielergeneration, das Publikum im ausverkauften großen Saal des Cineum ist jedoch alles andere als neu und frisch und eher schwer zu begeistern für das Witzige im Film. Der Film bekam nur freundlichen Applaus, und das, obwohl hier und da heimlich Champagner gesüppelt wurde. Man schafft sich sein glamouröses Ambiente selbst, nicht wahr.
Heute lief ich dann kurz durch die Stadt und machte die üblichen Fotos. Doppelte Absperrgitter, lange Schlangen. Sehr großer Sicherheitsaufwand. Ich habe noch nie so viel Polizei gesehen.
Habs gestern Abend nicht mehr geschafft, den Artikel zu machen, auch wenn ich den ganzen Tag fotografiert habe. So reiche ich die zwölf Bilder vom zwölften Tag des Monats, die Caro vom Blog “Draußen nur Kännchen” so verlässlich sammelt, am 13. nach. Der Alltag ist ja weitestgehend zeitlos, das Tagesaktuelle nur knapp veraltet. Geht schon, oder?
Der Blick aus dem Fenster. Heute mit Taube. Es hat nachts geregnet und das Wetter sieht momentan nicht verheißungsvoll aus. Wir nähern uns dem Filmfestival, da ist immer schlechtes Wetter. Aber es hat sicherlich auch mit den Eisheiligen zu tun. Gestern war St. Pankratius, am Donnerstag ist noch die “Kalte Sophie”, dann erst wird es verlässlich wärmer. Das gilt in diesem Jahr besonders für Südfrankreich, das Schönwettermäßig etwas hinterherhinkt, in Deutschland erlebte ich in der Woche vor Ostern schon 28 Grad!
Ich fahre ein bisschen Indoor-Fahrrad im unordentlichen Badezimmer mit ohne Aussicht. Für mehr Realität im Internet.
Frühstück. Man brachte uns eine Brioche-Spezialität aus Lyon mit: eine Praluline. Eine Brioche mit Nüssen, Mandeln und roten “Pralinen”, berühmtes Zuckerzeug, das gerne für Gebäck eingesetzt wird. Ziemlich süß, aber nicht unlecker.
Ich schreibe einige wichtige Mails, sitze dafür an Monsieurs Schreibtisch, mein eigener Schreibtisch ist so zugemüllt, dass ich mich dort nicht konzentrieren kann.
Mittagessen. Es ist Frühling, es gibt wieder rohe Artischocken zum Entrée. Nachtisch Erdbeeren. Dazwischen gibts Hähnchenbrustfilets in Senf-Sahne-Soße und Tagliatelle.
Nach der Sieste fahre ich Monsieur zur Rhumatologin, die ihm die ersten zwei von sechs Hyaluronsäurepräparat-Spritzen in die Knie schießt. Während er wartet und dann dran ist, laufe ich ein wenig durch die Innenstadt und fange die beginnende Festivalatmosphäre ein. Das Wetter ist besser geworden, es ist recht warm und der Himmel schön blau.
Alain Delon ist überall. Die Ausstellung “Cannes fait le mur” ist dieses Jahr ihm und den Frauen seines Lebens gewidmet!
Es rollkoffert durch Cannes.
Das Bild für das diesjährige Plakat entstammt dem Film “Un homme et une femme” mit Jean-Louis Trintignant und Anouk Aimée. Und erstmals gibt es zwei Plakate – die Umarmung zeigt mal ihr, mal sein Gesicht. Aber ich finde immer nur dieses.
Nachmittags suche ich vergeblich unseren Namen bei der Kartenverlosung für das Filmfestival, wir haben auch dieses Jahr keine Karten bekommen. Ich reserviere aber schnell noch zwei Karten für die Eröffnungszeremonie (heute Abend), die auch in die Kinos übertragen wird, einschließlich dem Eröffnungsfilm “Partir un jour”. Der wird überraschend leicht, das freut mich, Monsieur verzieht ein bisschen das Gesicht.
Aus dem Fernsehen erfahren wir später, dass morgen, also in der Zwischenzeit heute (am Eröffnungstag) zusätzlich drei Filme über die Situation in der Ukraine gezeigt werden, darunter eine Doku über Zelensky. Leider sind alle drei Filme, wie alle anderen des Festivals auch, nur für Presse und akkreditiertes Publikum zu sehen. Aber arte zeigt die Doku über Zelensky am Eröffnungs-Abend (heute!)! Ich bin kurz enttäuscht, dass wir selbst an dem Abend im Kino einen so seichten Film ansehen werden, entdecke aber, dass die Doku bereits in der arte Mediathek zu sehen ist. Das Abendprogramm ist gerettet!
Kurz vor Acht gehe ich noch schwimmen. Es ist toll, nur wenige Menschen sind so spät da.
Wir essen dementsprechend sehr spät und hauen uns hungrig die Reste vom Mittag rein. Kein Foto.
Das war der gestrige Tag. Danke, wenn Sie auch nach dem 12. hier vorbeigeschaut haben! Die anderen Mai-12-von-12er finden Sie hier, ich bin die 145ste, unfassbar!
Ein Missverständnis hat dazu geführt, dass mir die Fahne eines Buches zugeschickt wurde, das gerade bei Kiepenheuer & Witsch erschienen ist: Die Geschichte der Schauspielerin Maria Schneider, geschrieben von ihrer jüngeren Cousine, der Journalistin Vanessa Schneider, übersetzt von Grit Weirauch. Der Zufall will, dass mich das Thema sehr interessiert, und doch ist es unbemerkt an mir vorbeigegangen, als das Buch in Frankreich erschien, immerhin schon 2018, genauso wie der Film, den Jessica Palud nach dem Buch gedreht hat und der letztes Jahr bei den Filmfestspielen in Cannes gezeigt wurde. Man kann also in Cannes leben und trotzdem einiges verpassen, dafür schäme ich mich ein bisschen, stürze mich jetzt aber mit umso größerem Interesse auf die deutsche Übersetzung. Auch wenn die Namen deutsch klingen, ist es eine sehr französische Geschichte. Maria Schneider kannte ich nicht, auch nicht den Film “Der letzte Tango in Paris”, in dem sie in den Siebzigern mit Marlon Brando spielte. Nie gesehen, nie gehört, nichts von der sexuellen Verruchtheit dieses Films drang zu mir durch. Gut, ich war 1972 ein braves Grundschulkind, die Eltern gut katholisch, Filme dieser Art wurden bei uns nicht einmal erwähnt. Aber auch später kreuzte dieser Film nicht meinen Weg.
Maria Schneider ist neunzehn, nach damaligem Recht noch nicht volljährig, als sie ihren ersten Film dreht. Es ist ein Erotikfilm, und sie steht gleich zwei Filmgiganten gegenüber: Bernardo Bertolucci, dem aufstrebenden Regisseur, und Marlon Brando, der ihren Partner spielt. Bertolucci ist Anfang dreißig, Brando immerhin schon 48. Mit ihm hat Maria mehrere Sexszenen in einer leeren Wohnung in Paris. Bertolucci will dem Film noch etwas mehr Pep geben und bespricht kurzerhand mit Brando, dass es eine inszenierte, heftige Analsexszene geben soll, von der die junge Maria allerdings nichts weiß. Sie ist völlig überrumpelt, als Marlon Brando ihr die Jeans herunterzieht, ihr Butter als Gleitmittel verabreicht und sich auf sie wirft. Sie ist schockiert, wehrt sich wie bei einer echten Vergewaltigung, schreit, heult und ist außer sich. Genau das wollte Bertolucci sehen und filmen und ist mit dem Ergebnis sehr zufrieden. Aber Maria fühlt sich gedemütigt und betrogen, ja sogar doppelt vergewaltigt von diesen Männern, die das hinter ihrem Rücken eingefädelt haben, und sie wird diese Szene nie verwinden. Sie spricht darüber, aber man hört sie nicht, die Siebziger sind sexuell freizügig, was soll’s, immerhin hat sie ihren ersten Film gedreht und dann gleich mit Marlon Brando, ist das nichts? Der Film ist ein Skandal, vor allem wegen dieser Szene, er wird in Italien und Spanien verboten, in Italien wird Maria in Abwesenheit zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Sie hat niemanden, der sie vor den Blicken und Kommentaren der anderen schützt oder ihr im Umgang mit der Presse hilft. Um sich zu rächen, lästert sie über Brando, macht alles kaputt, auch ihre zukünftige Karriere, aber was ist das schon für eine Karriere, wenn man ihr nur Filme anbietet, in denen sie nackt sein muss. “Angezogen interessiere ich niemanden”.
Um den Film und die widerliche Szene zu vergessen, stürzt sie sich ins Nachtleben, feiert, trinkt, Drogen kommen dazu, bald spritzt sie sich Heroin, aber sie entkommt dem Film und der Szene nicht, alle anderen führen sie ihr immer wieder vor Augen, etwa wenn ihr im Flugzeug mit einem anzüglichen Lächeln ein Päckchen Butter angeboten wird (ein Butterhersteller wirbt sogar mit ihrem Foto), und dass Journalisten und Journalistinnen sie auch nach dem Dreh anderer Filme immer wieder dazu interviewen wollen. Auch in einem späten Interview, das ich mir im Zuge der Recherche angesehen habe, wird sie von einer gestandenen Journalistin in heiterem Ton, fast lachend gefragt, warum sie Jahrzehnte später immer noch so unter dieser Szene leide, “das war doch nur eine gespielte Vergewaltigung, oder?”. Der abweisende Gesichtsausdruck Marias spricht Bände, aber die Journalistin verfügt über keinerlei Empathie. Erst über zehn Jahre später, 2017, wird man öffentlich über sexuellen Missbrauch (nicht nur) in der Filmindustrie sprechen, den Beginn der #meetoo-Bewegung hat Maria Schneider jedoch nicht mehr erlebt.
Ich habe das Buch von Vanessa Schneider in der deutschen Übersetzung von Grit Weirauch in einem Rutsch durchgelesen, was erwähnenswert ist, weil ich seit Monaten kaum noch etwas lese und schon gar nicht in einem Rutsch. Nur an zwei winzigen Stellen bin ich in der Übersetzung hängen geblieben, ich hätte nicht “das” Mousse auch Chocolat gesagt, sondern “die” und später liegt Maria mit ” Anziehsachen” am Strand, sagt man das heute so? Vielleicht hätte ich “Klamotten” geschrieben oder vielleicht, dass sie “angezogen” war. Ansonsten gefällt mir der Ton, den Vanessa Schneider anschlägt (und den Grit Weirauch perfekt übersetzt), eine liebevolle, fast zärtliche Hommage an die ältere Cousine, die sie verehrt und deren Verlorenheit sie schon als Kind spürt; Die Mutter wirft Maria mit 15 aus dem Haus, sie findet Unterschlupf bei der Familie eines Onkels, Vanessas Eltern, erst mit 16 lernt sie ihren leiblichen Vater kennen, Daniel Gélin, einen charismatischen Schauspieler, der seine frisch entdeckte Tochter sofort ins Nachtleben einführt, sie wie seine neueste Eroberung herumführt und auch mit der Filmwelt in Kontakt bringt, – aber es ist auch eine sehr französische Familiengeschichte, die uns mitten in die siebziger Jahre katapultiert. Vanessa Schneider erinnert sich an die Begegnungen mit Maria, aber auch an ihre eigene Familiengeschichte, die über mehrere Generationen dysfunktional ist, an die Hippie-Welt, in der sie aufwächst, in der ihr Vater mit anderen Linken die Revolution vorbereitet und weint, als Mao 1976 stirbt.
Maria hat ein wildes Leben, sie lebt ein paar Jahre in Los Angeles, lernt dort Pattie Smith kennen und Bob Dylan lieben, beide haben wohl Songs über sie geschrieben, Maria wirft ihr Geld mit beiden Händen zum Fenster raus und hat am Ende nichts mehr. Ihre Karriere ist zu Ende. Die Drogen haben ihre Schönheit und ihre Gesundheit zerstört, sie stirbt 2011 mit 58 Jahren, fast mittellos. Bei ihrer Beerdigung sitzt Alain Delon in der ersten Reihe und liest einen Brief von Brigitte Bardot vor, die Maria lange Jahre mit einer Art mütterlicher Liebe, Champagner und Lebensmittelpaketen versorgt hat. “Das ist doch normal”, antwortet Brigitte Bardot, als Vanessa Schneider sich dafür bei ihr bedankt.
“Ich hatte ein schönes Leben” sagt Maria, kurz bevor sie stirbt. Es ist der erste Satz in Vanessa Schneiders Buch.
“Du hast das nicht gesagt, um uns eine Freude zu machen oder dich selbst davon zu überzeugen, das war nicht deine Art. Du hast es anscheinend tief im Inneren empfunden. So lange hatte ich dich aus Gewohnheit bemitleidet, mir Sorgen gemacht um dich, mich in dein Unglück, das zu unserem geworden war, hineinziehen lassen. Du aber hast daran geglaubt. »Ich hatte ein schönes Leben.« Und es tut gut, dass du die Dinge so gesehen hast.”
Das friedliche Ende, das gleich zu Beginn den Ton angibt, tut der Leserin gut, die vor allem das Drogenelend kaum ertragen kann. Und die wütend ist auf die Männer, die ein junges Mädchen, das ihnen als leichtes Opfer erscheint, bewusst manipulieren und für ihre sexuellen Fantasien missbrauchen. Vanessa Schneider ist es gelungen, die tragische Geschichte ihrer Cousine sehr liebevoll und einfühlsam zu erzählen und sie geschickt mit ihren Erinnerungen an ihre eigene Kindheit und Familie zu verweben.
Den Film “Maria” von Jessica Palud habe ich mir auch angesehen. Er konzentriert sich (wie der Titel verheißt) allein auf Marias Geschichte, und ich hätte ihn mir vielleicht nicht so unmittelbar nach der Lektüre des Buches ansehen sollen, in dessen Stimmung ich noch gefangen war. Und, note to myself, grundsätzlich sollte ich mir das nicht spät abends antun, es dauerte die halbe Nacht, bis ich mich davon wieder so weit distanziert hatte, dass ich schlafen konnte.
In den letzten Jahren haben auch Vanessa Springora in ihrem Buch “Le consentement” (das später verfilmt wurde) und Judith Godrèche in der Serie “Icon du French Cinema” über ihre Missbrauchserfahrungen mit einem deutlich älteren Mann berichtet. Vanessa Springora war dreizehn, als der Schriftsteller Gabriel Matzneff, damals fünfzig, eine “Beziehung” mit ihr begann und über seine sexuellen Erfahrungen mit ihr ein Buch veröffentlichte, das damals von allen (nicht nur von den Männern) in den literarischen Feuilletons gefeiert wurde; die einzige Frau, die es damals wagte, öffentlich zu sagen, dass es sich um Missbrauch handelte, wurde als “reaktionär” und “schlecht gevögelt” beschimpft. Judith Godrèche ist fünfzehn, als sie ihren ersten Film mit dem 25 Jahre älteren Regisseur Benoit Jacqout dreht. Sie wird seine langjährige Geliebte.
In den siebziger Jahren hieß das alles “sexuelle Befreiung”. “Es war eine andere Zeit”, heißt es immer. Ja, es war sicher eine andere Zeit, auch Gérard Dépardieu, der hier gerade wegen Vergewaltigung und sexueller Belästigung bei Dreharbeiten zu einem Film von 2021 angeklagt ist und alles abstreitet, versteht wohl die Welt nicht mehr. In dem Film “Les Valseuses” von Betrand Blier aus dem Jahr 1974 (dt. “Die Ausgebufften”) durfte er all das noch ungestraft und vor laufender Kamera ausleben. Dass dieser “Kultfilm” über zwei Kleinganoven, die sich mit Klauen, Saufen und Ficken durchschlagen und dabei eine Menge Spaß haben, schon damals zumindest für Frauen nicht wirklich amüsant war, zeigt die heutige Reaktion von Brigitte Fossey, die in dem Film eine junge Mutter spielt, die im Zug von den beiden Ganoven sexuell belästigt wird. Sie kann sich die Szene nicht mehr ansehen, “horrible” findet sie sie noch heute, fünfzig Jahre später. Interessant ist, dass ihr Vater ihr vorwarf, in dieser Szene ein abwertendes Frauenbild zu vermitteln, anstatt sich über die sexuell aggressiven Männer zu ärgern.
“Überrascht” von all den #meetoo-Vorwürfen und vor allem nachdem Judith Godrèche letztes Jahr die beiden Filmemacher Benoît Jacquot und Jacques Doillon der Vergewaltigung Minderjähriger beschuldigte und in einer langen Anhörung unter anderem sagte: “Die Filmfamilie, in der man gemeinsam ein künstlerisches Projekt schafft, ist eine inzestuöse Familie”, wurde eine Untersuchungskommission über Gewalttaten in der Film-, Theater-, Kunst-, Mode- und Werbebranche eingesetzt, die nach der Anhörung von über 350 Personen aus der Film- und Fernsehbranche den ersten Band ihres mehrere hundert Seiten umfassenden Berichts veröffentlicht hat. „Moralische, sexistische und sexuelle Gewalt in der Kulturwelt ist systemisch, endemisch und hartnäckig“, lautet eine der Feststellungen von Sandrine Rousseau, der Vorsitzenden der Untersuchungskommission. Es werden Empfehlungen gegeben, wie Frauen und vor allem Minderjährige in Zukunft geschützt werden können. Ich empfehle: wachsam bleiben, hinsehen und immer wieder darüber sprechen. Und “Die Geschichte der Maria Schneider” lesen.
An jedem zwölften des Monats gibts 12 Bilder vom Tag. Kennense schon. Gesammelt wird das seit Jahr und Tag dankenswerterweise von Caro vom Kännchen-Blog.
Blick aus dem Fenster. Das Wetter ist weiterhin unfreundlich, aber zumindest regnet es heute morgen nicht.
Ich versuche schon eine Weile den Oatly-Drink, der mir politisch nicht mehr korrekt erscheint, gegen einen andern auszutauschen. Habe schon bestimmt zehn andere ausprobiert, keiner schmeckt mir so gut.
Frühstück.
Dann fahre ich eine halbe Stunde auf dem Heimtrainer Fahrrad, was ich so langweilig finde, dass ich es nur ertrage, wenn ich währenddessen das Internet durchscrolle. Seit dem Zelensky-Trump-Clash habe ich kritische Stimmen gesucht und glücklicherweise auch gefunden. @rongallo singt sanfte Protestlieder.
Später sitze ich am PC. Ich hätte so viel Dringendes zu tun, prokrastiniere aber (seit Tagen) und mache die unwichtigen Dinge zuerst, unter anderem beantworte ich Mails. Eine englische Mail, nicht ganz unwichtig immerhin, nimmt viel Zeit in Anspruch.
Mittagessen. Es gibt ein Schweinekotelett (geteilt), den Rest der gestrigen Kartoffeln zu Bratkartoffeln gebraten und dazu überbackener Fenchel.
Sieste. Das Prokrastinieren äußert sich dann spät abends in Panik und Einschlafstörungen, weshalb ich gestern um halb zwei Uhr morgens wieder aufgestanden bin, um noch etwas zu recherchieren. Habe insgesamt aber zu wenig geschlafen, deswegen schlafe ich während der Sieste lange.
Heute ist der Film “The last Showgirl” mit Pamela Anderson angelaufen, wir sind also in die Stadt gefahren; es war überraschend laut und lärmig und die Stadt voll mit schwarz gekleideten Herren (nur vereinzelt Damen), die sämtliche Bars und Restaurants bevölkerten und außerdem Boule spielten. Es ist Mipim in Cannes, der Marché International des Professionnels de l’immobilier, einer oder vielleicht der wichtigste internationale Immobilienkongress.
Eine Dame, vielleicht auf Suche nach Kontakt, führte mitten in der Stadt ihren Fashion-Hund aus.
“The last Showgirl”. Eine traurige Geschichte. Pamela Anderson spielt glaubwürdig und einfühlsam das alternde Showgirl Shelly, das in Las Vegas für eine Show nach dem Vorbild des französischen Moulin Rouge, mit viel nackter Haut, Strass, Pailletten und Federboas, alles gegeben hat. Nach dreißig Jahren ist die Show nicht mehr zeitgemäß, es kommen kaum noch Zuschauer und sie wird abgesetzt. Shelly muss sich damit auseinandersetzen, dass sie für andere Rollen in anderen Shows nicht mehr jung und sexy genug ist. Sie sucht den Kontakt zu ihrer Tochter. “War es das wert?” fragt diese, die in einer Pflegefamilie aufgewachsen ist, weil Shelly weiterhin in Las Vegas tanzen wollte, fassungslos, als sie die Show zum ersten Mal sieht. “Du hast diese geschmacklose Nacktshow unserem gemeinsamen Leben vorgezogen?”
Jamie Lee Curtis spielt Shellys Freundin Annette, eine ruppige, in die Jahre gekommene Kellnerin im Casino, der alte Männer noch Spielchips ins Dekolleté stecken, die aber auch schon mal früher nach Hause geschickt wird, weil jüngere Mädchen die Abendschicht übernehmen. “The last Showgirl” ist kein großer Film, zudem traurig und melancholisch, ich bereue es nicht, ihn gesehen zu haben, aber fröhlich macht er einen nicht. Pamela Anderson als Shelly hat mich am Ende zu Tränen gerührt.
Als wir aus dem Kino kommen, regnet es in Strömen, wir warten etwas, es siehr nicht so aus, als würde es bald aufhören, schließlich eilen wir durch den Regen zum Parkhaus. Davon gibt es kein Foto. Hier aber das Abendessen. Reste des Fenchels mit Reis.
Danke für Ihre Tipps, um die Doku über Pamela Anderson aus der Mediathek anzusehen! Ich werde erstmal auf Netflix “Pamela, a love story” ansehen. Dauert knapp zwei Stunden. Alles schaffe ich heute vermutlich nicht mehr.
So viel von heute und hier. Danke fürs Lesen und Schauen. Die anderen 12 von 12er finden Sie wie immer hier.
Es stürmt, es regnet und regnet, es ist ein furchtbar ungemütliches Wetter, brrr, ich mag nicht mal ins Hallenbad gehen, weil ich durch diesen nassen Sturm zum Auto laufen müsste und beim Zurückkommen dann wahrscheinlich keinen Parkplatz mehr in der Nähe finde. Bei diesem Wetter bleibt man lieber drinnen, trinkt heißen Tee, isst Schokolade und schaut Serien auf Netflix.
Dass Meghan, die Frau von Ex-Prinz Harry, eine Kochserie auf Netflix hat, habe ich zuerst durch eine Parodie auf Instagram erfahren. Ich habe mich darüber amüsiert, bin Meghan aber durchaus wohlgesonnen und wollte mir selbst ein Bild machen. Nach einer Woche voller katastrophaler Nachrichten aus den USA bin ich manchmal etwas nachrichtensatt und so habe ich mir heute Nachmittag, um etwas Leichtes zu konsumieren, Meghans Kochshow angesehen, zumindest die ersten drei Folgen. Hüstel. Sieht gut aus, sagen wir mal so. Ein Lifestyle-Magazin. Meghan wuselt blütenweiß gekleidet, ohne Schürze, mit offenen Haaren und mit viel edlem Goldschmuck am Arm ein wenig unsicher in dieser schicken Küche herum, die wohl nicht ihre ist, macht als erstes Badesalz für den ersten erwarteten Gast, einen Freund, ihren Visagisten, mit dem sie wie bei einem Kindergeburtstag auch noch Kerzen gießt, bevor sie ihn später mit One-Pot-Spaghetti bekocht. Der Gast bekommt als Willkommensgeste ein Tablett mit Blümchen, Badesalz und Knabbereien aufs Zimmer gestellt, darunter selbstgemachtes Trüffelpopcorn, von dem sie selbst erstaunt scheint, dass es in der Mikrowelle so leicht gelingt, aber der Höhepunkt des Live-Style-Happenings kommt, als sie eine Tüte Salzgebäck öffnet und etwas davon in ein neutrales Tütchen umfüllt, das mit einem stilvoll handgeschriebenen Etikett quasi zum “homemade” Salzgebäck aufgewertet wird. Toll.
Der Gast schneidet sich später beim Versuch, Cocktailtomaten zu halbieren, in den Finger, hat auch sonst nicht viel Ahnung vom Kochen und ist hingerissen von allem, was Meghan ihm anbietet. Natürlich backt sie nicht nur einfache Muffins oder einen kleinen Apfelkuchen für ihren Freund, sondern, obwohl sie, während sie die Mehlschüssel hin und her schubst, zugibt, keine besonders leidenschaftliche Bäckerin zu sein, eine dreistöckige Torte mit Marmeladenfüllung und Buttercreme und Himbeeren auf der Glasur. Der Gast hat alle möglichen Allergien, trotzdem bekommt er zum Kuchen einen Tee mit allerhand Gewürzen gebraut, unter anderem Ingwer und Chili. Da kribbelt sogar meine Haut vor dem Bildschirm. Am Ende sitzt man auf der Terrasse und hat den wohl echten Blick auf die Berge von Montecito, wo das Anwesen von Meghan und Harry in Kalifornien liegt. Wie die Berge heißen, weiß Meghan gerade noch, aber nicht, wie hoch sie sind.
Gut, im Vorspann steht sie tapfer neben einem Imker und kratzt Honig aus den Waben, sammelt wahllos reife und unreife Brombeeren im Garten, und man spürt, sie hat das alles noch nie vorher gemacht. Auch die Art, wie sie die Spaghetti anfasst oder die Zitronenschale abreibt, ist etwas unbeholfen, aber ich verteidige sie und sage: “Hallo, sie hat zuerst einen Freund eingeladen, einen asiatischstämmigen homosexuellen Visagisten und nicht irgendein weißes VIP-Girl aus der Oberschicht.” Auch der zweite Gast ist eine Freundin, eine schwarze Serienschauspielerin, die man hier nicht kennt. Und sie flippt fast aus, als ihr ein dreischichtiges Dessert aus Joghurt und Aprikosenmarmelade serviert wird. Oh mein Gott! Wie fantastisch ist das! Mit der Freundin wird spielerisch ein Kindergeburtstag vorbereitet, mit Marienkäfer- und Schmetterlings-Häppchen, ungeachtet der Tatsache, dass die Freundin etwas lustlos meint, dass sie für solche Anlässe immer jemanden engagiere. Nun gut.
Der dritte Gast, ein ihr bis dahin unbekannter Koch mit südkoreanischen Wurzeln, gibt ihr schon einen Tag vor dem Besuch etwas zu tun, nämlich Hähnchenteile in einer Zitronen-Milch-Bouillon einlegen und später blanchieren (“parboiled” ist der amerikanische Begriff und jetzt weiß ich endlich, was mit Uncle Bens Reis gemacht wurde! ), “blanchieren”, also etwas kurz in heißem Wasser oder Brühe garen, das habe sie noch nie gemacht, gibt sie zu, und die Hähnchenteile fasst sie auch nur mit spitzen Fingern an. “I parboiled it for you” sagt sie dem Koch am nächsten Tag, als sei es wirklich etwas ganz besonderes, wofür er ihr dankbar sein müsse. Aber der Koch ist nett, sehr natürlich, und er kann kochen, und Meghan hat immerhin gute Messer-Skills, sie schneidet schnell und richtig Zwiebeln und alles Mögliche, nach seinen Anweisungen, und da sie nur Ausführende ist, ist sie in dieser Episode erstmals locker und weitestgehend entspannt. Und während er aus jeweils zig Zutaten und Unmengen an scharfen Gewürzen drei verschiedene Soßen für die in Tempura fritierten Hähnchenteile zusammenrührt, sieht man zum ersten Mal, wie aufwendig richtiges Kochen ist. Übrigens sieht man nie jemanden das viele benutzte Geschirr abwaschen, aber das nur am Rande. Dafür lässt Meghan eine Flasche Champagner knallen, das könne sie ja schließlich, lacht sie, und der arme Koch, der noch sagt, er vertrage keinen Alkohol, muss mittrinken.
Schön, schön. Aber Meghans Gästeauswahl, die ich in den Trump-USA fast als Statement verstehen und feiern möchte, kam nur zustande, weil weder die Clooneys noch die Beckhams noch sonst irgendjemand Prominentes in ihrer Show auftreten wollte. Aha. Kritiker werfen ihr auch vor, Pamela Andersons Kochshow nachgemacht zu haben. Das muss ich googeln, und wenn Sie mir gesagt hätten, dass ich am Ende des Tages kein Meghan-Fan mehr bin, hingegen ein Pamela-Anderson-Fan, hätte ich Sie für verrückt erklärt.
Pamela Anderson, die Baywatch-Darstellerin aus den 90ern, mit der großen Oberweite im knappen Badeanzug, Sie erinnern sich vielleicht, sie war damals überall, auch wenn man nicht “Baywatch” gesehen hat, – ist mir neulich im Internet irgendwo* begegnet, im Abendkleid, aber völlig ungeschminkt und unfrisiert. Ihr Gesicht sah etwas leer aus, und die Haare etwas fusselig, fand ich auch, das ist man ja nicht gewohnt von Hollywood Stars, zumindest nicht, wenn sie im Abendkleid irgendwo erscheinen. Es gab natürlich gehässige und böse Kommentare, wie furchtbar sie aussehe und dass sie sich das “in dem Alter” nicht mehr leisten könne, und ich wollte jetzt wissen, warum sie so “nude” aussieht. Nun, es ist ganz einfach, als sie vor zwei Jahren zur “Paris Fashion Week” kam, hatte sie einfach keine Lust mehr, sich zu schminken. “So I’m just beeing me […] in all these great clothes running around in Paris, so I’m very lucky.”
Wow. Ohne Make up fühle sie sich frei und geradezu erleichtert, sagt sie und dass sie ohne die aufwändigen, mehrere Stunden dauernden, Schminksessions und Anproben erstmals Zeit habe, allein durch Paris zu laufen und die Stadt anzusehen, und wie sehr sie das genießt. Sie zieht sich für das Defilée selbst an, mit Vintage-Designer Klamotten und entscheidet sich letztlich für einen filzigen und wie ich finde zu großen Hut und Mantel, aber hey, sie ist glücklich und frei, und das wichtigste für sie ist “joyful” zu sein, da haben wir sie wieder, die Freude. Froh zu sein und dankbar und Frieden mit sich selbst gemacht zu haben, sei das Wichtigste, sagt sie noch. Ist vielleicht nichts Neues, aber dass eine Frau, deren Karriere auf ihrem Aussehen aufgebaut war und sie entsprechend auf ihr Äußeres reduziert wurde, diesen Hype nach ewiger Jugend und Schönheit nicht mehr mitmacht, sondern sich davon befreit hat, finde ich toll. Außerdem finde ich sie in diesem Interview total sympathisch.
Auch in ihrer Kochshow ist sie ungeschminkt und zudem ist sie ganz entspannt. Ich schaue mir also ihre Show an, oder zumindest die Schnipsel, die ich davon im Internet finde, alles, was ich sehe gefällt mir, denn erstens hat sie ein Haus in Kanada auf Vancouver Island (das Haus ihrer Großmutter), da ist nur Natur, und sie hat einen Gemüsegarten. Und offensichtlich versteht sie etwas vom Kochen, seit dreißig Jahren kocht sie vegan oder zumindest vegetarisch, ohne viel Aufhebens davon zu machen, Fleisch sei nie ihr Ding gewesen, sagt sie. Sie lädt Küchenchefs ein, mit ihr die einfache Gemüseküche “auf ein anderes Level” zu heben. Das mag ich. Natürlich ist es auch wunderschön inszeniert, aber man spürt, dass hier Menschen authentisch sind und auch wirklich gerne kochen.
Und wenn man den Trailer von Pamela “Pamela’s Cooking With Love”, der schon 2023 erschienen ist, mit dem von Meghan “With Love, Meghan” vergleicht, findet man so viele Ähnlichkeiten, bis hin zu dem Satz, sie wolle “etwas Einfaches auf ein anderes Level heben” dass es einem schon unangenehm wird. So viel zu kopieren, ist schon ein starkes Stück!
Und gerade wurde bekannt, dass Meghans Kochshow tatsächlich eine zweite Staffel bekommt, obwohl sie wohl die “unbeliebteste” Netflix-Serie aller Zeiten war. Eine zweite Staffel wünsche ich von ganzem Herzen auch Pamela Anderson!
*Jetzt weiß ich auch wieder, wo ich etwas von ihr gesehen habe: Es war bei der Vorstellung ihres neuen Films “The last Showgirl”, in dem sie ein Showgirl aus Las Vegas spielt, dessen Show nach 30 Jahren abgesetzt wird und das, inzwischen Mitte 50, versucht, weiter als Showgirl zu arbeiten. Der Film kommt am 12. März in Frankreich in die Kinos und Sie ahnen es schon, ich muss ihn sehen!
Bevor ich morgen wieder aufbreche, will ich kurz diesen Film mit Ihnen teilen, den wir heute angesehen haben:
À bicyclette. Zwei Freunde, Matthias und Philippe, ein Filmemacher und ein Schauspieler, plus ein namenloser Hund, machen eine Fahrradtour vom Atlantik bis ans Schwarze Meer und folgen den Spuren des Sohnes von Matthias, Youri, der dieselbe Tour fünf Jahre früher gemacht hatte. Als Straßenmusiker und Clown finanzierte er sein Leben, hatte ein wundervolles Lachen, und hat sich dennoch das Leben genommen.
Es ist ein Doku-Drama, eine wahre Geschichte, ein Fahrrad-Road-Movie, die beiden Freunde sind wirklich unterwegs, sprechen über den Sohn, den Tod, das Leben, ihre Freundschaft, sie streiten sich, finden sich wieder, lachen und weinen zusammen. Sie erleben komische Dinge, ich habe selten so laut gelacht, aber trotzdem war ich die meiste Zeit sehr gerührt und den Tränen nahe.
Wenn Cinécroisette diesen Film nicht angeboten hätte, hätte ich ihn wahrscheinlich nicht angesehen. Philippe Rebbot ist nicht gerade ein Schauspieler, den ich gerne sehe. In all seinen Rollen ist er irgendwie ein verkrachter Typ, trinkt viel, raucht ununterbrochen und ansehnlich finde ich ihn auch nicht. Heute habe ich verstanden, dass er immer nur sich selbst spielt. Er ist stets und ständig betrunken und raucht wie ein Schlot. Aber er ist in diesem Film seinem Freund ein echter Freund.
Und genau wie der Sohn Youri, der auf seinem Weg an Grundschulen Stopps einlegte, um Clownereien zu zeigen, haben auch die beiden Freunde kleine Clownereien und Magie einstudiert, die sie den Kindern vorspielen (und die ein bisschen an Siegfried und Joy erinnern, falls Sie die beiden kennen, ich habe Sie hier schonmal vorgestellt). Kurz vor ihrem ersten Auftritt in einer Turnhalle sagt Matthias beklommen: Je ne sais pas si jes suis triste ou joyeux. “Ich weiß nicht ob ich traurig oder froh bin.” Und Philippe antwortet ihm: Soyons joyeux. Si on a le choix, on fait le choix: soyons joyeux. “Lass uns froh sein. Wenn wir die Wahl haben, lass uns entscheiden, froh zu sein.”
Das hat mir gut gefallen, denn das ist das, was ich mit meinem Wort des Jahres “Freude” leben wollte, da wusste ich noch gar nicht, wie schwer es werden würde. Im Zweifel, lasst uns froh sein!
Die Orangenmarmelade, um das auch noch kurz zu erwähnen, ist etwas zu flüssig geworden, ich habe sie irgendwie nicht lange genug gekocht, es schien mir, sie gelierte schon, aber so richtig gelierte sie dann doch nicht. Aber der Geschmack ist gut. Das ist ja auch was. Ich bin froh, sie überhaupt gemacht zu haben.
“Wir werden die erste Generation sein, die eine Handyhalterung am Rollator haben wird”, lautet ein Witz, den ich kürzlich gelesen habe. Und jemand, der ganz ernsthaft darunter kommentiert, “Nein, gibt’s schon”. Ein anderer Witz, eine Karikatur in diesem Fall, die ich leider nicht mehr finde (die Suche danach im Internet hat mich zu Tripadvisor geführt, haha), zeigt einen pflegebedürftigen Senior in seinem Bett, der sagt “Aber EIN Migrant sollte noch einreisen dürfen!”
Die Pflegestationen einer Seniorenresidenz funktionieren nur, weil so viele Menschen mit Migrationshintergrund dort arbeiten. (In einem mir auf Instagram zugespielten Video des Seniorenheims der Arbeiterwohlfahrt in Passau kommen 25 von 32 Menschen, die dort in der Pflege arbeiten, ursprünglich nicht aus Deutschland!) Ich habe einen jungen algerischen Arzt kennengelernt, der als Pfleger und mit einem Pflegergehalt arbeitet, weil seine Arztausbildung in Deutschland nicht anerkannt wird. Ich habe einen fröhlichen Pfleger aus Kamerun kennengelernt, eine thailändische Pflegerin mit großem Lächeln und sanften Händen, einfühlsame türkischstämmige Krankenpflegerinnen, eine ruppige osteuropäische Kraft, um das auch zu sagen, und einige deutschstämmige Frauen und Männer. Zu wenig sind sie insgesamt für all die Bedürftigen, dies ist keine Beschwerde, nur eine Beobachtung. Und trotzdem sind alle freundlich und respektvoll und niemand von den mitunter anstrengenden Damen und Herren eines gewissen Alters wird ruhiggestellt. Ich könnte das nicht. Ich bin nach vier Wochen Dauereinsatz schon so erschöpft und unendlich dankbar für diese Pflegekräfte.
Wovon mein Herz voll ist, will ich hier nicht ausbreiten. Alles andere erscheint mir auf einmal banal. Bis auf die Weltlage, die mir so düster vorkommt, dass es mir das Herz zusammenkrampft. Für ein paar Tage bin ich zurück nach Frankreich gekommen, ausatmen, einatmen. Leider gibt es keine Sonne. Es regnet und ist grau bei Temperaturen, die nur unwesentlich über denen in Deutschland liegen. Am Donnerstag soll es sonnig werden, aber dann fliege ich schon wieder nach Deutschland.
Immerhin habe ich im Garten Bitterorangen geerntet und sie gestern mit Zitronen und süßen Orangen für die alljährliche Orangenmarmelade zerkleinert.
Orangenmarmelade will ich machen, auch wenn mich die orange Farbe gerade so sehr an die flammend orangeroten Haare der kleinen jüdischen Kinder erinnert, die man ermordet hat. Ariel und Kfir Bibas. Und ihre Mutter Shiri. Das alles treibt mir Tränen in die Augen.
Ob das Ergebnis der heutigen Wahlen mich noch mehr weinen lassen wird, werden wir sehen.
Es ist schon so viel passiert in diesem bereits so unerfreulichen Jahr und wir haben immer noch Januar. Verrückt. Privat auch nicht gerade fröhlich. Die Eltern werden alt und pflegebedürftig. Wahrscheinlich kennen Sie das, wir sind alle in der gleichen Generation, oder vielleicht haben Sie das auch schon erlebt, und wissen, wie sich das anfühlt. Man wird erst wirklich empathisch, wenn man selbst betroffen ist. Das wird hier kein Thema sein, nur indirekt, denn gerade wenn ich nicht schreibe, bin ich im ganz realen Leben unterwegs.
Unterwegs auch im wörtlichen Sinne. Zum ersten Mal fahre ich direkt vom Bergdorf zum Flughafen, mit dem einzigen Bus, der hier morgens um 7.25 Uhr im nächstgrößeren Dorf abfährt und in gut zwei Stunden Nizza erreicht. Wenigstens muss ich mich klimatisch nicht so umstellen, von den 17 Grad, die es an der Küste gerade hat, sind hier nicht einmal 7 spürbar. “Gefühlte 4 Grad” sagt die Wetter-App. Der Wind heult ums Haus, der Himmel sieht fahl und nach Schnee aus.
Es soll hier aber nicht zu trübe werden, ich schicke Ihnen ein paar Bilder von einem schönen Sonntag: Eine Freundin hatte mich in die Oper nach Nizza eingeladen, ich war in all den Jahren noch nie dort gewesen, es ist fast unbegreiflich, aber Monsieur ist alles andere als mélomane, im Gegenteil, er ist völlig unmusikalisch und klassische Musikveranstaltungen sind für ihn keine Freude.
Als wir in Nizza ankamen war es nass und grau.
Gleichzeitig fand entlang der Promenade ein Marathon statt, was uns die Anfahrt und das Parken etwas erschwerte, da die Innenstadt und die Promenade des Anglais weiträumig abgesperrt waren. Nizza hat aus dem Attentat vom 14. Juli 2016 gelernt und die Promenade in den letzten Jahren stark abgesichert, zusätzlich werden bei solchen Veranstaltungen aber auch Absperrgitter aufgestellt, aber natürlich reicht ein Gitter mit einem Durchfahrtsverbot-Schild nicht aus, überall stehen nun mehrere Reihen Absperrgitter, auch die LäuferInnen werden so geschützt, und an allen eventuellen Zufahrten und jeder Querstraße zur Promenade stehen zusätzlich Busse oder LKW quer.
Und eigentlich waren viel mehr Menschen unterwegs.
Ich habe es versäumt, die Oper von außen aufzunehmen. Nur den Künstlereingang habe ich dokumentiert.
Innen ist sie wunderbar altmodisch. Ich war ganz entzückt!
Es war eine Kindervorstellung, aber es waren auch Erwachsene ohne Kinder da, um “Bilder einer Ausstellung” von Modest Mussorgski zu hören, das habe ich in der Schule im Musikunterricht durchgenommen, ich war selbst erstaunt, wie viel ich davon noch im Gedächtnis hatte.
Das nächste Mal werden wir uns eine der kleinen Logen suchen. Ich habe von der verstorbenen Schwiegermutter ein Opernglas geerbt, das wird dann zum Einsatz kommen. Ganz schick.
Mir fiel auch die Version von Emerson, Lake und Palmer wieder ein. Ich erinnere mich sogar an das Cover der Langspielplatte, die ich einmal besessen habe. Aber ach, die Herren Emerson und Lake sind bereits verstorben, wie ich Wikipedia entnehme. So gehts …
Als wir wieder aus der Oper kamen, war der Himmel blau und wir spazierten noch ein wenig am Strand und an der Promenade entlang.
Das ist ein alter Blog, oder sagen wir mal, der Blog an sich ist irgendwie veraltet, so ein Boomer-Ding, nicht wahr, aber dieser hier war, als er vor 14 Jahren nach der Brigitte-Zeit neu gegründet wurde, als reiner Textblog gedacht, und ganz am Anfang gab es noch nicht mal Fotos, und später dann nur ganz kleine. Jetzt gibt es zwar große Fotos, aber es ist sehr kompliziert, selbst gemachte Videos hier einzubauen. Sonst hätte ich Ihnen natürlich auch Meeresrauschen mitgegeben, aber das geht – zumindest spielerisch einfach – nur in den anderen, teilweise fragwürdigen, Medien, in denen die jüngeren Generationen herumturnen.
Ich gebe Ihnen stattdessen noch Musik, das immerhin lässt sich problemlos machen. Lucky Man, erinnert mich an Klassenpartys in den späten Siebzigern, nachmittags in verdunkelten Klassenräumen …
Sie kennen die Überschrift: Zwölf Bilder vom Zwölften gibt es heute. Viele machen mit. Gesammelt wird das alles freundlicherweise von Caro vom Blog “Draußen nur Kännchen”.
Der Tag beginnt mit Wäschewaschen.
Erst dann gibts Kaffee.
Ich lese Zeitung im Handy. Überall geht es um Optimismus und Freude. Ich liege im Trend.
Der beinahe schon traditionelle Blick aus dem Fenster. Schön heute!
Später stehe ich für ein Baguette beim Bäcker Schlange.
Mittagessen oder Was vom Feste übrig blieb. Langustenschwänze. Erstmals und ein bisschen mit dem Mut der Verzweiflung gemacht. Leider etwas zu trocken geworden.
Nachmittags Spaziergang im Naturpark La Croix des Gardes. Blick aufs Meer.
Und: Die ersten Mimosen blühen!
Danach gehe ich schwimmen. Als ich rauskomme ist es schon dunkel.
Ich fahre direkt weiter zum Waschsalon: Die Wäsche von heute morgen wird im Waschsalon getrocknet.
Abendessen. Gemüse-Reis-Pfanne.
Fast Vollmond.
Ich werde früh zu Bett gehen, das Spazierengehen und Schwimmen haben mich müde gemacht. Bonne nuit! À bientôt!
Fröhliche Wünsche zum Jahresanfang aus dem Bonnardmuseum in Le Cannet
Die Freude kann einem vergehen, bei allem, was so los ist, ich sage nur Trump und Musk und Weidel – und wir sind erst am Tag 10 des neuen Jahres!
Marineland, der seit Jahren umstrittene Meeres-Themenpark in Antibes, der größte in Europa, in dem Orcas, Delphine, Seehunde und Seelöwen für jährlich zigtausende Besucher Spektakel aufführten, wurde geschlossen. Das ist vielleicht ein Grund zur Freude, dass man hier keine großen und sehr großen Tiere mehr in kleinen Becken gefangenhält und Pirouetten drehen lässt, aber was nun mit den Tieren geschehen soll, ist leider noch unklar. Es gibt wohl nur noch zwei in Gefangenschaft geborene Orcas – die draußen nicht überleben würden. Ein Verkauf nach Japan in einen ähnlichen Veranstaltungspark (in Japan hat man wohl noch eine andere Auffassung, was Tierhaltung angeht) wurde aufgrund des komplizierten und für die Tiere vermutlich traumatisierenden Transports wieder abgesagt. Die anderen derzeit etwa 4000 Tiere des Parks sind ebenso alle in Gefangenschaft geboren, auch sie haben draußen keine Überlebenschance. Was tun? Wo sollen sie hin? Wer kümmert sich? Wer ernährt sie? Wer wird es nach Abwicklung des Parks finanzieren? Man fürchtet, dass viele Tiere, die nicht an Zoos oder andere Parks “weitervermittelt” werden können (das eingesperrte Tierleben ginge also andernorts weiter), eingeschläfert werden sollen.
Jean-Marie Le Pen ist gestorben, das war für viele junge Menschen ein Grund zur Freude, sie haben auf den Plätzen großer Städte in Frankreich gefeiert, dass “der alte dreckige Rassist tot ist” (le sale raciste est mort), es wurde getanzt, gesungen, Champagnerkorken knallten und Feuerwerk wurde gezündet. Nicht alle haben für diese ausgelassene Freude Verständnis, ich selbst bin auch keine Anhängerin von großmäuligen Holocaustleugnern, aber befremdet haben mich diese Feiern auch.
Vor zehn Jahren fanden die Anschläge auf Charlie Hebdo und den Supermarkt Hyper-Cacher statt. Alle Medien berichten in dieser Woche darüber und es stellt sich die Frage, ob wir zehn Jahre später alle noch “Charlie” sind. Die satirische Wochenzeitung Charlie Hebdo (journal satirique, laique et jouyeux) gibt es immer noch, aber die Redakteure und Zeichner leben heute unter Polizeischutz und halten ihre Redaktionssitzungen an einem streng geheimen und mehrfach gesicherten Ort ab. Eine Karikatur eines der neuen Zeichner von Charlie Hebdo (“Juin”), die einen Redakteur zeigt, der seine “Freiheit” des Schreibens in einer Art Hochsicherheitsgefängnis ausübt, habe ich nur durch einen Screenshot einer Sendung gefunden: Charlie, un espace de liberté. Charlie, ein Raum der Freiheit.
Screenshot der Sendung “Charlie Hebdo. Peut-on encore tout dire?”
Es gab schon vor Jahren kontroverse Meinungen zum Thema “Meinungsfreiheit” und das, was die Satire “darf” auch unter meinen LeserInnen, ich möchte gar nicht erneut in diese Diskussion einsteigen, und verlinke heute nur die Zeichnung von einem meiner Lieblingszeichner Joans Sfar
(c) Joan Sfar
In der bereits erwähnten Sendung zu Charlie Hebdo in dieser Woche kam auch die Schwester des ermordeten Lehrers Samuel Paty zu Wort, sie bekam das letzte Wort der Sendung und sagte (frei übersetzt und gekürzt), der Terrorismus dürfe nicht das letzte Wort haben … die Schulen bräuchten die Unterstützung der Gesellschaft und müssten mit “Freude” weitermachen – Freude sei keine Schwäche, sondern eine Kraft und ein Mittel des Widerstands, und mit dieser Freude müsse man in den Schulen Projekte ermöglichen, mit denen die Werte der Republik vermittelt werden.
“On fini avec la joie” – wir enden mit der Freude, so Caroline Roux am Ende ihrer Sendung, von der ich nicht sicher bin, dass Sie sie über den Link abrufen können.
Wir bleiben im Thema, hüpfen aber in die alltägliche Freude, weil heute mein kleines “Freude”-Armbändchen ankam, das mich jeden Tag an meinen Jahresvorsatz erinnert.
Außerdem kam noch ein Nach-Weihnachts-Päckchen mit einem Buch und einer nach Orange duftenden Creme, die mir beinahe mehr Lust macht, sie zu essen, als sie im Gesicht zu verteilen. Große Freude! Herzlichen Dank!
Und: ich habe ein Freude-Glas angefangen! Jeden Tag habe ich es noch nicht geschafft, aber fast, etwas aufzuschreiben, was mir Freude bereitet hat, und den Zettel in das Glas zu stecken. Denn, seien wir realistisch, jeden Tag einen fröhlichen Text zu schreiben, schaffe ich nicht, und ich poste auch nicht jeden Tag ein fröhliches Foto auf einer Social-Media-Plattform, deren zukünftige Entwicklung ich ohnehin kritisch sehe.
Last, but not least, es war auch Dreikönigstag in dieser Woche, und ich habe die kleine Fève in meinem Stück der Galette des Rois gefunden, der in diesem Fall eine im Süden übliche Brioche mit kandierten Früchten war. Königin für einen Tag. Wenn das nichts ist.
La galette des Rois vor Winteranemonen in französischen Nationalfarben
Die lange Reihe üppiger Tage in Deutschland und in Frankreich, mit und in der Familie und mit viel Essen, in Frankreich potenziert sich das, wie Sie wissen, zu noch mehr Familie und noch mehr Essen, was auch bedeutet, dass ich wieder Berge von Lebensmitteln eingekauft habe und stundenlang in der Küche stand; der Druck, ein festliches Essen zu kochen, wenn auch nicht DAS große Weihnachtsessen, ist immer noch groß genug; endete dann gestern Abend, zumindest vorläufig (das Thema Essen ist nie zu Ende, aber das wissen Sie ja), mit dem Abschiedsessen für den angeheirateten Enkel, der heute zu einem sechsmonatigen Auslands-Studien-Aufenthalt nach Vietnam aufbricht.
So schön es ist, französisches Familienleben von innen zu kennen und daran teilzuhaben, so schön es ist, dass ich mich in diesen Situationen nicht mehr so exotisch und fremd fühle und, dass ich, wir wollen es nicht übertreiben, aber nach knapp fünfzehn Jahren fühlt es sich doch hin und wieder so an, dass ich vielleicht doch akzeptiert bin, so anstrengend ist es auch. Zumindest für mich. Mein hochsensibles Wesen verträgt die vielen und unterschiedlichen sozialen Kontakte in hoher Dosierung kaum, ich kann nicht abschalten, schlafe schlecht und bekomme Rückenschmerzen, die auch durch das Schwimmen nicht besser werden, sondern mir nur zusätzlichen Muskelkater bescheren. Und auch das stundenlange Sitzen am Tisch mit all den Schlemmereien, so köstlich alles ist, es ist anstrengend, auch wenn ich es in der Zwischenzeit schaffe, mir keine Leberkrise mehr anzufressen, was aber auch damit zu tun haben kann, dass ich die ersten Festtage in Deutschland verbracht habe, und mich erst am 27. in den französischen reveillon-Rhythmus eingefunden habe.
So tauche ich heute endlich wieder auf, atme tief durch und rufe: Freude!
Mehr und viel Freude will ich haben in diesem Jahr!
2024 war so ein schweres Jahr. Privat voller Sorgen und Tristesse und die Weltlage so ein Alptraum. Aber mit meinem Wort des Jahres “Heiterkeit” bin ich im letzten Jahr gut gefahren, Heiterkeit hat mich davor bewahrt, in Schwermut, Depression und lähmende Angst zu verfallen. Im Zweifelsfall Heiterkeit, dachte ich. Im Zweifel die heitere Seite sehen! Die Heiterkeit war wie ein sanftes Bollwerk gegen die drohende Finsternis aus Mordor.
Damit das Jahr 2025 deutlich lebendiger, leichter und heller wird, lade ich die Freude ein. “Freude” als Wort des Jahres erschien mir lange unverschämt, frech, groß und unmöglich. Ich bin doch kein Mensch, der FREUDE leben kann. Und das in dieser Zeit! Ich bitte Sie! Aber gerade in dieser Zeit, denke ich, braucht es gelebte Freude. Ich brauche Freude. Das heißt jetzt nicht, dass ich hier jeden Tag Karneval feiere, es geht auch nicht um etwas Überbordendes, keine immerwährende Euphorie, aber ich möchte in diesem Jahr mehr Freude spüren. Ich will mehr lachen, singen, freudig sein und eine sehr reale Freude in den Alltag integrieren. Sagen wir, ich will Freude spüren, wenn ich Karotten schäle, und dankbar sein, dass ich Karotten habe!
Ich habe mir selbst einen Abreißkalender geschenkt, der 365 Tage realistische Achtsamkeit verspricht, damit 2025 “halbwegs” gut wird. Und ich will mir bewusst jeden Tag etwas suchen, das mich freut oder mir Freude bereitet, mich zum Lachen bringt oder mich amüsiert. Am heutigen eher grau-kalten Tag ist es der knallrote Lippenstift. Im Zweifel Freude!
Ich habe unter anderem hier zur Freude nachgelesen und diese Passage aus “dem Buch”Eine neue Welt” von Eckart Tolle gefunden
„Wenn du statt Vergangenheit und Zukunft den gegenwärtigen Augenblick in den Mittelpunkt deines Lebens stellst, nimmt deine Fähigkeit, Freude zu haben an dem, was du tust – und damit deine Lebensqualität – drastisch zu. Freude ist der dynamische Aspekt des Seins. Sobald sich die schöpferische Kraft des Universums ihrer selbst bewusst wird, manifestiert sie sich als Freude. Du brauchst nicht abzuwarten, dass etwas »Sinnvolles« in deinem Leben geschieht, um endlich Freude an dem haben zu können, was du tust. In der Freude ist mehr Sinn, als du je brauchst. Das Warten darauf, dass »das Leben endlich anfängt«, ist ein allgemeines Syndrom und eine der häufigsten, durch Unbewusstheit hervorgerufenen Wahnvorstellungen. Erweiterung und positive Veränderungen auf der äußeren Ebene erlebst du viel eher, wenn du schon jetzt Freude empfindest bei dem, was du tust, statt auf irgendeine Veränderung zu warten, durch die du dich an deinem Tun erfreuen kannst. Bitte nicht deinen Verstand um Erlaubnis, dich freuen zu dürfen an dem, was du tust. In diesem Fall wirst du bloß jede Menge Gründe hören, warum es dir keine Freude machen wird. »Nicht jetzt«, wird der Verstand sagen. »Siehst du nicht, dass ich beschäftigt bin? Die Zeit reicht nicht. Vielleicht kannst du morgen anfangen, dich zu freuen …« Dieses Morgen kommt aber nie, es sei denn, du fängst jetzt an, dich an dem zu erfreuen, was du tust.“
Und bei Dota, die Mascha Kaleko singt, spürt man sie doll, die Freude!
Ein frohes, helles und leichtes neues Jahr wünsche ich Ihnen und uns allen! Danke für Ihre Wünsche, die mich in Form von Briefpost und Mails, auf Facebook, Instagram und in den Kommentaren erreichten! Ich kann Ihnen nicht allen und nicht in allen Medien antworten, aber ich habe alles gesehen und gelesen und mich über jeden einzelnen Gruß sehr gefreut! Danke für Ihre Treue!