
Ein Missverständnis hat dazu geführt, dass mir die Fahne eines Buches zugeschickt wurde, das gerade bei Kiepenheuer & Witsch erschienen ist: Die Geschichte der Schauspielerin Maria Schneider, geschrieben von ihrer jüngeren Cousine, der Journalistin Vanessa Schneider, übersetzt von Grit Weirauch. Der Zufall will, dass mich das Thema sehr interessiert, und doch ist es unbemerkt an mir vorbeigegangen, als das Buch in Frankreich erschien, immerhin schon 2018, genauso wie der Film, den Jessica Palud nach dem Buch gedreht hat und der letztes Jahr bei den Filmfestspielen in Cannes gezeigt wurde. Man kann also in Cannes leben und trotzdem einiges verpassen, dafür schäme ich mich ein bisschen, stürze mich jetzt aber mit umso größerem Interesse auf die deutsche Übersetzung. Auch wenn die Namen deutsch klingen, ist es eine sehr französische Geschichte. Maria Schneider kannte ich nicht, auch nicht den Film “Der letzte Tango in Paris”, in dem sie in den Siebzigern mit Marlon Brando spielte. Nie gesehen, nie gehört, nichts von der sexuellen Verruchtheit dieses Films drang zu mir durch. Gut, ich war 1972 ein braves Grundschulkind, die Eltern gut katholisch, Filme dieser Art wurden bei uns nicht einmal erwähnt. Aber auch später kreuzte dieser Film nicht meinen Weg.
Maria Schneider ist neunzehn, nach damaligem Recht noch nicht volljährig, als sie ihren ersten Film dreht. Es ist ein Erotikfilm, und sie steht gleich zwei Filmgiganten gegenüber: Bernardo Bertolucci, dem aufstrebenden Regisseur, und Marlon Brando, der ihren Partner spielt. Bertolucci ist Anfang dreißig, Brando immerhin schon 48. Mit ihm hat Maria mehrere Sexszenen in einer leeren Wohnung in Paris. Bertolucci will dem Film noch etwas mehr Pep geben und bespricht kurzerhand mit Brando, dass es eine inszenierte, heftige Analsexszene geben soll, von der die junge Maria allerdings nichts weiß. Sie ist völlig überrumpelt, als Marlon Brando ihr die Jeans herunterzieht, ihr Butter als Gleitmittel verabreicht und sich auf sie wirft. Sie ist schockiert, wehrt sich wie bei einer echten Vergewaltigung, schreit, heult und ist außer sich. Genau das wollte Bertolucci sehen und filmen und ist mit dem Ergebnis sehr zufrieden. Aber Maria fühlt sich gedemütigt und betrogen, ja sogar doppelt vergewaltigt von diesen Männern, die das hinter ihrem Rücken eingefädelt haben, und sie wird diese Szene nie verwinden. Sie spricht darüber, aber man hört sie nicht, die Siebziger sind sexuell freizügig, was soll’s, immerhin hat sie ihren ersten Film gedreht und dann gleich mit Marlon Brando, ist das nichts? Der Film ist ein Skandal, vor allem wegen dieser Szene, er wird in Italien und Spanien verboten, in Italien wird Maria in Abwesenheit zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Sie hat niemanden, der sie vor den Blicken und Kommentaren der anderen schützt oder ihr im Umgang mit der Presse hilft. Um sich zu rächen, lästert sie über Brando, macht alles kaputt, auch ihre zukünftige Karriere, aber was ist das schon für eine Karriere, wenn man ihr nur Filme anbietet, in denen sie nackt sein muss. “Angezogen interessiere ich niemanden”.
Um den Film und die widerliche Szene zu vergessen, stürzt sie sich ins Nachtleben, feiert, trinkt, Drogen kommen dazu, bald spritzt sie sich Heroin, aber sie entkommt dem Film und der Szene nicht, alle anderen führen sie ihr immer wieder vor Augen, etwa wenn ihr im Flugzeug mit einem anzüglichen Lächeln ein Päckchen Butter angeboten wird (ein Butterhersteller wirbt sogar mit ihrem Foto), und dass Journalisten und Journalistinnen sie auch nach dem Dreh anderer Filme immer wieder dazu interviewen wollen. Auch in einem späten Interview, das ich mir im Zuge der Recherche angesehen habe, wird sie von einer gestandenen Journalistin in heiterem Ton, fast lachend gefragt, warum sie Jahrzehnte später immer noch so unter dieser Szene leide, “das war doch nur eine gespielte Vergewaltigung, oder?”. Der abweisende Gesichtsausdruck Marias spricht Bände, aber die Journalistin verfügt über keinerlei Empathie. Erst über zehn Jahre später, 2017, wird man öffentlich über sexuellen Missbrauch (nicht nur) in der Filmindustrie sprechen, den Beginn der #meetoo-Bewegung hat Maria Schneider jedoch nicht mehr erlebt.
Ich habe das Buch von Vanessa Schneider in der deutschen Übersetzung von Grit Weirauch in einem Rutsch durchgelesen, was erwähnenswert ist, weil ich seit Monaten kaum noch etwas lese und schon gar nicht in einem Rutsch. Nur an zwei winzigen Stellen bin ich in der Übersetzung hängen geblieben, ich hätte nicht “das” Mousse auch Chocolat gesagt, sondern “die” und später liegt Maria mit ” Anziehsachen” am Strand, sagt man das heute so? Vielleicht hätte ich “Klamotten” geschrieben oder vielleicht, dass sie “angezogen” war. Ansonsten gefällt mir der Ton, den Vanessa Schneider anschlägt (und den Grit Weirauch perfekt übersetzt), eine liebevolle, fast zärtliche Hommage an die ältere Cousine, die sie verehrt und deren Verlorenheit sie schon als Kind spürt; Die Mutter wirft Maria mit 15 aus dem Haus, sie findet Unterschlupf bei der Familie eines Onkels, Vanessas Eltern, erst mit 16 lernt sie ihren leiblichen Vater kennen, Daniel Gélin, einen charismatischen Schauspieler, der seine frisch entdeckte Tochter sofort ins Nachtleben einführt, sie wie seine neueste Eroberung herumführt und auch mit der Filmwelt in Kontakt bringt, – aber es ist auch eine sehr französische Familiengeschichte, die uns mitten in die siebziger Jahre katapultiert. Vanessa Schneider erinnert sich an die Begegnungen mit Maria, aber auch an ihre eigene Familiengeschichte, die über mehrere Generationen dysfunktional ist, an die Hippie-Welt, in der sie aufwächst, in der ihr Vater mit anderen Linken die Revolution vorbereitet und weint, als Mao 1976 stirbt.
Maria hat ein wildes Leben, sie lebt ein paar Jahre in Los Angeles, lernt dort Pattie Smith kennen und Bob Dylan lieben, beide haben wohl Songs über sie geschrieben, Maria wirft ihr Geld mit beiden Händen zum Fenster raus und hat am Ende nichts mehr. Ihre Karriere ist zu Ende. Die Drogen haben ihre Schönheit und ihre Gesundheit zerstört, sie stirbt 2011 mit 58 Jahren, fast mittellos. Bei ihrer Beerdigung sitzt Alain Delon in der ersten Reihe und liest einen Brief von Brigitte Bardot vor, die Maria lange Jahre mit einer Art mütterlicher Liebe, Champagner und Lebensmittelpaketen versorgt hat. “Das ist doch normal”, antwortet Brigitte Bardot, als Vanessa Schneider sich dafür bei ihr bedankt.
“Ich hatte ein schönes Leben” sagt Maria, kurz bevor sie stirbt. Es ist der erste Satz in Vanessa Schneiders Buch.
“Du hast das nicht gesagt, um uns eine Freude zu machen oder dich selbst davon zu überzeugen, das war nicht deine Art. Du hast es anscheinend tief im Inneren empfunden. So lange hatte ich dich aus Gewohnheit bemitleidet, mir Sorgen gemacht um dich, mich in dein Unglück, das zu unserem geworden war, hineinziehen lassen. Du aber hast daran geglaubt. »Ich hatte ein schönes Leben.«
Und es tut gut, dass du die Dinge so gesehen hast.”
Das friedliche Ende, das gleich zu Beginn den Ton angibt, tut der Leserin gut, die vor allem das Drogenelend kaum ertragen kann. Und die wütend ist auf die Männer, die ein junges Mädchen, das ihnen als leichtes Opfer erscheint, bewusst manipulieren und für ihre sexuellen Fantasien missbrauchen. Vanessa Schneider ist es gelungen, die tragische Geschichte ihrer Cousine sehr liebevoll und einfühlsam zu erzählen und sie geschickt mit ihren Erinnerungen an ihre eigene Kindheit und Familie zu verweben.
Den Film “Maria” von Jessica Palud habe ich mir auch angesehen. Er konzentriert sich (wie der Titel verheißt) allein auf Marias Geschichte, und ich hätte ihn mir vielleicht nicht so unmittelbar nach der Lektüre des Buches ansehen sollen, in dessen Stimmung ich noch gefangen war. Und, note to myself, grundsätzlich sollte ich mir das nicht spät abends antun, es dauerte die halbe Nacht, bis ich mich davon wieder so weit distanziert hatte, dass ich schlafen konnte.
In den letzten Jahren haben auch Vanessa Springora in ihrem Buch “Le consentement” (das später verfilmt wurde) und Judith Godrèche in der Serie “Icon du French Cinema” über ihre Missbrauchserfahrungen mit einem deutlich älteren Mann berichtet. Vanessa Springora war dreizehn, als der Schriftsteller Gabriel Matzneff, damals fünfzig, eine “Beziehung” mit ihr begann und über seine sexuellen Erfahrungen mit ihr ein Buch veröffentlichte, das damals von allen (nicht nur von den Männern) in den literarischen Feuilletons gefeiert wurde; die einzige Frau, die es damals wagte, öffentlich zu sagen, dass es sich um Missbrauch handelte, wurde als “reaktionär” und “schlecht gevögelt” beschimpft. Judith Godrèche ist fünfzehn, als sie ihren ersten Film mit dem 25 Jahre älteren Regisseur Benoit Jacqout dreht. Sie wird seine langjährige Geliebte.
In den siebziger Jahren hieß das alles “sexuelle Befreiung”. “Es war eine andere Zeit”, heißt es immer. Ja, es war sicher eine andere Zeit, auch Gérard Dépardieu, der hier gerade wegen Vergewaltigung und sexueller Belästigung bei Dreharbeiten zu einem Film von 2021 angeklagt ist und alles abstreitet, versteht wohl die Welt nicht mehr. In dem Film “Les Valseuses” von Betrand Blier aus dem Jahr 1974 (dt. “Die Ausgebufften”) durfte er all das noch ungestraft und vor laufender Kamera ausleben. Dass dieser “Kultfilm” über zwei Kleinganoven, die sich mit Klauen, Saufen und Ficken durchschlagen und dabei eine Menge Spaß haben, schon damals zumindest für Frauen nicht wirklich amüsant war, zeigt die heutige Reaktion von Brigitte Fossey, die in dem Film eine junge Mutter spielt, die im Zug von den beiden Ganoven sexuell belästigt wird. Sie kann sich die Szene nicht mehr ansehen, “horrible” findet sie sie noch heute, fünfzig Jahre später. Interessant ist, dass ihr Vater ihr vorwarf, in dieser Szene ein abwertendes Frauenbild zu vermitteln, anstatt sich über die sexuell aggressiven Männer zu ärgern.
“Überrascht” von all den #meetoo-Vorwürfen und vor allem nachdem Judith Godrèche letztes Jahr die beiden Filmemacher Benoît Jacquot und Jacques Doillon der Vergewaltigung Minderjähriger beschuldigte und in einer langen Anhörung unter anderem sagte: “Die Filmfamilie, in der man gemeinsam ein künstlerisches Projekt schafft, ist eine inzestuöse Familie”, wurde eine Untersuchungskommission über Gewalttaten in der Film-, Theater-, Kunst-, Mode- und Werbebranche eingesetzt, die nach der Anhörung von über 350 Personen aus der Film- und Fernsehbranche den ersten Band ihres mehrere hundert Seiten umfassenden Berichts veröffentlicht hat. „Moralische, sexistische und sexuelle Gewalt in der Kulturwelt ist systemisch, endemisch und hartnäckig“, lautet eine der Feststellungen von Sandrine Rousseau, der Vorsitzenden der Untersuchungskommission. Es werden Empfehlungen gegeben, wie Frauen und vor allem Minderjährige in Zukunft geschützt werden können. Ich empfehle: wachsam bleiben, hinsehen und immer wieder darüber sprechen. Und “Die Geschichte der Maria Schneider” lesen.