Winter

Heute ist ein wunderbarer Tag, denn ich habe spontan den Rest des Tages frei bekommen, um meine Wochenendschicht abzufeiern, denn es schneit heute nicht, sondern voraussichtlich erst heute Nacht, das Glatteis heute morgen war weniger schlimm als erwartet, Nachbarn fahren nach Nizza, und bringen die benötigten Ersatzteile für die Schneefräse mit (ich muss also nicht runter fahren), die Sonne scheint…

…und ich habe Internet bei mir zu Hause! Seit gestern Abend! Was für ein Luxus! Ich habe nur knapp vier Wochen darauf gewartet, nur drei Hotline-Anrufe und zwei Techniker Besuche dafür gebraucht. Und entgegen der Aussage des Technikers funktioniert es nun doch auch mit meinem ältlichen PC sans fil, also kabellos, so dass ich nicht auf dem Boden sitzend zwischen Eingangs- und Badezimmertür eingestöpselt sein muss. Und ich muss jetzt auch nicht mehr abends raus und durch den Schnee zur mairie stapfen, um dann dort im kalten Büro bibbernd zu tippen oder schlimmstenfalls festzustellen, dass das Internet schon wieder nicht geht. Genial! Ich sitze jetzt also in einem Eckchen meines Wohnzimmers, den halb kaputten Drucker aus Platzmangel an den Füßen (die Katzen haben bei einer Balgerei die Scannerplatte zertrümmert), es ist nicht so richtig warm, denn meine Wohnung hat nur Außenwände, und unter mir ist der ungeheizte Festsaal. Ich habe zwei strategisch ungeschickt angebrachte altersschwache Elektroheizkörper in der Wohnung und nein, keinen Kaminofen, sondern einen von einer fürsorglichen Freundin eines Tages angeschleppten kleinen tragbaren Ölofen „den wirst du brauchen“ sagte sie, aber erst mal wollte ich ihn nicht, weil er ungesund stinkt und auch ungesund ist. Ich habe dienstlich schon zwei Plakate aufgehängt, die vor Kohlenmonoxydvergiftung warnen, wenn man mit diesem in Frankreich weit verbreiteten Öfchen heizt. Also sollte man immer mal lüften, und vor allem beim Anzünden und wichtiger noch beim Ausschalten lange die Fenster auflassen, was die mühsam erworbenen Wärme gleich wieder zum Fenster entfleuchen lässt. Ich wollte dieses Stinkding erst nicht haben, aber angesichts der Innentemperatur und der Stromnachzahlung, die ich bis einschließlich Dezember schon hatte, habe ich doch angefangen mit ihm dazu zu heizen. Und es heizt prima und schnell das Öfchen, fast wie ein Feuerchen, und ich trinke meinen ersten Kaffee morgens immer zusammengekauert davor. An den Ölgeruch gewöhnt man sich irgendwie. Ich kaufe extra schon immer parfümiertes Heizöl, dass als „geruchsfrei“ verkauft wird, und ich muss dafür eine Dreiviertelstunde zu einer bestimmten Tankstelle fahren. Das muss ich heute noch tun und gleichzeitig Vorrat einkaufen, denn wer weiß, wann ich das nächste Mal Zeit dafür habe und wann die Straße das nächste mal so schön frei ist? Für zehn, vierzehn Tage sollte man immer autark sein mit einem gut gefüllten Kühlschrank, Gefrierschrank und allem Notwendigen wie Gasflaschen, Heizöl, Taschenlampenbatterien etc.

So, ich bin vom Einkauf zurück und gerade habe ich die Live-Box wieder neu initialisiert, denn der Techniker hatte doch nicht so Unrecht, mein PC leidet an Amnesie und findet alle Naselang die Peripherie, sprich den Kontakt zum Internet via Live-Box nicht mehr. Das trübt ein bisschen die Euphorie von heute früh.

Ich habe mir heute ein Innen- und ein Außenthermometer gekauft, für mich zwei bislang absolut überflüssige und gern als spießig eingestufte Dinge, aber ich wollte mal realistisch wissen, wie warm es bei mir ist, wenn ich abends nach einem draußen verbrachten Tag drinnen nicht mehr so richtig warm werde. Und das Außenthermometer kann mir beim ersten Blick aus dem Fenster Klarheit über den Glatteisfaktor und meine Arbeitsbedingungen geben. Und ich kann endlich wie alle sagen, wie kalt es vor meinem Fenster ist. Das gehört hier mit zur Morgenbegrüßung: Wie geht’s? Kalt! Minus sieben heute morgen! Ha! Bei mir minus acht! Um sechs Uhr warens noch minus elf! Undsoweiter. Es gibt Leute, die haben ein Thermometer, das zusätzlich die tiefste Nachttemperatur anzeigt, das ist für Gärtner und Landwirte wichtig, aber auch Nichtlandwirte finden das hier spannend.
Ich jetzt also auch. Ich kann manchmal nämlich überhaupt nicht mehr einschätzen wie kalt es ist, ich kann nur sagen, wenn nur das Kinn eingefroren ist und man leichte Probleme beim Sprechen hat, geht’s noch, aber kleben die Härchen in der Nase zusammen, ist es schon ziemlich kalt.
Schneemäßig siehts hier aus wie letztes Jahr: immer wieder so fünfzig bis sechzig Zentimeter, zur Zeit ein bisschen zusammengesackt und überall große Haufen zusammengeschobenen oder geschaufelten Schnees. Dazwischen kleine von der Schneefräse eingegrabene Wege. Ich bin ja die Schneeräumungsbeauftragte, offiziell natürlich nur, denn inoffiziell hab ich hier gar nix zu sagen. Meine zwei älteren Nachbarn sind hier ganz klar die Dorfchefs. Einer ist zudem noch ein bisschen mehr Chef als der andere. Und langsam weiß ich wies geht, sie haben mich nämlich auf ihre Art gebrieft, sprich oft genug angemault und angebrüllt, wenn ich ihrer Ansicht was nicht richtig mache. Das war und ist ziemlich oft der Fall. Gern gerate ich auch zwischen ihre Fronten, wenn einer sagt, „du müsstest mal ein bisschen das Eis auf dem Platz weghauen“, sagt der andere beim Vorübergehen, wenn ich gerade schön den Spaten ins Eis haue „so ein Quatsch, es schneit doch gleich wieder drauf, mach doch was Sinnvolles, du müsstest dringender den Weg zum Friedhof freischaufeln“. Einer von beiden ist auf jeden Fall immer unzufrieden. Die Schneefräse krieg ich nur im Ausnahmefall, wenn es unwichtig ist, etwa. Zum Beseitigen von großen Schneemengen oder vom Dach gefallenen Lawinen bin ich (in der Zwischenzeit fast erleichtert) nicht zuständig. Ich kanns ja eh nicht recht machen. Ich muss aber auf jeden Fall vor ihnen am Platz sein, die Schneefräse schon angeworfen haben, alibimäßig ein Stück Weg gefräst haben und dann gebe ich sie ab und lass die Männer machen, ich schaufele dann irgendwo die Treppen frei. Bis wieder irgendwer nach mir brüllt.
Aber auch so ist es genug körperliche Arbeit, schubkarrenweise Schotter durchs Dorf schieben und aufs Glatteis werfen, Schnee schaufeln, schrubben, kehren, kratzen und hacken- so ein kleines Dorf hat erstaunlich viele Wege, die sauber bzw. begehbar gehalten werden müssen. Der Schnee an sich ist eine Sache, taut er tagsüber in der Sonne auf, fließt es danach in Strömen von Dächern und aus lecken Regenrinnen um nachts spiegelglatt zu werden. Schneelawinen rutschen feucht und schwer von den Dächern und ein Blick nach oben ist immer mindestens so wichtig wie einer auf den Weg. Die Lawinen sind fast nicht mehr wegzukriegen, insbesondere wenn sie noch eine Nacht tiefgefroren auf der Erde rumliegen. Hart wie Beton. Meine beiden Dorfchefs haben am Samstag die Tür eines nur gelegentlich hier lebenden Dorfbewohners mit der Schneefräse zugeblasen, aus lauter Ärger über die gewaltigen Dachlawinen, die von seinem Dach rutschen und den Dorfzugang immer wieder zuschütten. Die nur im Sommer hier wohnenden Bewohner sehen die Investition von Schneerückhaltesystemen auf ihren Dächern nicht unbedingt ein. Wer so verrückt ist und das ganze Jahr hier leben will, muss mit Unannehmlichkeiten rechnen, kriegt man hier zu hören. Oder „nicht schlimm, wenn was passiert, ich bin gut versichert“. Kaum sind alle Wege halbwegs sauber, schneit es wieder und das Spiel geht von vorne los.

Eine andere Variante von Unannehmlichkeiten im Winter sind eingefrorene Wasserleitungen. Hier lässt man oft ein kleines Rinnsal aus dem Wasserhahn laufen, damit die langen oft außen liegenden Leitungen oder Wasserschläuche nicht einfrieren. Ist erst mal alles eingefroren, dann kann man nur bis zum Frühjahr warten, oder auf ein paar mildere Tage hoffen. Und in der Zwischenzeit mit Kanistern Wasser von irgendwoher schleppen. Eine Frau auf einem abgelegenen Hof hat dieses Problem seit dreißig Jahren. Mir persönlich ist es ein Rätsel, wie man das Winter für Winter erleben kann, ohne weder von ihrer noch von Gemeindeseite auf sinnvolle Abhilfe zu sinnen. Sie bekommt das Wasser von einer Quelle über ein oberirdisch verlegtes Schlauchsystem zugeleitet. Und da sie aus mir sich nicht erschließenden Gründen, das Wasser bei sich nicht regelmäßig laufen lässt, friert das stehende Wasser in den Schläuchen ein. Alle fünf, zehn, zwanzig Meter sind die Schläuche mit Verbindungsstücken aneinandergeschraubt. Und das über etwa drei Kilometer Länge, aufgehängt an Steilhängen, liegend durch Gebüsch, Geröll, Wald und Wiesen. Ahnt ihr was? Es gehört zu meinen Aufgaben, mich da entlang zu hangeln und die Verbindungen der Schläuche aufzudrehen, zu versuchen die Schläuche mit einem kleinen Gasbrenner zu erwärmen und das gefrorene Wasser in Form von hübschen länglichen Eiswürfeln irgendwie aus den Schläuchen zu schütteln, um sie danach wieder zu verbinden und zwar mit jetzt kräftig fließendem Wasser. Sehr schöne Aufgabe im Winter mit eiskaltem Wasser an Steilhängen zu hantieren. Ich mache das nicht alleine, sonst hätte ich den Job schon hingeschmissen. Mit einem Mann mindestens bin ich jedes Mal einen ganzen Tag lang unterwegs. Jedes Mal? Ja, schon das zweite Mal in dieser Saison. Es ist eine unglaubliche Plackerei, ich bin dabei schon dreimal den Abhang abgestürzt, hatte aufgeschürfte, vom Schnee und Wasser abgefrorene Hände, die zum Heulen wehtun, wenn sie wieder auftauen. Schlimmeres ist bislang nicht passiert, aber ich fluche und schimpfe jedes Mal und frage mich, was um Himmels Willen mich geritten hat, diesen Job machen zu wollen. Dieses Mal haben wirs nicht bis zum Ende geschafft. Der Hof lag schon in Sichtweite, aber ein langes Schlauchstück wollte sich ums Verrecken zwei Stunden lang nicht auftauen lassen. Es wurde dunkel, es fing an zu schneien, wir mussten es aufgeben und stapften aufgeweicht in der Kälte bergauf wieder nach Hause.

Abends bin ich zur Zeit nur noch müde. Ich habe Muskelkater und schwielige Hände. Ich friere den ganzen Tag draußen nicht, aber drinnen werd ich kaum mehr richtig warm. Ich hätte so gern eine Sauna oder wenigstens eine Badewanne!
Ach so, schön ist es natürlich auch, ganz klar, die Kinder juchzen beim Schlitten fahren und lutschen Eiszapfen und heute auf dem Weg zum Einkauf musste ich durch mehrere enge Tunnel fahren, in denen superschöne Eiszapfenkunstwerke hingen. Aber ich gebe zu, ich wünsche mir, wie das täglich grüßende Murmeltier, einen frühen Frühling!

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