We can do it

Wo anfangen? Nein, es ist doch noch nicht richtig Sommer geworden, zumindest nicht in den Bergen, wo wir gerade sind. Hier ist es heute eher herbstlich und ausgesprochen nass.

20. Juni 2024

Nass war auch das Haus, als wir ankamen. So nass, dass die Eingangstür verquollen und nur mit einem beherzten Fußtritt aufzustemmen war. Schon wieder ein Wasserschaden. Ambiente wie in einem Dampfbad und Schimmel an den Wänden. Wären wir ein paar Tage später gekommen, wäre vermutlich die ganze Etage durchgeschimmelt gewesen. So hält sich zumindest der zu beziffernde Schaden in Grenzen. Ich war trotzdem außer mir.

Der Regen lässt alles wachsen, auch sehr viel Löwenzahn, Klee, Spitz- und Breitwegerich, Disteln und Schafgarbe und allerhand Gräser, die ich bereits zum zweiten Mal in diesem Jahr in einer mehrtägigen Aktion aus der rustikalen und völlig überwucherten Kieszufahrt (nein, wir haben kein Schloss!) gehackt habe. Ich kann fast sehen, wie der Kies schon wieder grünlich wird und verstehe zum ersten Mal, dass die alten Leute hier “un petit produit” nehmen (einen bösen “Un”-krautvernichter), damit es ein für allemal “propre”, sauber ist, denn das wollen sie hier gern haben. Man lebt mitten in der Natur, aber sie soll bitte nicht überall sein. Nicht im Innenhof, nicht zwischen den Fugen, nicht an der Mauer, nicht auf den Gehwegen, nicht hier und nicht da. Ich möchte meinen rustikalen Kiesplatz auch gerne Löwenzahnfrei haben und Gräserfrei, und ich möchte das alles vielleicht einmal in der Saison von Hand und mit der Hacke jäten, aber dann hätte ich es auch gerne für den Rest des Jahres propre. Man hat ja nicht nur das zu tun, nicht wahr. Falls Sie etwas wissen, was funktioniert, gleichzeitig Bienen- und Schmetterlinge aus den benachbarten Heckenrosen nicht irritiert, nehme ich gerne Hinweise entgegen. Abflammen funktioniert nicht auf dem Kies, und so viel heißes Wasser, wie gebraucht würde, um die stets wiederkehrenden Löwenzahnwurzeln auszurotten, kann ich gar nicht die lange und steile Kellertreppe runtertragen. Alles schon versucht. Und glauben Sie mir, ich lasse rundherum noch genug stehen und wachsen, und die unter den großen Blättern herumlümmelnden Schnecken töte ich auch nicht, sondern werfe sie auf die angrenzende Wiese. Morgen werde ich weiter jäten, nach dem Regen gehen auch die längsten und dicksten Wurzeln leichter aus der Erde.

Immerhin ist es ruhig hier oben. Gestern kamen die Schafe an, sie logierten eine Nacht auf der Wiese unterhalb des Hauses, es mäh-mähte und bimmelte und die Hütehunde bellten.

Näher konnte ich nicht hingehen, die Hunde, die die Schafe gegen die Wölfe beschützen sollen, sind auch super aggressiv gegen Menschen, die sich der Herde nähern. Gerne hätte ich heute morgen ihren Aufbruch zur Sommerweide dokumentiert, es ist immer berührend zu erleben, wie eine Schafherde vorbeizieht, aber die Schäfer sind mit der Herde um halb fünf und bei strömenden Regen losgezogen, es fehlte mir ehrlich gesagt die Motivation, mich bei diesem Wetter so früh aus dem warmen Bett zu bewegen, nur um ein paar Fotos zu machen, ich ließ die Schäfer und die Schafe alleine ziehen und drehte mich im Bett noch einmal um.

Sehr viel mehr Lärm gibt es derzeit nicht. Und da wir hier oben keinen Fernseher haben, sind wir auch den wild durcheinander rufenden PolitikerInnen und JournalistInnen entkommen, die ohne Unterlass die politische Situation durchkauen. Ich nehme die Information nur punktuell, gezielt suchend und in geschriebener Form zur Kenntnis. Es reicht vollkommen aus, um zu verzweifeln. Von Raphael Glucksmann war ein paar Tage nichts zu hören und zu sehen, aber natürlich kann er sich als Linker dem linken Schulterschluss gegen Extrem Rechts nicht entziehen. Aber wie enttäuscht sind seine Wählerinnen und Wähler von ihm, dass er sich mit der linksradikalen LFI (La France Insoumise) von Mélenchon verbündet hat, was er immer kategorisch ausgeschlossen hat. Da kann er sich noch so viel Mühe geben zu erklären, dass “nur die als Front populaire vereinigte Linke stark genug sein wird, um das Bollwerk gegen die extreme Rechte zu bilden” (Link zu einem frz. Artikel aus Le Monde), da kann er noch so sehr versichern, dass Mélenchon sich in dem Bündnis nicht durchsetzen wird, es bleibt ein schaler Beigeschmack und die Angst, dass das Linksbündnis gerade noch bis zu den Wahlen hält, dann wieder auseinanderbricht und man statt Glucksmann den antisemitischen, populistischen und Hamas-nahen Mélenchon bekommt. Serge Klarsfeld, Holocaust-Überlebender und Nazi-Jäger, sagt, wenn er die Wahl zwischen Mélenchon und Marine Le Pen hätte, würde er lieber Marine Le Pen wählen. Dafür wird er zwar von vielen Seiten kritisiert, aber es zeigt die Stimmung (nicht nur) der Juden in Frankreich.

Sowohl Mélenchon als auch Marine Le Pen stehen Putin nah, was, was im Falle einer Mehrheit in der Nationalversammlung die Situation für die Ukraine vermutlich noch prekärer machen würde. Dass die kleine ukrainische Familie derzeit Ferien in Cannes macht, wissen Sie schon. Es ist so schön, sie wohlauf wiederzusehen! Sie sehen noch genauso aus wie vor zwei Jahren, nur die beiden Ms sind gewachsen. Der große M kommt im September in die 7. Klasse, der kleine M wird nach einem Jahr Vorschulklasse in die richtige Schule kommen. Beide können immer noch “ça va!” antworten und “oui” und “non” und “merci” und “bonjour” und “au revoir” sagen. Der große M versteht auch noch eine Menge und traut sich sogar ein paar Worte zu sagen (leider wird in seiner Schule kein Französisch angeboten, er lernt Englisch und Polnisch). Tetiana hatte große Angst, dass ihr ganzes Französisch verschwunden sein würde, aber sie versteht viel und spricht auch viel. Es hilft, dass sie sich immer bei ihrem Bruder rückversichern kann, ob sie es richtig verstanden hat, was meistens der Fall ist. Mit dem kleinen M ist die Kommunikation weniger ausgeprägt, er spielt mit dem Smartphone und kann das nur unterbrechen, wenn er stattdessen Fußballspielen oder ins Meer rennen kann. Er wolle gern nach Cannes, aber in die Schule würde er hier keinesfalls gehen, hatte er im Vorfeld erklärt.

Sie wollten drei Wochen ohne Sirenenalarm, ohne das nächtliche Dröhnen der russischen Flugzeuge. Sich sicher fühlen, Leichtigkeit, Sonne, Strand, Meer, den Bruder wiedersehen, ein paar Freunde und auch uns. Und ein normales Leben mit kontinuierlicher Stromversorgung. Im Moment gibt es in der Ukraine nur drei Stunden am Tag Strom, das Leben muss anders organisiert werden als hier. Sie arbeiten mit Stromgeneratoren und Powerbanks und essen abends bei Kerzenschein. Sie haben Angst vor dem nächsten Winter. Der letzte Winter war nicht so kalt gewesen (gemessen an ukrainischen Wintern) und sie hatten noch mehrere Stunden Strom am Tag. Wie sie den kommenden Winter mit nur drei Stunden Strom und Heizung überstehen sollen, wissen sie noch nicht. Aber sie werden es schaffen, da sind sie sich sicher. Tetiana sagt, “wir lassen uns nicht unterkriegen. Ich ziehe mich jeden Tag hübsch an, frisiere mich, schminke mich, trage Lippenstift auf, und dann”, sie macht die kämpferische “We can do it”-Geste mit angespanntem Bizeps, “gehe ich raus!”

We Can Do It! de J. Howard Miller, 1943.

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15 Responses to We can do it

  1. southpark sagt:

    Wäre ein spezielles Heißwassergerät eine Lösung? Die sind teuer, brauchen Strom und Kaltwasser. Aber dafür erhitzen sie das Wasser selbst vor Ort. Als Beispiel (keine Empfehlung, dafür habe ich zu wenig Ahnung): https://www.kaercher.com/de/professional/hochdruckreiniger/unkrautvernichter.html

    • dreher sagt:

      Danke Dirk! Das schaue ich mir an! 🙏😊🌿🐝🦋

      • Gundula Mehlfeld sagt:

        Hallo Christine,
        ich benutze kochendes Wasser, habe aber nicht weit damit zu laufen. Ich würde es vielleicht mit Kabeltrommel/Verlängerungskabel und Wasserkocher vor Ort versuchen.
        LG Gundula

        • dreher sagt:

          Danke liebe Gundula –
          ich habe mir vorhin allerhand Unkrautvernichtungsmaschinen mit heißem Wasser angesehen – das funktioniert vermutlich, ist mir aber ehrlich gesagt zu teuer, selbst wenn man damit gleichzeitg einen Dampfreiniger bekommt – ich werde vermutlich weiterhin harken und nur die ganz hartnäckigen Wurzeln mittels vor Ort gekochtem Wasser (danke für die Idee, Wasser muss ich aber auch runterschleppen, es gibt da keinen Anschluss) versuchen zu vernichten – ich habe ein großes Terrain zu bearbeiten und bin ja immer nur ein paar Tage am Stück da.
          LG

  2. southpark sagt:

    Nachtrag: die Geräte in meinem Beitrag erscheinen mir sehr groß – ich hab im Internet auch gerade deutlich kleinere gesehen, die im Wesentlichen das nötige können. Im Wesentlichen ist es ja ein Wasserkocher auf Rädern mit hitzebeständigem Schlauch.

  3. Marion sagt:

    Tja, wäre schön, wenn Du da oben wenigstens mal etwas abschalten könntest. Aber in einem alten Haus muss man ja immer mit Überraschungen rechnen, seufz. Tut mir echt leid. Mit Unkrautvernichtung kenne ich mich leider gar nicht aus. Hast du auch die Buh-Rufe für Brigitte Macron bei der Ankunft zur Beerdigung von F. Hardy gehört? Wieso muss ihr Mann das Land nun auch noch in dieses zusätzliche Chaos stürzen?
    Aber wie schön, dass Tetiana so stark und kämpferisch ist 💪✌. Sicher ist es noch viel belastender, direkt aus 1. Hand zu erfahren, wie die Lebensumstände derzeit sind.

    • dreher sagt:

      Nein, von den Buhrufen habe ich nur vage und am Rande etwas mitbekommen. Ohne TV und mit schwachem Internet bleibt vieles “draußen”.

      Ja, wir finden auch, dass Macron ziemlichen Mist gebaut hat. Er wollte vermutlich eine satte Mehrheit für sich erreichen, aber die kann er jetzt vergessen.

      Ich finde es sehr beeindruckend, wie selbstverständlich und ohne zu jammern Tetiana aus dem Kriegsalltag erzählt. Wie sehr sie sich schon an so vieles gewöhnt hat. Dass sie das Dröhnen der nächtlichen Flieger nur kurz im Schlaf stört, während sie anfangs panisch geworden ist 😔

  4. Reiner Wadel sagt:

    Aus lauter Furcht vor einer antisemitischen Linken eine rechte Partei wählen zu müssen, das ist ein Alptraum für mich.

  5. Gabriele sagt:

    Das Unkraut in den Fugen der Gartenplatten und -steine wird der Junior verpflichtet, der sich damit sein Taschengeld aufbessern kann. Seit er Interesse an Klamotten und am Ausgehen hat, ist sein Finanzbedarf erheblich gestiegen. Aber es ist Sisyphosarbeit, ein Kampf gegen die Natur 🤷‍♀️ Liebe Grüße in die herbstlichen Berge Gabi

    • dreher sagt:

      Ja, wenn man es von der Natur aus betrachtet, ist es im Grunde lächerlich, hier, inmitten von Wiesen und Weiden, unbedingt ein Terrain frei von Wiesenkräutern haben zu wollen. Der Löwenzahn von nebenan lässt seine Pusteblumen-Schirmchen später wieder unbehelligt über den Kies fliegen … und es beginnt von Neuem.
      LG

  6. Croco sagt:

    Wir haben auf den Fadenschneider einen gelben Puschel montiert, Tipp vom Schulhausmeister. Er hat einen mit Stahlborsten, die brechen aber ab und es haut sie durch die Gegend.
    Es gibt aber was mit Akku und Kunststoffaufsatz
    https://www.kaercher.com/de/home-garden/gartengeraete/akku-unkrautentferner/wre-18-55-14452440.html

    • dreher sagt:

      Danke dir Croco!
      Ich verstehe den aufmontierten gelben Puschel zwar nicht, aber Freischneider (Fadenschneider) oder auch das verlinkte Gerät lässt einem den Kies um die Ohren (und überallhin) fliegen, das geht leider nicht.

  7. Kathrin sagt:

    Mein Tipp;Kopfhörer auf die Ohren , einen Podcast oder eine Geschichte hören und dabei Unkraut jäten… Die Zeit vergeht wie im Flug.

    So beeindruckend von Tatiana, dass sie sich nicht gehen lässt. Lippenstift kann auch ein Statement sein.