Seit gestern Abend stehen die Kandidaten für den zweiten Wahlgang fest: In unserem Wahlkreis wird es Leila Tonnerre vom Linksbündnis NFP Nouveau Front Populaire sein, die gegen Max Tivoli vom RN Rassemblement National antritt. In unserem Dorf hat sie zwar weniger Stimmen bekommen als die Republikaner und auch als die Macron nahestehende Partei Horizons, aber insgesamt liegt sie im Wahlkreis, vor allem in Grasse, ihrem “Hauptquartier”, oft an zweiter Stelle und hat dort je nach Wahlkreis auch ein paar Mal mehr Stimmen bekommen als der Kandidat des RN. Ein gutes Zeichen also? Vielleicht.
Es ist ganz und gar nicht sicher, ob die Menschen in den Dörfern des Hinterlandes, die im ersten Wahlgang konservativ gewählt haben, im zweiten Wahlgang am kommenden Sonntag für die Neue Volksfront stimmen werden, um den Sieg des Rassemblement National zu verhindern. Leila Tonnerre ist Kandidatin von LFI, La France Insoumise, der Partei von Mélenchon. Ich wiederhole mich, hier ist konservatives Terrain, Mélenchon ist für viele ein rotes Tuch und dass er in verschiedenen Interviews schon wieder die Decke zu sich zieht: “J’ai l’intention de gouverner ce pays” , er habe die Absicht dieses Land zu regieren, sagte er, das gefällt vielen nicht. Man munkelt außerdem, dass das kleine rote Dreieck, das nicht nur Mélenchon am Revers seines Anzugs trägt, offiziell ein Zeichen der Erinnerung an die politischen Häftlinge in den Konzentrationslagern und überhaupt ein Zeichen des Widerstandes gegen die Nazis, auch anders gedeutet werden kann: das rote Dreieck, Teil der palästinensischen Flagge, könne auch als Unterstützung für die Palästinenser verstanden werden. Zumal Mélenchon bei verschiedenen Auftritten von einer Parteifreundin mit einem Palästinensertuch um die Schultern begleitet wurde.
Wir haben also in unserem Dorf genau das Szenario, das vor allem die Juden fürchten, nämlich die Wahl zwischen Mélenchon und Le Pen. Auch wenn in unserem Dorf keine Juden leben, befürchte ich, dass es viele NichtwählerInnen oder “Blanc”-WählerInnen geben wird. “Voter blanc” bedeutet, zur Wahl zu gehen, aber einen leeren Stimmzettel (oder einen leeren Umschlag) abzugeben. Diesen Stimme werden zwar dokumentiert, sie werden aber, genau wie die ungültigen Stimmen, nicht gezählt. Man kann damit aber seine Unzufriedenheit ausdrücken und zeigen, dass man für keinen Kandidaten ist.
Aber, und das befürchte ich zumindest für den ländlichen Raum, es wird mehr Le Pen WählerInnen geben.”So schlimm wird es schon nicht werden”, sagt man hier. “Le Pen ist nicht so verrückt wie Hitler”, fügt man noch hinzu, wenn ich ein skeptisches Gesicht mache. Ich habe das ungute Gefühl, unsere (deutsche) Geschichte noch einmal zu erleben. Dieses Gefühl haben die Franzosen natürlich nicht. Nur Monsieur, der gerade ein Buch von Laurence Rees liest, das ist der Historiker, der sämtliche BBC-Sendungen zum Ersten und Zweiten Weltkrieg gemacht hat, erzählt mir aufgeregt, wie es damals war, als Hitler gewählt wurde. Er sagt jetzt: “Was wir gerade erleben, erinnert total an die Zeit der Weimarer Republik!” “Ich weiß”, sage ich bitter.
Aber die Franzosen wissen davon wenig, die deutsche Geschichte ist nicht die ihre. Sie wollen Veränderung, sie hatten Rechte und Linke und jetzt mit Macron sogar die Mitte, sie haben vor allem den arroganten Macron satt, aber auch den ganzen elitären Politklüngel in Paris. Den RN haben sie nie ausprobiert, Marine Le Pen mit ihren populistischen Phrasen und “Frankreich den Franzosen” scheint vielen eine echte Alternative zu sein. Endlich eine, die für Ordnung sorgt. Und wie gesagt: “So schlimm wird’s schon nicht werden”.
Géraldine Schwarz vertritt in ihrem lesenswerten Buch “Die Gedächtnislosen” die These, dass sich die rechtspopulistischen Strömungen in Europa aus dem Umgang des Kontinents mit seiner Geschichte nach dem letzten großen Krieg erklären lassen. Zur Veranschaulichung verknüpft die in Frankreich aufgewachsene deutsch-französische Autorin ihre Familiengeschichte mit der großen Geschichte.
Géraldine Schwarz entdeckt eines Tages, dass ihr deutscher Großvater, ein Mitglied der NSDAP, 1938 im Zuge der Arisierung ein jüdisches Unternehmen in Mannheim erworben hatte. Nach dem Krieg weigerte sich Karl Schwarz, dem einzigen Überlebenden der in Auschwitz ermordeten Fabrikantenfamilie Julius Löbmann eine Entschädigung zu zahlen. Hier beginnt ihre Recherche über drei Generationen ihrer Familie, immer mit der Frage, wie die Verwandten und andere mit der Vergangenheit umgegangen sind – auch in Frankreich, denn bald erfährt die Autorin, dass ihr Großvater mütterlicherseits unter dem Vichy-Regime als Gendarm in einem Gebiet diente, in dem die Franzosen mit Razzien nach Juden fahndeten.
Deutlich werden für sie die Unterschiede im Umgang mit der nationalen Geschichte: Während in Deutschland Mitläufertum und Mittäterschaft zu bestimmenden Themen wurden, blendeten die Franzosen diese weitgehend aus. In der Bundesrepublik entstand auf dieser Grundlage ein differenziertes Verständnis von individueller Verantwortung in der Demokratie und ein kollektives Bewusstsein für die Gefahren rechtspopulistischen Denkens. […] Die Kehrseite dieser These zeigt sich in ganz Europa: Wo die Auseinandersetzung mit der Kollaboration spät oder gar nicht stattfand, erstarken die Parolen des Rechtspopulismus umso unkontrollierter.
Geraldine Schwarz: Die Gedächtnislosen
Am Sonntag kann alles passieren. Ich bin mir nicht sicher, ob die Franzosen dieses Ergebnis wirklich wollen.
Macron hat den gleichen Fehler gemacht wie Cameron . Beide glaubten, wenn man den Wählern die Pistole auf die Brust setzt, werden sie sich schon besinnen und in ihrem Sinne abstimmen in Anbetracht der Alternativen. Beiden ging jedes Gespür für die Realität ab. Und sie setzten nicht Taten entgegen sondern nur ein trotziges “ihr werdet schon merken, was ihr davon habt “
Ja, kein Gespür für die Realität und die Menschen. Es bleibt eine große Enttäuschung.
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