Cannes. Klappe, die Letzte

(c) OsloMetX via Pixabay

So, da sind wir wieder. Der Stromausfall in Cannes und Umgebung hat es ja wohl sogar bis in die deutschen Nachrichten geschafft. Seit gestern haben wir wieder heißes Wasser und seit heute – nach einem langen Chat mit einem echten Menschen – funktioniert auch das Festnetztelefon wieder. Es war Sabotage. Für die Anschläge bekennen sich gleich zwei anarchistische Gruppen.

Falls Sie es nicht mitbekommen haben: Im Hinterland von Nizza wurde ein Hochspannungsmast angesägt, sodass er in Schräglage fiel, und in einem Elektrizitätswerk wurde Feuer gelegt. Damit wollte man bewusst das Festival treffen, aber nicht nur Cannes war am Samstag ab etwa 10 Uhr ohne Strom, sondern die ganze Region. Das Palais des Festivals, aber auch Polizei, Feuerwehr und Krankenhäuser, verfügen jedoch über Notstromaggregate. Trotzdem ging es am Tag, an dem abends die Goldene Palme verliehen werden sollte, natürlich hoch her. In Cannes ging von 10 Uhr bis etwa 15 Uhr nichts mehr. Blackout. Es gab keine Kaffeemaschine, keine Kasse, keinen Aufzug, keinen elektronischen Türöffner, kein Telefon und auch kein Mobiltelefon, da das Mobilfunknetz und Internet ebenfalls betroffen waren. Züge fuhren nicht. Auch Radio und Fernseher funktionierten natürlich nicht. Das Merkwürdige war, dass man so keinerlei Informationen darüber bekam, was eigentlich los war.

Ich hatte mich in aller Frühe am Gare Maritime angestellt, wo die Karten für die Goldene Palme an die Einwohner von Cannes vergeben werden. Um Viertel vor acht war ich da, um neun wird überhaupt erst geöffnet, aber schon zwei Menschenschlangen umrundeten das Gebäude. Zumindest sah es so aus, als ich ankam und man mich an eine andere Ecke als üblich schickte. Ich war schon leicht verzweifelt. Wenn an der anderen Seite schon kein Platz mehr war und man deshalb diese zweite Schlange geöffnet hatte, dann würde es dieses Jahr erneut nichts mit Karten werden. Die Ersten seien schon um sieben Uhr da gewesen, hieß es. Sie saßen teilweise auf kleinen Klapphockern und/oder standen in der prallen Sonne. Immer wieder klappten Personen zusammen, die dann in den Innenhof auf schattige Stufen vorgelassen wurden. Man plaudert ein wenig mit den Menschen, die vor und hinter einem stehen oder sitzen. Immerhin hatte ich dieses Mal zwei nette dänische Damen (mit Hund) vor mir.

Punkt neun ging es los. Man geriet in ein Labyrinth aus Absperrgittern, ähnlich wie am Flughafen. Die andere Schlange war nicht sehr lang, da die Jachtbesitzer untersagt hatten, dass stundenlang Krethi und Plethi vor ihren Schiffen stehen und gucken. Das will man nicht.

Daher standen wir dieses Mal entlang der Straße an. Nur die allerersten, die noch vor dem Sicherheitspersonal gekommen waren, wussten das noch nicht und hatten sich wie jedes Jahr auf der Jachtseite angestellt. Damit es logistisch korrekt zuging, blieben sie eben dort stehen.

Unsere Berechtigung als Einwohner von Cannes wird kontrolliert und wir werden in das Gebäude gelassen. Hurra! Um Viertel vor zehn habe ich zwei Karten für die Vorstellung um 18 Uhr ergattert! Abendgarderobe ist Pflicht! Na dann.

Ich gehe jetzt erst einmal frühstücken und bekomme vermutlich den letzten Caffè Crème des Tages, denn um zehn fällt der Strom aus. Ich telefoniere noch mit einer Freundin, die sich auf dem Weg zum Flughafen befindet. Die Verbindung bricht mehrfach zusammen, dann ist auch das Mobiltelefon stumm.

Es werden nur noch kalte Getränke serviert, und zwar so lange, bis der Kühlschrank leer ist. Für die Eisdielen ist es ein Desaster, weil ihnen das Eis schmilzt. Bezahlt wird bar, sofern man Bargeld hat. Abheben kann man auch keines mehr. Die Angestellten der Hotels sitzen draußen herum und Reisende können weder ein- noch auschecken. Die kleinen Geschäfte in der Innenstadt sind alle dunkel, die meisten haben geschlossen. Die Mitarbeiter eines Barbershops haben ihre Stühle nach draußen gestellt und schneiden Haare unter freiem Himmel.

Ich fahre nach Hause und finde es cool, wie die Franzosen an der großen Kreuzung mit sieben Straßen ohne Ampelschaltung (und bislang auch ohne Polizisten, die den Verkehr regeln) ein Verkehrsknäuel mit Bussen, Scootern und Autos flüssig und ohne Aggressionen bewältigen. Zuhause findet die Samstags-Nathalie es jedoch untragbar, dass sie mit einem Besen statt mit dem Staubsauger arbeiten soll. Ich kann sie nicht einmal mit einem Kaffee besänftigen, denn die Kaffeemaschine geht auch nicht. Gegen Mittag bricht sie ihre Tätigkeit schließlich ab. Immerhin kann ich das Mittagessen zubereiten, denn ich habe einen Gasherd. Später fahre ich Monsieur zum Bridge. Kartenspielen im dämmrigen Raum geht auch ohne Strom. Anschließend fahre ich an den Strand, sonne mich, schwimme (das erste Mal!) und lese ein Buch.

Abends geht der Fernseher wieder und ich schaue die Übertragung der Zeremonie der Goldenen Palme, die wie geplant stattfindet. Im Hintergrund gab es viel Chaos. Es sei die Hölle gewesen, werden die Schneiderinnen und Friseurinnen zitiert, die ohne Strom (und somit ohne Nähmaschine, Fön und Lockenstab) Kostüme anpassen oder Frisuren stylen mussten. Vermutlich hat Juliette Binoche deshalb wieder eine wenig glamouröse Frisur.

Sie wissen es natürlich schon: Der deutsche Film „In die Sonne schauen” von Mascha Schilinski hat den Preis der Jury bekommen! Wow! Glückwunsch! Auch wenn sie sich den Preis mit einem anderen Film „Sirat” von Oliver Laxe teilen muss. Die Goldene Palme wurde an den iranischen Filmemacher Jafar Panahi für „It Was Just an Accident” („Ein einfacher Unfall”) vergeben. Jafar Panahi hat seit Jahren Berufsverbot und muss seine Filme immer heimlich drehen. Er durfte den Iran jahrelang nicht verlassen und war dieses Jahr mit seinem Filmteam anwesend. Ich hätte vielleicht lieber „In die Sonne schauen” gesehen, bin aber mit dem iranischen Film durchaus auch zufrieden. Ich finde, es ist eine gute Entscheidung. Letztes Jahr konnte man sich nicht dazu durchringen, eine „politische” Goldene Palme an den Iraner Mohammad Rasoulof für „The Seed of the Sacred Fig” zu vergeben. Er hatte den Iran durch Flucht verlassen, bevor man ihn verhaften konnte. Er bekam letztes Jahr „nur”, so wie dieses Jahr der chinesische Film, einen kurzfristig erfundenen Sonderpreis.

“Das Wichtigste ist unser Land und die Freiheit unseres Landes. Ich wünsche allen Iranern und Iranerinnen, die sich für die Demokratie schlagen, egal woran sie glauben und wo sie sich gerade befinden, dass wir gemeinsam eine Zeit erleben werden, in der uns niemand mehr sagt, was wir anziehen sollen, was wir sagen sollen, was wir nicht tun sollen.”

Jafar Panahi, anlässlich der Verleihung der Goldenen Palme

Es ist immer wieder aufregend, die (schon etwas abgenutzten) roten Teppichstufen selbst hinauflaufen zu dürfen. Karnevalsstimmung liegt in der Luft, die Musik ist laut, alle lachen und freuen sich, haben sich herausgeputzt und machen Selfies, obwohl es eigentlich untersagt ist, aber niemand nimmt es so genau. Man kann sich natürlich auch von einem richtigen Fotografen ablichten lassen, der extra dafür bereitsteht.

Wir laufen die schöne Doppelhelix-Treppe hinauf, diese Art Treppe wurde übrigens erstmals im Schloss Chambord erbaut – kleiner Kulturexkurs, bitte sehr – und suchen uns Plätze im oberen Bereich. Und schon geht’s los.

Ich zitiere hier wie so oft Katja Nicodemus:

„It Was Just an Accident“ (Ein einfacher Unfall) ist eine Auseinandersetzung mit Jafar Panahis eigenen Gefängniserfahrungen und der Gewalt des Regimes.

Sein Held Vahid, ein Arbeiter, begegnet durch Zufall dem Mann, der ihn im Gefängnis gequält hat. Er entführt ihn mit seinem Lieferwagen. Um sicherzugehen, dass es sich wirklich um seinen Folterer handelt, kontaktiert er weitere Frauen und Männer, die mit ihm eingesperrt waren. Sie überlegen, was sie tun sollen: Sollen sie Rache üben und sich damit mit dem Regime gemein machen? Oder den mutmaßlichen Peiniger laufen lassen und das Risiko einer schweren Bestrafung eingehen?

„Ob wir einen schönen Film gesehen hätten”, fragte uns Monsieur, den wir später in einem Restaurant trafen. Schön, nein, schön ist der Film nicht. Er ist gewalttätig und da er heimlich gedreht wurde, ist er auch bildsprachlich wenig spektakulär. Aber es ist ein guter und wichtiger Film und er lässt mich lange nicht los. Ob Jafar Panahi nach allem, was er in diesem Film über die Folter in den iranischen Gefängnissen sagt, problemlos in sein Land zurückkehren kann?

Lesen Sie dazu gerne den Artikel über die zehn Tage in Cannes von meiner Lieblingskritikerin und ihr Interview mit Jafar Panahi. Es ist das erste Interview Panahis mit einem deutschsprachigen Medium seit 15 Jahren, denn eines der Verbote, denen Panahi unterlag, war auch, keine Interviews zu geben.

So war es. Das Festival ist vorbei. Die Stadt ist wieder leerer und ruhiger. Ich fliege morgen nach Deutschland, sodass Sie ein paar Tage lang nichts von mir hören werden. Bleiben Sie mir dennoch gewogen.

à bientôt!

Dieser Beitrag wurde unter Allgemein abgelegt und mit , , , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

15 Responses to Cannes. Klappe, die Letzte

  1. Karin Penteker sagt:

    Cannes am wichtigsten Tag des Jahres ohne Strohm – ich will gerne glauben, dass dies der Supergau ist. Es ist schon erschreckend festzustellen, wie abhängig wir von Strohm sind und dass ohne so gar nichts mehr läuft – ausser Eis. ;)
    Ich fand auch, dass Rasoulof durchaus die Goldene Palme verdient hätte, bei Anora war ich mir da nicht so sicher!
    Um den Strandbesuch beneide ich dich wirklich! Ach, waren das noch Zeiten, als ich mit Töchterchen an Himmelfahrt oder Pfingsten nach Antibes fuhr. Ein bisschen Strand, viel Karrussellfahren für Töchterchen und meine Freundin und ich im Café direkt daneben People Watching… seufz.
    A propos People Watching … Sarah Connor hat in einem Interview berichtet, dass sie ein Haus in Cannes hat und häufig am Strand spazierengeht sowie taucht. Könnte also durchaus sein, dass du ihr mal über den Weg läufst!
    Liebe Grüsse aus Genf!

    • dreher sagt:

      I agree…

      Die Metzger mussten übrigens auch einiges wegwerfen!

      Ja, das wurde mir schon einmal zugerufen, dass Sarah Connor in Cannes sei, ich habe auch ein Video gefunden, wo sie an “meinem” Strand herumläuft, ich fürchte nur, dass ich sie nicht erkenne 🤷

      Liebe Grüße!

  2. Marion sagt:

    Mon Dieu, was für ein Stress. In Spanien gab es auch gerade erst einen (landesweiten) Stromausfall, auch Sabotage 😒. Nun, du gehst ja mittlerweile recht nonchalant-französisch mit den Widrigkeiten des Lebens um. Erstmal an den Strand mit gutem Buch: prima Idee. Bestimmt hast du dich ebenfalls elegant in den chaotischen Verkehr eingefädelt 😄. Und nochmals danke für die Film- und Festival-Infos. Und auch die Treppe ist wunderschön. Hier lief gerade endlich der Film über Aznavour an, wie immer mit großer Verspätung. Ich habe ihn sehr genossen! Gute Reise et à bientôt!

    • dreher sagt:

      Ja, ich fand mich auch sehr cool auf der Kreuzung, bin einfach gefahren 😁, und es ging ja wirklich gar nichts, nichtmal das Handy, wir haben zwar ein kleines Transistorradio, aber keine Batterien drin 🤷 (das werden wir ändern!) also war analoges Lesen dran. Und das Wetter war schön, also ab nach draußen, ganz ohne schlechtes Gewissen dass man irgendetwas anderes tun müsste.

      Aber wir konnten auch entspannt sein, wir waren beide gesund, der Kühlschrank war zwar aus, aber zumindest voll, ich hatte gerade getankt, wir hätten es also einen Moment ausgehalten.

      Schön, dass du Aznavour gesehen und genossen hast!

  3. Pingback: 25-05-27 Negative Lambdas – iberty.de

  4. Croco sagt:

    Vielen Dank für’s Mitnehmen.
    Die Treppe von Chambord bin ich tatsächlich mal gegangen ein irre Gefühl.

  5. Croco sagt:

    Ach ja, auf dem einen Foto sieht jemand aus wie Joschka Fischer, der gerade fotografiert. Seine Frau ist ja Regisseurin, könnte also sein.

    • Christin sagt:

      Die Frau könnte in der Tat Minu Barati sein. Christiane, Du warst also in sehr prominenter Gesellschaft!

      • dreher sagt:

        Hab sie mir im Internet angeguckt, könnte tatsächlich sein. Aber dass sie ausgerechnet am Tag nach dem Festival mit den Cannois den Film ansehen und nicht vorher schon mit anderen Promis eingeladen waren, wundert mich.

  6. Croco sagt:

    In Charmbord war ich schon, die Treppe ist beeindruckend.
    Danke fürs Mitnehmen.

    • dreher sagt:

      Gerne, danke fürs lesen!
      Ich war auch schon in Chambord, aber da war ich etwa drei Jahre alt, kann mich leider nicht an die Treppe erinnern.

  7. Barbara sagt:

    Sehr spannender und interessanter Bericht!
    Herzliche Grüße aus dem Südwesten 🙂
    Barbara