Missverständnis

17 Monate hatten die Ärzte gesagt, etwa 17 Monate könne Patrick noch leben. Ich fand die Monatsangabe zwar merkwürdig, aber was weiß ich schon von Medizinern und ihren Prognosen? Ich nahm es hin und dachte ok, anderthalb Jahre, im schlechtesten Fall ein Jahr, mehr oder weniger.

Ich sah zwar Patricks Zustand sich rapide verschlechtern, glaubte auch nicht mehr, dass er das Ende der auf neun Monate angelegten Chemotherapie erreichen würde, aber ich hatte doch immer diese 17 Monate im Kopf. Bis ich letzte Woche ein dann doch gutes Gespräch mit dem Arzt hier vor Ort hatte, der in einem Nebensatz „sechs Monate“ fallen ließ. Mir wurde es innerlich ganz heiß, denn mir ging schlagartig ein Licht auf: sechs Monate, six mois! Die Ärzte hatten sechs, sieben Monate gesagt, also six, sept mois und ich hatte dixsept mois verstanden. Mir war schlecht, aber ich verstand plötzlich alles. Februar, März, April, Mai… Ich verstand plötzlich auch, warum meine Schwiegermutter auf manche Sachen so drängte, denn sie hatte es natürlich richtig verstanden. Sie wiederum muss sich gedacht haben: Patrick will gar nichts davon wissen, Christiane hält sich an anderthalb Jahren fest, lassen wir sie eben glauben, was sie brauchen.

Ich war plötzlich auch erleichtert, das alles nicht mehr noch monatelang ertragen zu müssen. Und ich war auch wieder voller Liebe für Patrick. Alles andere war mir von eben auf jetzt egal, oder sagen wir, für einen Zeitraum von etwa drei Monaten konnte und kann ich mir vorstellen, das alles noch zu ertragen. Am Freitag beim Heimfahren dachte ich kurz bei einem Überholmanöver, ich könnte auch einfach frontal in den entgegenkommenden Bus fahren, dann wärs vorbei und ich müsste das alles nicht mehr leben. Hab ich nicht gemacht, sonst würd ich hier nicht schreiben, zeigt aber wie hart ich an der Grenze entlangschliddere.
Um es nur kurz anzudeuten, wir haben große finanzielle Probleme, Patrick hat schlecht gewirtschaftet, das weiß ich leider erst, seit ich mich gezwungenermaßen um den Papierkram kümmere und das wächst mir alles über den Kopf, das zwanghafte Festhalten an der Auberge macht alles nur noch schlimmer. Diese für mich nicht zu bewältigende Flut von Zahlungsaufforderungen mit einem leeren Konto weiterhin nur mit der Unterstützung von Familie und Freunden, die mir ihre Spardosen öffneten und eine Sammelaktion für uns veranstalteten (DANKE Andrea und ihren Freunden!), noch monatelang zu überstehen, schien mir unerträglich, neben all der Sorge und Traurigkeit um Patrick. Manchmal war ich nur noch wütend auf ihn und wütend auf mich, die ich so naiv war und nichts von diesem Papierkram wissen wollte.

Das alles war plötzlich nicht mehr so drückend und schwer, und ich habe Patrick dann doch sein ersehntes wöchentliches Computerheft als Abo bestellt, obwohl ich zwei Tage vorher noch fassungslos ob dieser an der finanziellen Realität vorbeigehenden Bestellung und auch stinksauer seine Bestellung dafür zerrissen hatte – nicht vor seinen Augen natürlich.

Seit Montag arbeite ich als entretien für die Dorfgemeinde, das habe ich vor Jahren schon mal gemacht, damals für ein anderes Dorf, das ist im Prinzip der Job eines Dorf-Hausmeisters, ich bin die, die aufpasst, dass alles in Ordnung ist, ich fege den Platz, bin zuständig für Sauberkeit der Strassen, kucke, dass der Friedhof nicht verwildert, leere die öffentlichen Papierkörbe, und kümmere mich um den Blumenschmuck des Dorfes und das Giessen undsoweiter. Der Job ist ein Geschenk, denn ich kann das alleine machen, mir meine Zeit einteilen wie ich will und kann, bin vor Ort, wenn etwas mit Patrick ist – und das Beste, abgesehen davon, dass ich (ein bisschen) Geld verdiene, ich bin draußen und lasse meiner Schwiegermama das Haus und die Küche. Super! Und ganz ehrlich: in der Sonne den Dorfplatz fegen find ich grad klasse. Fordert mich nicht geistig, tut mir hingegen körperlich gut: genial! Gut, das will ich nicht mein Leben lang machen, aber grad passt es. Heute bin ich zum ersten Mal mit einem kleinen Lastwagen zur Mülldeponie gefahren und habe alles mögliche Gerümpel in riesige Container geworfen. Ich war stolz!

Sechs Monate also. Patrick wollte nach der letzten Chemo-, die doppelt schwer war, da er zusätzlich zu der üblichen Therapie noch eine weitere Komponente bekam, sofort nach Hause. Ich hätte gern gehabt, dass er zur Überwachung der eventuellen Nebenwirkungen noch ein paar Tage im Krankenhaus bleibt, zumal ich mit ihm bei der bekannten guten medizinischen Versorgung hier oben alleine war, meine Schwiegermutter war um ein paar Dinge zu regeln nach Cannes gefahren, denn unter anderem war während ihrer Abwesenheit in ihre Wohnung eingebrochen worden, aber Patrick wollte nur heim, heim, heim.
Ein bisschen kenne ich das ja jetzt schon –  was nicht alles zur „Normalität“ werden kann… so dass wir das zusammen hingekriegt haben, trotz großer Übelkeit und Erbrechen, trotz Schwindel im Kopf und unendlicher Mattigkeit, keine Schmerzen, aber dennoch blieb Patrick unberührbar. Nur nicht anfassen, nicht bewegen, nur Ruhe und Schlafen. Dann ist Patrick wieder gefallen. Schlimm dieses Mal. Und gestern  Morgen um fünf fiel er der Länge nach geradewegs aus dem Bett. Er hatte sich in die falsche Richtung gedreht. Gestern war er den ganzen Tag vollkommen verstört, und ich musste ihn beim Essen füttern, weil er so hilflos mit der Gabel in der Hand da saß und nicht wusste, was er tun sollte. Als er begriff, dass ich ihn fütterte, hörte er schlagartig auf zu essen. Er war verwirrt, erinnerte sich an gar nichts, und begriff auch keine Erklärungen mehr. Er hatte dann doch Schmerzen, das Morphium, dass ich ihm in diesem Fall zusätzlich geben kann, lässt ihn leider halluzinieren, aber er hatte auch schon ein Gespräch mit einem Eichhörnchen, das finde ich dann eher heiter als Halluzination. Heute ist Patrick noch ein bisschen weiter weg, sprechen tut er sowieso kaum noch. Alles ist extrem verlangsamt. Wach sein ist schwierig. Essen ist schwierig. Denken ist schwierig und Sprechen auch.

Wir haben heute im Krankenhaus angerufen, wollten wissen, ob die nächste Chemo- überhaupt noch Sinn macht und erbaten uns klare Aussagen über seinen Zustand. Das haut einem dann aber doch noch mal die Beine weg, wenn man plötzlich deutlich hört, dass die sechs Monate „mit Chemo-“ veranschlagt waren, und dass er ohne Chemo- heute vermutlich schon gar nicht mehr da wäre. Und das Ende ist auch mit Chemo- jetzt sehr nahe. Wie gut, dass ich so lange an die 17 Monate geglaubt habe.

Patrick wird nicht mehr ins Krankenhaus gehen. Es gibt keine Chemo- mehr. Er wird hier bleiben. In seinem Zimmer. Zu Hause. Mit uns.

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