Auferstehung

Patrick ist wieder zu Hause. Seit Samstag. Er hat sich „Krankenhaus-frei“ und „Chemo-Pause“ erwünscht. Und bekommen.
Am Ostersonntag gegen elf Uhr beschloss ich spontan die Auberge und einen großen Schlüsselbund in die Hände und die Verantwortung einer treuen lieben Nachbarin zu geben, noch dazu legte ich ihr die Aufsicht und die Ernährung meiner an Karfreitag sterilisierten Katze Pepita, die noch ein bisschen wackelig auf den Beinen war. Ich fuhr eiligst ins Krankenhaus zu Patrick, weil ich ihn am Telefon kaum noch verstehen konnte, und er so des Lebens müde wirkte, dass ich ihn nicht allein lassen wollte. Und ich allein da oben im Dorf fühlte mich ebenso verlassen und unglücklich.

Patrick weinte, als er mich sah, ich ebenso, wir hielten uns vor Erleichterung den ganzen Nachmittag in den Armen und weinten beide immer wieder an diesem Nachmittag, und wir beschlossen, dass wir nicht mehr getrennt sein wollen, so lange er krank ist. Selten hab ich meinen Mann weinen gesehen. Er war noch magerer geworden, er aß nicht mehr und stand auch nicht mehr aus dem Bett auf. Dennoch hatte ich das Gefühl, dass hier gerade jemand wieder auferstanden war. Und ich war voller Osterfreude.


Seine Angst und Lebensmüdigkeit legten sich richtig jedoch erst am Dienstag nach Ostern gegen 17 Uhr, als er die Ergebnisse der ersten Chemo-Bilanz hörte. Patrick sah und sieht nur das Positive und das ist auch gut so, ich jedoch finde die Ergebnisse sehr mager angesichts des Leidens, dass Patrick erträgt. Da die Metastasen in der Leber gar nicht reagiert haben, wird die Zusammensetzung der Medikamente für die kommenden Chemotherapiesitzungen geändert, was uns vermutlich neue spannenden Nebenwirkungen bescheren wird. Ich fragte leise, „willst du die Chemo- wirklich weiter machen?“ Und er antwortete mit der Ernsthaftigkeit eines Kindes „aber ich muss doch, ich muss doch gesund werden“. Aber dann hat er doch noch über meine Frage nachgedacht und gesagt, „ich will vielleicht eine Pause machen und erst mal nach Hause“. Nach Hause. Ich war froh und erschrocken. Wie soll das gehen mit einem körperlich so schwachen Mann?! All die Treppen? Meine Schwiegermutter und ich überlegten fieberhaft, wie und wo wir wohnen könnten, in einer der Ferienwohnungen vielleicht, die sind fast ebenerdig, es gäbe einen Balkon, Patrick könnte von dort wirklich Berge und dem Himmel sehen und eingemummelt auf dem Balkon sitzen um ein paar Sonnenstrahlen abzukriegen. Wir könnten einen Rollstuhl leihen, mit dem ich ihn ein bisschen rumfahren könnte, und ein medizinisches Bett… aber das wurde alles von meinem wie gewohnt starrköpfigen Mann abgelehnt, wie auch schon alle anderen Wohnideen, die wir hatten, das war und ist seiner Ansicht alles nicht nötig, da er felsenfest glaubte, seine wahre Auferstehung würde er hier er-leben, denn kaum wäre er zu Hause, würden ihm die Luft, die Ruhe, die saubere Natur und seine Berge Energie zurück geben. Er würde laufen können und Treppen steigen und der Appetit würde bei der Höhenluft sowieso zurückkommen.

Zunächst wurde Patrick von allem abgestöpselt und musste im Krankenhaus erst mal ein paar Tage zeigen, ob er die Medikamente, oral eingenommen, nicht wieder erbrach. Dann wurde der Heimaturlaub und eine kurze Chemopause gewährt unter der Bedingung, dass er ab sofort wieder zu essen beginnt und natürlich zu laufen. Das tat er mit so viel Selbstüberwindung und so viel verbissener Kraft, dass es mir das Herz zusammenschnürte. Er kämpft so tapfer, ich finde es so unendlich traurig, dass er dafür nicht mit einem langen Leben belohnt wird. Nicht nur, dass das Essen an sich ihn anekelte, schon der Geruch war ihm zuwider, es ist vor allem das Schlucken, das ihm so schwer fällt. Alles ganz langsam und in Mini-Portionchen aß er wie ein Vögelchen. Aber er aß. Laufen, abgemagert, ohne Muskeln, zitterig, wackelig lief er erst nur sich festhaltend, dann „freihändig“ um das Bett, zwei Tage später dann mit zwei Krücken immerhin den ganzen Flur entlang.
Samstags durfte er dann heim, und wies den Krankenwagen an, nicht bis vor die Auberge zu fahren, sondern am Dorfeingang zu halten, da er nach Hause laufen wollte. Das tat er zu meiner großen Bestürzung dann auch, und haette der Krankenpfleger ihn nicht jedes Mal aufgefangen, wäre Patrick mehrfach gefallen. Aber Patrick stolperte weiter und die Treppen hoch und verhedderte sich mit den Krücken, vor lauter Eifer zu zeigen, wie gut er wieder laufen kann, wusste er’s doch, klappt alles, er musste einfach nur heim!

Fünf der zehn freien Tage sind schon um, Patrick isst tapfer, laufen tut er hingegen sehr wenig, denn die Treppen sind doch ein Hindernis. Und dass er täglich durchs Dorf laufen wollte, davon ist keine Rede mehr. So liegt er wieder viel im Bett, obwohl er das so satt hat, und ist doch wieder eingesperrt in ein Zimmer, aber immerhin ist es sein Zimmer, an der Wand hängen Fotos von uns und den Katzen, gemalte Bilder von Henny und Emma, den Töchtern von Freunden, liebe Postkarten, ein paar Glücksmarienkäfer von Marianne, Basteleien der Nachbarskinder, die ich heute nur mit Mühe davon abbringen konnte Patrick ein Glas mit ein paar Kaulquappen zu schenken: er ist zu Hause. Die Katzen beschmusen ihn schnurrend und manchmal schlafen alle vier (drei Katzen, ein Mann) entgegen aller hygienischen Vorstellungen meiner Schwiegermutter eng nebeneinander gekuschelt auf dem Bett, das ich mit einem lieben Nachbarn und mittels vier Hohlblocksteinen sowie zwei Brettern schnell noch auf Normhöhe gebracht habe. Überhaupt schläft Patrick viel. Im Bett sowieso, aber auch im Sessel vor dem PC und wenn er sich zum Mittagessen die Treppen runtergeschleppt hat, schläft er beim Essen vor Erschöpfung manchmal auch einfach ein.

Leider ist er schon drei Mal gefallen, denn im Kopf ist alles kein Problem, aber seine Beine tragen ihn kaum noch, vermutlich sind auch die vielen Medikamente für seinen gestörten Gleichgewichtssinn verantwortlich. Trotz alledem hat das Krankenhaus es dieses Mal geschafft, ihn so zu medikamentieren, dass er schmerzfrei ist, und er hat bislang keinen neuen Schub bekommen. Und das neue Morphiumpräparat lässt ihn immerhin klar denken – wenn er denn mal wach ist.
Die Freude über das Hier sein lässt ein bisschen nach, da er sich nicht so erholt und stärkt, wie er sich das erhofft hat. Es tut mir so weh, seine Enttäuschung zu sehen. Woanders wäre es vielleicht besser gewesen, aber das muss er leider selbst spüren und er wollte doch so sehr heim.

Ich bin nicht sehr viel weniger müde als Patrick, aber ich schlafe leider sehr viel weniger. Mir fehlen ganz eindeutig Mama-Qualitäten, die ich ohne Kinder nie erworben habe, also das selbstverständliche Wissen, dass ich die bin, die alles macht. Mich nervt das noch immer, und ich habe eher keine Lust zu arbeiten, wenn Patrick im Bett liegt. Als Mama ist man das ja vermutlich gewöhnt, dass man alles macht, von Wäsche waschen, Betten frisch beziehen, und einen neuen Schlafanzug parat haben, wenn sie von der Nacht durchgeschwitzt sind, Essen rechtzeitig fertig haben, und vor allem ständig neue Ideen haben, was wir denn essen könnten, unter Berücksichtigung dessen, was wir da haben, was Patrick mag oder auch nicht, dessen, was er verträgt oder was ihm gut täte. Dann einkaufen, Arzttermine organisieren und das Katzenklo saubermachen… um mal so eine willkürliche Auswahl meiner Tätigkeiten zu geben. Verantwortlich zu sein fuer Patrick und sein Wohlergehen erschöpft mich. Und das, obwohl meine Schwiegermutter da ist. Sie gibt mir zwar Ruhe und hilft mir auch viel, aber gleichzeitig fühle mich neben ihr, bei aller Sympathie, ziemlich unzulänglich, weil sie mir mit ihrer unerschöpflichen Mama-Energie ständig das Gefühl gibt, nichts wirklich richtig zu machen oder nicht  genügend auf dies zu achten oder auf jenes: faut pas faire ça, Christjann! höre ich ununterbrochen. Das geht von Haushaltstipps bis zur Krankenpflege. Tische rückt man nicht an die Wand, weil das an der Wand hässliche  Spuren hinterlässt. Die Medikamente von Patrick muss ich anders ordnen und aufbewahren. Seinen Rücken darf ich nicht mehr mit Arnikaöl massieren, weil seine Haut das nicht mehr vertraegt. Fleisch wird grundsätzlich nicht wieder aufgewärmt, weil es danach geschmacklos ist, und es wird dann auch demonstrativ nicht gegessen, ebenso der gehobelte Parmesan auf dem Salat, der zu kräftig im Geschmack ist und den Salat ungut dominiert. Dann darf ich mir wieder anhören, dass wir Deutschen eben einfach nichts vom Essen verstehen, unsere Schokolade ist auch die zweitschlechteste der Welt, schlimmer ist nur noch belgische Schokolade. Dass ich die Schlafanzüge ihres Sohnes sowie unsere persönliche Bettwäsche nicht bügele, ist auch nicht ganz so, wie es soll. Und ein bisschen mehr Haushalt könnte ich schon noch machen. Die Fenster sind doch sehr schmutzig, und das sieht man mit der seit zwei Tagen scheinenden Sonne jetzt doch. Meine Schwiegermutter ist auf ihrem eigenen Terrain einfach besser zu ertragen. Heute war ich kurz vorm Platzen. Ich sagte, dass ich manche Dinge zur Zeit einfach weniger wichtig finde, ich will einfach viel mit Patrick zusammen sein und für ihn da sein. Das ist zwar ganz in Ordnung, das Geschirr darf sich in der Küche aber dennoch nicht stapeln, und sauber muss es schon überall sein. Ich mache also viel mehr Haushalt, als ich gemeinhin jetzt so machen würde, und Zeit blog zu schreiben oder auf e-mails zu antworten, Freundinnen anzurufen habe ich quasi nicht —  ist das denn jetzt wirklich nötig, solange die Treppe noch nicht geputzt ist? Und danach muss ich schon gleich wieder Essen kochen…

Dass ich kein Arbeitslosengeld bekomme und mich von autoritären jungen Frauen streng ausfragen lassen musste zu meinem bizarren Lebensweg, ist in der Zwischenzeit schon Vergangenheit. Und von allen anderen Schwierigkeiten, die uns nebenbei begleiten, schreib ich bei Gelegenheit, denn wenn ich das jetzt nicht gleich veröffentliche, wird es diese Woche gar nichts mehr…

Es grüßt erschöpft um ein Uhr morgens aus der Krankenpflegestation
die
Christiane

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