Bis eben (Freitag Abend, das heißt knapp zwei Wochen lang) funktionierte bei einerm Drittel der Bevölkerung Cannes’ (wir eingeschlossen) weder die Telefonlinie noch das Internet und wir hatten entsprechend auch kein Fernsehen. Das Zentrum für die Telefonlinie liegt unterirdisch im Boulevard de la République, eine Straße in einem Viertel, das schwer getroffen ist von der Hochwasserkatastrophe, und noch immer sind nicht alle der zigtausend Drähte gereinigt, wie ich in der Zeitung gelesen habe. Die Zeitung ist in den Zeiten ohne Internet und TV wieder wichtigstes Informationsmittel, und als wir am Sonntag Abend ankamen, habe ich die Ausgaben der letzten Tage durchgeblättert und fassungslos die Bilder betrachtet, die Sie vermutlich alle schon gesehen haben, und ich vermute ebenso, dass das Hochwasser in Cannes und Umgebung ist für Sie schon ein alter Hut und vielleicht sogar abgehakt ist. Für uns, die wir während der letzten Woche in den Bergen waren, beginnt es gerade.
Das Stadtviertel stinkt. Der Geruch nach modriger Feuchtigkeit liegt in der Luft. Und das, obwohl es schon eine Woche lang warm und sonnig ist, aber die Häuser, die Keller, die Straßen und Trottoirs sind noch vollgesogen mit Wasser und die sonst roten Trottoirs sind noch matt und braun vom weggeputzten Schlamm. Das alte Arbeiterviertel um den Boulevard de la République ist schlimm getroffen von der Hochwasserkatastrophe. Der Boulevard ist an manchen Stellen geradezu explodiert, der darunter verlaufende kleine Wasserlauf war aufgrund der extremen Menge an Regen, der innerhalb kürzester Zeit fiel, so angeschwollen, dass er dort, wo er überbaut war, die Straße an vielen Orten zum Bersten brachte.
Dort aber, wo er (und andere kleine Wasserläufe) frei floss, überschwemmte er Gärten, Keller, Garagen und Souterrainwohnungen.
Alle Häuser und alle Läden sind hier schwer getroffen. Die Haustüren stehen offen, aus jedem Haus, aus jedem Keller und jeder Tiefgarage werden immer noch triefende und verschlammte Dinge geschleppt und an Straßenecken oder einfach vor dem Haus aufgetürmt : vollgesogene Polstermöbel, Matratzen und Deckbetten, aufgequollene Pressspanmöbel, Mikrowellengeräte, Staubsauger, Computer, Fernseher, Wäsche, Kleidung, Kisten und Tüten mit Büchern, Papier … Die Müllabfuhr fährt seit Tagen ununterbrochen Müll ab.
90% der Läden hier im Viertel sind geschlossen. Ihre Scheiben sind durch das Hochwasser, meist aber durch hineinrutschende Autos zu Bruch gegangen und Wasser und Schlamm schossen mit einer Wucht hinein, dass die Inneneinrichtung und selbst schwere Kühlschränke darin herumpurzelten wie Bauklötze. Der Friseur, die Apotheke, der gerade neu umgebaute Tiefkühlsupermarkt, der Patissier, die jüdische Bäckerei, der arabische Metzger, der russische Tante-Emma-Laden, der Zweiradladen, das Bistro, der Pizzalieferant, der Schlüsseldienst und, und, und … und selbst eine kleine Filiale einer Versicherung ist betroffen, und an den Spanplatten, die die Glascheiben vorübergehend ersetzen, kleben Zettel wo man sich im Schadensfall nun hinwenden solle.
Niemand weiß, ob die Läden hier wieder öffnen werden. Zu groß ist der Schaden, selbst wenn eine Versicherung einen Teil ersetzt, und viele Besitzer der kleinen Läden hatten nicht mal eine Versicherung abgeschlossen. Die Stimmung ist trotz der solidarischen Hilfe der letzten Tage im Völkergemisch des Viertels gedämpft, mitunter verzweifelt. « Tout le quartier est à reconstruire. Moralement aussi. », schreibt heute Nice Matin.
Die Filiale der Credit Agricole hat ebenfalls geschlossen, einschließlich des Geldautomaten. Auch zehn Tage nach dem Hochwasser funktioniert nicht ein Geldautomat im Zentrum von Cannes und viele Filialen der Banken sind weiterhin geschlossen. Kreditkartenzahlung ist in den Bars, Restaurants und Geschäften und selbst an Tankstellen bis auf Weiteres ausgeschlossen. Kein Bargeld am Automaten, keine Kreditkartenzahlung … tausende von Gästen, die zu einem Kongress angereist waren und der Kommerz Cannois kommen dieses Jahr nicht zusammen.
Ach du liebe Lotte…
Bislang glaubte ich an – alle Mann anpacken, aufräumen und weitermachen. Das aber hört sich trostlos an…
Einen Laden wieder von Null (oder sogar von minus X ) wieder aufzubauen, bedarf mehr als nur Mut.
Ich drücke die Daumen dass das Viertel nicht den kompletten Charme verliert, wenn die kleinen Geschäfte nicht mehr öffnen können. Die Super U’s und Hypermarches an den Stadträndern verdrängen sowieso schon den ganzen Einzelhandel in den Dörfern und Städten.
Liebe Grüße
Gerd
Danke Gerd, es ist kein besonders charmantes Viertel und auch nicht touristisch interessant, viele Maghrebins, Afrikaner leben dort, – aber es stimmt schon, ich habe Angst, dass es beim Wiederaufbau leicht “gentrifiziert” wird, schickere Läden etc. damit es besser zum Rest von Cannes passt :/
Ohje, bon courage – und Geduld braucht es bestimmt auch eine gute Portion!
Danke, Micha!
OMG, ich habe garnicht mitbekommen, dass es SO schlimm war/ist!!! Hier in Deutschland dreht sich alles um das Flüchtlingsproblem und da sind viele Themen nur Randerscheinungen und gehen unter… Liebe Grüße nach Cannes
Ja, ist schlimm hier – aber nicht überall, es gibt Viertel, die sind überhaupt nicht betroffen. Und die aktuelle Flüchtlingsproblematik in Deutschland habe ich hingegen nur am Rande registriert … liebe Grüße nach Würzburg!
Oh Mann! Ich hab’ das ja im Fernsehn mitverfolgt und ich kann es immer noch nicht fassen. Eine dermaßen drastische Zerstörung. Im letzten Jahr hatten die Leute um Nîmes herum auch mehrere Male das Phénomène Cevenol, aber soviele Tote an der Côte!! So eine unglaubliche Tragödie. Schrecklich, einfach nur schrecklich!
Ja, ist es. Merci Eve!