Ostwind, Filme und la rentrée

abends am Strand

Es sei der Ostwind, der uns die Quallen herantreibe, wissen die neuen Strandbekanntschaften. In der Zwischenzeit gehöre ich zu dem uneinheitlichen Grüppchen um das braungebrannte Paar. Also so richtig natürlich nicht, dafür gehe ich zu früh, ich komme ja nur zum Schwimmen und hänge nicht den Rest des Tages, oder wenigstens den Rest des Vormittags plaudernd am Strand ab. Ich frage auch nicht ständig nach der Wasser- oder Lufttemperatur. Aber da mich die Niederländerin als neue Gesprächspartnerin erwählt hat und mir schon von weitem zuwinkt, wenn sie an den Strand kommt und sich gern neben mir niederlässt, gehöre ich jetzt, zumindest am Rand, dazu. Der Ostwind also. Gerade gegoogelt, scheint zu stimmen. Wieder was gelernt.

Ich sehe den Wetterbericht. Man kündigt uns wieder steigende Temperaturen an, dabei haben wir gerade leicht aufgeatmet. Die Sonne scheint seit ein paar Tage weniger brennend, das Licht wird milder, die Touristen in Cannes werden weniger, am Strand bekommt man auch um 9 Uhr noch einen Platz in der ersten Reihe und im Viertel gibt es wieder Parkplätze.

La rentrée, dieses unübersetzbare und sehr französische allgemeine Wiederanfangsgewusel nach der langen Sommerpause, kommt spürbar näher. Im August geht so gut wie nichts, alle Betriebe haben geschlossen, sogar die Pharmakonzerne produzieren nicht, so dass sich die Regale in den Apotheken und Parapharmacien (nur in etwa den deutschen Drogerien vergleichbar) im Sommer leeren. Sie brauchen eine Orthèse? Müssen wir bestellen, kommt aber erst im September. Oder ein Schuppenshampoo von X? Erst wieder im September. Vielleicht gibt es auch wieder Senf im September. Hoffen kann man ja, denn alles geht im September wieder los, auch die Schule beginnt wieder, und morgen heute wollte ich mit Tetiana endlich die fournitures scolaires erstehen, für die wir von der Schule eine lange Liste erhalten haben: all die Dinge, die im kommenden Schuljahr gebraucht werden. Liest es sich für den kleinen M noch recht schlicht, so wird es für den großen M schon anspruchsvoller. Kugelschreiber in mehreren Farben (nein, französische Kinder schreiben nicht mit Füller, was mich wirklich grämt), Textmarker, eine moderne Tafel und auswischbare Stifte, riesige Schulhefte, ein Paket Druckerpapier und erstaunliche 8 große Tuben Klebstoff UND zusätzlich Klebestifte! In die Hefte wird so gut wie nichts geschrieben, sondern Übungen werden ausgedruckt, darauf wird gemalt oder geschrieben und das wird letztlich in die Hefte geklebt, so dass sie am Ende auseinanderklaffende Heftmonster sind, die man unmöglich aufbewahren kann, sie sprengen jede Schublade und jedes Regal. Aber vielleicht ist das in Deutschland heute auch so?

Morgen Heute also wollte ich zu einer kleinen Papeterie (im August nur vormittags geöffnet, eine Variante des Betriebsurlaubs), die vielleicht ein bisschen teurer ist als der Supermarkt an der Ecke (alle Supermärkte bieten jetzt les fournitures scolaires an), aber man findet alles an einem Platz und die komplizierte Auswahl der Hefte überlasse ich gerne der freundlichen und erfahrenen Schreibwarenangestellten. Morgen Heute aber ist nicht nur der Tag der Libération von Cannes, sondern auch der Ukrainische Nationalfeiertag, Asche auf mein Haupt, das wusste ich bis vor ein paar Stunden tatsächlich nicht, und es gibt eine Versammlung irgendwo in Cannes. Das ist deutlich wichtiger als Schulsachen kaufen. In der kleinen Wohnung hängt nun auch eine große ukrainische Flagge, die, wie ich gerade gesehen habe, der große M stolz über seinen Schultern trägt, auf dem Weg zum Ukrainischen Fest.

Als wir neulich aus den Bergen zurückfuhren und wegen eines Defekts an einem Reifen nicht die Autobahn nahmen, sondern über die Küstenstraße zurückschlichen, waren die Jungs ganz aus dem Häuschen, dass in Villeneuve-Loubet demonstrativ die ukrainische Flagge wehte, und sogar ein zweites Mal, eingefügt in die lange Reihe der europäischen Flaggen, wehte es blau-gelb zwischen Italien und Frankreich. Die Jungs waren so stolz! Niemals zuvor habe ich die Symbolik von Flaggen so gespürt.

Hier gibt es neuerdings kritische Stimmen, weil ein paar riesige und sehr neue Geländewagen durch Cannes fahren, die ukrainische Kennzeichen haben. Das sind doch keine (armen) Flüchtlinge, raunzt mich aggressiv (nicht nur) meine Friseurin an. Da wird gleich wieder Verschwörung vermutet. Das ist die Mafia, oder? Ich zucke mit den Schultern. Muss ich jetzt alles wissen? Muss ich allen die komplizierte Geschichte der Ukraine erklären können, nur weil ich eine ukrainische Familie aufgenommen habe?

Ich habe Graue Bienen von Andrej Kurkow gelesen. Ein Buchtipp von Herrn Buddenbohm vor langer Zeit, ich habs jetzt auf die Schnelle nicht mehr gefunden, daher keine Verlinkung. Falls Sie etwas davon erahnen wollen, wie es sich in der (Ost-)Ukraine so lebt, dann kann ich es empfehlen. Ich bin nicht sicher, ob ich es gelesen hätte, hätten wir nicht Tetiana und die beiden Ms aufgenommen. Keine leichte Lektüre, obwohl es sich leicht liest; erzählt aus der Sicht eines Bienenzüchters, der seine Bienen aus dem umkämpften Gebiet in der Ostukraine in andere Gegenden, einschließlich der Krim, transportiert, damit sie in Freiheit und im Grünen herumsummen und Pollen sammeln können, und der ein liebenswerter Kerl, aber nicht der allerhellste Geist ist. Die Geschichte ging mir lange nach, obwohl ich viel dramatischere Filme über die Konflikte im Donbass gesehen habe.

Anderes Thema, wir haben in einer Vorpremiere “Les volets verts” gesehen, den neuen Film mit Gérard Dépardieu und Fanny Ardant. Sehr berührender Film, der, wie ich gerade der Zeitung entnehmen konnte, schlechte Kritiken bekam. Der Film ist eine Adaptation eines Buches von Georges Simenon, und um das Szenario etwas zu entstauben, aber nicht zu sehr zu verfremden, hat man ihn in die Siebziger Jahre transformiert. Die Rolle des alternden Schauspielers ist Dépardieu auf den Leib geschrieben, wenn ich das mal so sagen darf. Er begann mit Fanny Ardant in La femme d’à coté und er endet (zumindest in diesem Film) mit Fanny Ardant.

Und: das nächste DEFA-Festival in Cannes naht, dieses Jahr gehen wir in die Vollen mit den deutschen Filmen! Am 10. und 11. September werden wir mit Cinécroisette und in Zusammenarbeit mit dem Goethe-Institut “Der geteilte Himmel” zeigen, gefolgt von “Die Frau und der Fremde” und “Jadup und Boel”.

Wieland Koch von der DEFA-Stiftung wird anwesend sein und über die Filme und ihre Rezeption sprechen, begleitet, unterstützt und übersetzt von der genialen und rührigen Franka Günther, vom Institut Francais in Erfurt.

https://www.youtube.com/watch?v=KLTwZtEUCTQ

Das wird bestimmt hochinteressant und spannend! Die Filme werden im Original mit französischen Untertiteln gezeigt. Kommen Sie zahlreich!

Und eine kleine Ankündigung in eigener Sache: Am 18. September lese ich auf Einladung einer kleinen Stadtteilbuchhandlung in Unna-Massen. Es wird ein Nachmittag mit Kaffee, Kuchen und Kultur – ich lese aus meinen persönlichen Büchern und aus dem letzten Krimi. Falls Sie da in der Gegend zuhause sind, kommen Sie gerne dazu!

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9 Responses to Ostwind, Filme und la rentrée

  1. Karin sagt:

    Idem. Im August sind viele Geschäfte teilweise oder ganz geschlossen und es ist schier unmöglich einen Handwerker aufzutreiben. Also ein Wunder, dass doch einer kam, um unseren Aufzug zu reparieren, allerdings bleibt er (der Lift, nicht der Handwerker) noch immer in einem beliebigen Stockwerk stehen und bewegt sich nicht weiter. Im dritten Stock geht das an sich noch, aber runter in die Waschküche (und vor allem rauf) mit dem vollen Wäschekorb ist schon schweisstreibend, vor allem bei den Temperaturen. Auch bei uns die rentrée, bei L**l sind die fournitures scolaires schon so gut wie ausverkauft, jeder muss jetzt sparen, weiss man doch nicht wie es im Winter mit den Energiepreisen weitergeht. Heute morgen bei Telematin berichtete man über so etwas wie die restos du coeur nur für Schulbedarf.
    In meinem Urlaub hatte ich auch endlich Zeit zum Lesen, “Le consentement” von Vanessa Springora, “Junge Frau, am Fenster stehend, Abendlicht, blaues Kleid” von Alena Schröder, aber vor allem “Girl, Woman, Other” von Bernardine Evaristo (gibt’s auch in Uebersetzung) kann ich nur empfehlen.
    Liebe Grüsse aus Genf!

    • dreher sagt:

      Ja, keine Handwerker! Am Strand klagte eine Dame auch über einen nicht funktionierenden Aufzug. Das würde mich ja töten mit den Knien!
      Danke für die Lesetipps. Bei Springora fürchte ich mich vor dem Thema. Dieser Typ, der sie sich damals zur Geliebten machte, ist so ein widerlicher Kotzbrocken! Und alle haben sein Buch gelesen (und sich daran aufgegeilt!). Die anderen beiden Bücher muss ich mir erst ergoogeln.
      LG!

  2. Marion sagt:

    Menno, komm’ doch mal nach Köln!! Immer verpasst man Dich 😣… Habe heute schon die Dehnübungen aus dem Video gemacht 😉. Treppe runter war trotzdem schwierig. Aber Wunder darf man ja auch nicht erwarten. Jetzt sitze ich im Lieblinsgs-Biergarten, um der Hitze zuhause zu entfliehen. LG 👋🤞

    • dreher sagt:

      Naja, ich komme da hin, wo man mich haben will und freundlich einlädt und außerdem ein Budget hat, um mir Flug, Unterkunft und ein kleines Honorar zu zahlen. Köln ist gesättigt mit viel größeren AutorInnen und Events, da will mich keiner. Und in den anderen Städten haben die meisten Buchhandlungen kein Budget. Isso.
      Bravo für die Übungen!
      LG

      • Marion sagt:

        Nachträglich, aber viel wichtiger: ein Hoch auf die Unabhängigkeit der Ukraine!! 💙💛 Habe gestern noch eine Doku gesehen über die verletzten/getöteten Soldaten, und von einer unfassbar eindrucksvollen Krankenschwester, die sich ihrer annimmt.

  3. Rina sagt:

    Bezüglich der teuren Geländewagen: auch gut betuchte Menschen fliehen vor dem Krieg. Warum nicht irgendwo hin wo es schön ist?

  4. Maria Schwarzer sagt:

    Super mit Unna…mein Mann und ich kommen auf jeden Fall. Wir sind ja totale Fans ihrer tollen Bücher. Freuen uns schon. Liebe Grüße