Noch eine kleine Bergauszeit

Wir sind der erneuten Hitzewelle entflohen und haben noch einmal ein paar Tage in den Bergen verbracht. Dieses Mal nur Monsieur, Pepita und ich. Auf halbem Weg, am helllichten Nachmittag, kommen uns plötzlich Autos mit eingeschaltetem Licht entgegen. Deutliches Zeichen für ein Gewitter weiter oben. Und tatsächlich, es gibt sie noch die guten Dinge, das Wasser von oben, landläufig Regen genannt, ist plötzlich da, platscht und prasselt auf die Windschutzscheibe, der alte Scheibenwischer, so lange ohne Bewegung, funktioniert noch, hektisch wischt er streifig das Wasser davon, nicht sehr erfolgreich, es gießt und fließt über die Scheiben. Die Welt draußen ist verschwommen und schwarzgrau. Es regnet! Mehr als das, es schüttet, es gießt, es stürmt und es blitzt und donnert. Ein großes Gewitter entlädt sich über uns und begleitet uns eine ganze Weile. Dann, genauso plötzlich wie es da war, ist es vorbei, wir fahren aus dem Wasser und der Scheibenwischer, eben noch überlastet, quietscht auf der nun zu trockenen Scheibe.

Dort, wo das Gewitter schon durchgezogen ist, sieht die Welt aus wie frisch gewaschen, grüner die Bäume und Wiesen, klarer das Licht, die Berge plastisch, sie scheinen zum Greifen nah. Der Himmel ist wieder blau und die Sonne scheint. Hier und da ziehen ein paar Nebelfetzen durch das Tal. Die kurvige Bergstraße allerdings ist stellenweise voller Geröll und Matsch; Steine und Erde rutschen mit den Wassermassen von den steilen Hängen, dort, wo nicht Metallnetze gespannt wurden, die dies verhindern oder zumindest verhindern sollen. Steinschlag kommt dennoch immer wieder vor. Ich habe auf der Strecke nach oben ein paar fette Felsbrocken ausgemacht, die ich bei jedem Weg nach oben und unten und nicht nur nach Gewitter misstrauisch beäuge, denn, da bin ich sicher, eines Tages werden sie auf die Straße fallen. Ich hoffe, wir und auch sonst niemand, sind dann an diesem Ort.

Am frühen Abend kommen wir im Bergdorf an, die sommerliche Kleidung von der Küste, Flipflops und das dünne Flatterhemdchen, sind hier völlig unangebracht. Die Menschen tragen Fleecejacken und festes Schuhwerk und das nicht umsonst. 16 Grad sind es gerade mal. Wir können gar nicht schnell genug Socken (wie ungewohnt!) und Pullover anziehen, schon haben wir Halsschmerzen und Monsieur macht ein Feuer! Ende August werfen wir tatsächlich den Kaminofen an! Und ich koche Suppe zum Abendessen, etwas Warmes braucht der Mensch, als sei es schon Herbst.

Gerade habe ich auf Facebook einen Eintrag gelesen, wo sich jemand über die inflationäre Verwendung des Wortes “tatsächlich” ereiferte. Tatsächlich verwende ich “tatsächlich” ziemlich gerne, ich weiß aber nicht, woher es kommt, bin ich doch vom deutschen Mode-Wortmarkt ziemlich abgeschnitten. Wie Sie aber gemerkt haben, bin ich ein Kind des deutschen Werbefernsehens, und davon langfristig beeinflusst. Als wir durch das Gewitter fuhren und die Landschaft danach wie frischgewaschen aussah, fiel mir diese Werbung mit dem Grauschleier ein, den eine energische Faust damals von der Wäsche riss – mit dem richtigen Waschmittel natürlich. (Ich weiß es noch, wissen Sie’s?)

Nun gut, zwei Abende heizen wir, trinken Tee mit Honig und essen abends Suppe, bis wir uns an die Temperaturen gewöhnt haben. In den Bergen gibt es fast jeden Nachmittag ein Gewitter. Das ist (in den Bergen) normal im August. Manchmal blitzt und donnert es so heftig, dass wir kurzzeitig den Strom abstellen. Da wir eh nichts tun können, erlauben wir uns, die Sieste zu verlängern, ich lese alte Bände von Sempé und Monsieur erzählt mir Geschichten von früher.

Wie verwundert war ich, als ich vor jetzt 17 Jahren auf dem Bauernhof auf dem Nachbarberg jenseits des Flusses gelandet war und dort bei Gewitter alles stillstand – und regelmäßig die Sicherungen rausflogen. Alle diese alten Höfe und Häuser, die manchmal so exponiert stehen, haben bis heute keinen Blitzableiter. Als gäbe es diese Erfindung nicht. Unser Haus hat natürlich auch keinen. Gerade habe ich Monsieur gefragt, warum man die Häuser nicht damit ausstattet, er zuckt die Achseln. Die Kirche habe einen, erfahre ich so. Da kann man sich dann hinretten und beten, dass das Haus verschont bleibt.

An einem der ersten Tage organisiert der kleine Verein, Les écureuils en marche (nein, es hat nichts mit Macron zu tun, wir waren schon vor Macron en marche), dem ich angehöre, ein Loto. Das ist hier ein großer Klassiker und falls Sie es nicht kennen, es geht so ähnlich wie Bingo – das ich aber auch nicht kannte, als ich hierher kam. Man trifft sich in einem Saal, erwirbt ein paar Kartons, auf denen 15 Zahlen stehen, und dann werden Zahlen gezogen (in unserem Fall fallen kleine Holzkugeln aus einer ebenso kugeligen Metallkonstruktion) – findet man die ausgerufene Zahl auf einem der Kartons, legt man ein Spielsteinchen darauf, hat man die Zahlen einer Linie voller Spielsteinchen, ruft man “quine” (kinä) – und wenn alles mit rechten Dingen zugegangen ist, dann hat man etwas gewonnen. Die Gewinne werden größer, wenn man zwei Linien voll hat, und besonders groß bei einem carton plein, das heißt, wenn man alle Zahlen auf dem Karton mit einem Spielsteinchen abgedeckt hat. Die Gewinne beginnen bei einer Tüte Gummibärchen, einem Kinderbuch, einem Wanderführer, lokal hergestelltem Honig, Minzsirup und Käse, gehen über ein Gläserset, Seife und Handtücher, einem Wanderrucksack, bis hin zu ausgezeichnetem Wein. Loto ist ein leichtes und familienfreundliches Spiel, eine nette Nachmittagsbeschäftigung im ereignisarmen Dorfleben, und bei uns versammeln sich entsprechend alt und jung und auch Menschen aus anderen Dörfern und sogar eine Familie, die dort Urlaub macht. Die haben tatsächlich (!) sage und schreibe dreimal gewonnen und zusätzlich den Trostpreis, eine Flasche Champagner, abgestaubt, die ich an ihrer Stelle fairerweise an jemanden abgegeben hätte, der tatsächlich (!) wirklich nichts gewonnen hat, aber nun ja, jeder, wie er will. Das große Los, eine Eismaschine, ein riesiges Trumm, das zehn Kilo wiegt, und das ich keinesfalls in meiner Küche hätte unterbringen können, aber blieb im Dorf und wurde von einer alte Dame (95) gewonnen.

Samstags gibt es ein Konzert aus der (von der Region geförderten) Veranstaltungsreihe “Les soirées estivales”; alle Dörfer im Hinterland, so klein sie auch sein mögen, kommen darüber während der Sommermonate kostenlos (!) in den Genuss eines (oder zweier) Konzerte(s), eines Theaterstücks oder einer Zirkusveranstaltung. Wir erleben dieses Mal ein Konzert einer Gruppe aus Nizza, die ihre Lieder zu Weltmusik-angehauchten Tönen in nissart, im Nizzaer Dialekt, singen. Ich fühle mich so ähnlich wie seinerzeit bei einem Bap-Konzert, man denkt, man verstehe etwas, aber im Prinzip versteht man nix. ;-) Natürlich bewege ich mich dennoch zu den Salsa und Flamencotönen, schon, um es warm zu haben. Es hatte den ganzen Nachmittag durchgeregnet, man hatte in weiser Voraussicht für die Musiker und ZuhörerInnen zwei große Zelte aufgestellt, und ein drittes für die Außenküche des neuen Aubergists, der Fritten und Würstchen anbietet. Wir sind also, zumindest von oben, geschützt, allerdings wird es kein, wie erhofft, laues Sommerabendkonzert, wir sind mal wieder herbstlich mit langen Hosen, festen Schuhen und Fleecejacken angezogen, und nach drei Stunden ziemlich ausgefroren. Sommerabendkonzert in den Bergen bei 16 Grad. Danach gehe ich mit Wollsocken ins Bett.

Was mich in den Bergen zunehmend glücklich macht, ist, mit lokalen Produkten ein Essen zu machen. Ich erwarb auf dem Markt reife Tomaten, Schafskäse (von einem Schäfer aus G.) und frisches Basilikum und machte daraus eine viel schmackhaftere Variante von “Tomaten und Mozzarella”; beim Metzger gab es gutes Fleisch und von ihm hergestellte Panisse aus Kirchererbsenmehl. Und zum Nachtisch aufgeschlagenes Joghurt aus Schafsmilch von Marie, der Schäferin des Dorfes, zusammen mit, von einer Nachbarin gekochter, Marmelade aus wilden Pflaumen. Es macht mich so zufrieden, Lebensmittel zu essen, die direkt vor der Haustür entstehen. Und die zusätzlich so geschmackvoll und lecker sind!

I see faces

Ein Nachbar schenkte mir Zucchini, Kartoffeln und vom Regen etwas beschädigte vollreife Tomaten – aus denen ich Tomatensauce koche, und aus den Zucchini und den Kartoffeln mache ich kleine Puffer. Wir laden, wie man das so macht, mal diese, mal jene Nachbarn zum Essen ein. So viel zum Thema Einsamkeit im Bergdorf. Ja, wir sind wenige, aber wir hängen eng zusammen, man sozialisiert auf Teufel komm raus. Als ich einen sonnigen Nachmittag nutzen will, um draußen am Tisch etwas zu arbeiten, setzt sich eine andere Nachbarin dazu und erzählt mir, dass sie an Alzheimer erkrankt sei. Selbstverständlich schicke ich sie nicht weg, sondern höre zu, auch wenn ich so natürlich nie zum Arbeiten komme. Meine Art zu arbeiten wird ja sowieso nie verstanden (Monsieur, der lautstark heimwerkt, wird viel weniger gestört!), aber was für eine verrückte Idee auch, im August arbeiten zu wollen. Der August ist ein Ferienmonat in Frankreich, niemand arbeitet im August (außer natürlich die, die im Tourismusbereich tätig sind). En France les grandes vacances commencent le 1. juillet. Le 1. aout les usines ferment aussi, hieß es schon in meinem Französischlehrbuch und so ist es immer noch.

Heute morgen sind wir wieder an die Küste gefahren, ich habe das Flatterhemdchen an, aber eine Fleecejacke darübergezogen. Die Temperaturen steigen mit jedem Kilometer, den wir bergab fahren. Die Fleecejacke ziehe ich bei 24 Grad auf halber Strecke nach Nizza aus. Gleichzeitig mache ich die Klimaanlage an. 29 Grad werden es, die haben wir draußen und auch in der Wohnung, aber alles unter dreißig Grad ist erträglich. Geregnet hat es hier keinen Tropfen. Morgen früh gehe ich schwimmen!

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12 Responses to Noch eine kleine Bergauszeit

  1. Ute sagt:

    Danke Christiane, fürs Mitnehmen in die Berge🤩
    Landschaftsfotos, die aussehen wie gemalt, Du beschreibst die Stimmung so gut, dass ich das Gefühl habe, auch da zu sein und die Tomate konnte ich schon fast riechen durch das Bild🙃
    Bingo hab ich in den 80ern bei Toulouse erlebt, als wir die Oma meiner Schüleraustauschpatnerin besucht haben… ich fand damals sehr schräg 😁

    • dreher sagt:

      Sehr gerne, liebe Ute!
      Ja, ist schräg, ich habe mich in der Zwischenzeit daran gewöhnt, es gibt sogar richtige “Profis”, die wissen, welche Zahlen häufig drankommen und die die Kartons danach auswählen! Und tatsächlich hat die Dame zweimal gewonnen!
      Liebe Grüße!

  2. Marion sagt:

    Die Musik ist super, macht gute Laune! Auf einem BAP-Konzert war ich nie, aber als kölsches Mädsche verstehe ich die zumindest. Und die Natur ist wie immer majestätisch. Hier hat es letzte Nacht auch das 1. Mal seit Monaten geregnet! Herrlich, die Natur und man selber kann mal durchatmen! Die Dürre dieses Jahr ist schlimm. Die Augen vom Tomatengesicht sind aber kein “Eigenleben”? 😆 Lokale Produkte sind schon was Feines. Bin nachlässig darin, mehr auf Qualität zu achten. Der Gang auf den Markt statt in den Supermarkt würde da sicher schon helfen 🤔. Viel Spaß beim Schwimmen. Ich war am Sonntag auch wieder und die Lymphe wird dann immer so stark angeregt, dass ich danach ganz viel “Harndrang” habe und am nächsten Tag weniger wiege! Es gibt auch ein “Knie-Update” 😊, das berichte ich mal separat. Eine gute rentrée bei angenehmeren Temperaturen wünsche ich!

  3. Sunni sagt:

    Was für eine wunderschöne, liebevolle Beschreibung des späten Sommers in den Bergen. Mir war, als könne ich den Duft der frischen Luft riechen und die Musik hören. Wie schön, dass Sie dahin noch einmal aus der Hitze fliehen konnten. Wie wäre ein neues Buch mit Ihren Blogtexten und Fotos? Herzliche Grüße aus dem eigentlich erstmals bewölkten Thüringen, Sunni

    • dreher sagt:

      Danke liebe Sunni!
      Es hat uns gut getan, außerdem ist es dort, zumindest nachts, still und wir haben keinen Fernseher, das tut auch gut!
      Liebe Grüße!

  4. Flo sagt:

    Wieder ein schöner Bericht aus den Bergen, man wünscht sich gleich selbst dahin.
    Was für sie das Wort “Tatsächlich” ist ist bei mir das Wort “Eigentlich”, eigentlich verwende ich es nämlich ziemlich oft beim schreiben von Emails und bei Gesprächen wohl auch, und das eigentlich oft grundlos, den tatsächlich meine ich bei eigentlich eigentlich fast nie wirklich eigentlich, es ist irgendwie zu meinem beliebtesten Füllwort geworden, eigentlich! ;-)
    Schöne Grüße aus dem, heute mal angenehm frischen Osthessen, auch wenn es bei uns nicht wirklich viel geregnet hat.

    • dreher sagt:

      Haha :D auf Französisch sage ich ziemlich oft “si tu veux”, also “wenn du willst”, um einen Satz anzufangen – auch tatsächlich und eigentlich ziemlich sinnlos, keine Ahnung, wo ich das aufgeschnappt habe.
      Schöne Grüße nach Osthessen!

  5. Croco sagt:

    Pues…sagen die Spanier, wenn sie mal nichts sagen wollen.
    Das „ tatsächlich“ kommt, glaub ich, von der Synchronisation der englischen Filme. Jedes indeed wurde mit tatsächlich übersetzt. „Eigentlich, in der Tat, wahrhaftig, und zwar“ passten nicht zu den Mundbewegungen.
    Wie gesagt, ich weiß nicht mehr, wo ich das her habe.

    Das genieße ich auch sehr, eigenes Essen. Pflaumen vom Nachbarn, eigene Äpfel und Trauben. Leider sind seine Zucchini und Tomaten in diesem Jahr nichts geworden.
    Das einfache Leben!
    Ich glaube, wir müssen es tanken für den Winter. Der wird nicht so einfach werden.

    • dreher sagt:

      Danke für die Erklärung!
      Nein, wird nicht einfach werden, Putin hat Frankreich heute den Gashahn abgedreht. Seufz.

  6. Wibke sagt:

    Endlich fand ich die Ruhe, Dir in die Berge zu folgen. Wie schön, das alles. Das waren nun einige Minuten Urlaub beim Lesen, auf die einige Wochen Sehnsucht und Frankreichweh folgen. Ich mag ja auch wirklich sehr diese kleinen Konzert- und Festivalreihen im Hinterland. Ich erinnere mich noch gut an die zufällig erlebten Veranstaltungen im von uns sehr geliebten Villes-sur-Auzon, wo dann alles zusammenkam, Musiker*innen umsonst & draußen aus der ganzen Region spielten und wir dem glücklich beiwohnten.

    • dreher sagt:

      Danke dir Wibke! Ja, die Berge und die kleinen, eher untouristischen Orte in Frankreich, sind sehr wohltuend!
      Ich war seinerzeit verzaubert von den “Gratis-und-draußen”-Konzerten und Theaterstücken, die ich in Italien erlebt habe – ist vermutlich ein ähnliches Prinzip. Wenn man da unverhofft in den Genuss kommt, ist es umso schöner!