Nach Hause

Brisez la routine!

Bei Crocos August-Twitterlieblingen las ich neulich, dass die Dating-App Tinder der beste Ort sein, um einen Ehemann zu finden. Gut, es sei dann zwar der Ehemann von jemand anderem, aber eben ein Ehemann. Haha. Kürzlich fuhr ich hinter einem Bus her, auf dem Werbung für eine Ehebruch-App prangte. Gemacht von Frauen für Frauen. Ich war so schockiert, dass ich das Plakat fotografieren musste. Monsieur verstand nicht, warum. “Findest du das nicht schockierend”, fragte ich ihn, “eine Dating-App für verheiratete Frauen, die ein außereheliches Abenteuer suchen?!” Nö. Findet er nicht. Ehebruch ist an der Tagesordnung in französischen Ehen. Brisez la routine! Das gibt mir zu denken. Nur wir leben so eine monogame Langweiler-Ehe scheint mir.

Eine unserer Kakteen gibt derzeit alles, um sich zu vermehren. Agave potatorum. Sie blüht einmal, dann stirbt sie. Ich finde es ziemlich ausgeklügelt, wie sie ihre Blüten an einem über zwei Meter langen Blütenstand (gerade nachgelesen) langsam eine nach der anderen öffnet, um Bienen oder Schmetterlingen ein Maximum an Zeit zu geben, mit ihrem Pollen weiterzureisen.

Tragisch nur, dass wir, zumindest scheint mir das so, kaum noch Bienen oder Schmetterlinge in Cannes haben. Vermutlich gehen sie, dank der Stechmückenausrottung, mit diesen zeitgleich in die ewigen Jagdgründe. (Dieser Ausdruck ploppte gerade im Hirn auf, ich habe das Karl May-Thema, das in Deutschland diskutiert wurde, nur am Rand verfolgt, aber es genügt wohl, um mein Unterbewusstsein mit spezifischem Vokabular zu versorgen.) Den Rest machen die Plastikgärten. Es gibt zunehmend Hecken und Rasen aus Synthetik, da würde ich als Biene auch abwandern. Echte Hecken wollen gegossen und gepflegt werden. Beides kostet Zeit und Geld (oder einen Gärtner, der kostet auch Geld), und Wasser war in diesem Sommer knapp. Habe sie also Recht, die Plastikgartenbesitzer?

Plastikhecke Detail

Putin hat Frankreich heute den Gashahn abgedreht.

Heute ist Schulbeginn. La rentrée! Der kleine M. hat vorgestern viel Protestgeweint, er will nicht in die Schule gehen! NEIN! NEIN! Der große M. ist auch zögerlich, obwohl er traurig war, als die Ferien begannen, in den letzten zwei Monaten hat er sich gut von der Schule entwöhnt. Ich wünsche ihm, dass er seine Freunde wieder in seiner Klasse hat und sich an der Schule wohlfühlt.

School’s out

So viel hatte ich am 1. September geschrieben. Jetzt ist alles anders.

Der Schulbeginn hat sich nicht so geschmeidig entwickelt, wie ich gehofft hatte; der kleine M brüllte protestierte weiterhin lautstark jeden Morgen und ging nicht zur Schule, der große M, älter, ruhiger, verständiger, der nicht zusätzlich die Nerven seiner Mutter strapazieren wollte, ging brav hin, hat aber nervöse Ticks bekommen. Er geht nämlich nicht nur zur französischen Schule, sondern versucht ebenso, dem ukrainischen Schulunterricht zu folgen. Das ist ganz klar etwas zu viel. Das Leben in Ternopil funktioniert wohl vergleichsweise normal, die Schulen bieten zumindest wieder Präsenzunterricht an, und M sehnt sich nach seinen ukrainischen Schulfreunden, die jetzt alle in der weiterführenden Schule sind, während er hier noch in der Grundschule herumhängt. Alle drei der kleinen Familie sehnen sich nach zu Hause, vermissen Papa, Mann, Hund, Familie. Vermissen ihre Sprache, ihre Kultur, ihr Leben. Vorgestern Abend hat Tetiana uns mit vor Aufregung bebender Stimme informiert, dass sie zurückgehen werden. “Vorläufig”, sagte sie. “Mal schauen. Ich schreibe Euch, wenn wir dort bleiben.” Wir rieten ihr vorgestern, nicht alles definitiv zu beenden, das Wort “provisoirement” habe ich ihr buchstabiert. Wir baten ihr an, mit ihr zusammen einen verbindlichen Brief an die Schulbehörde zu schreiben, oder morgen beim offiziellen Elternsprechtag die Situation zu erklären, aber heute hat sie die Kinder kurzerhand per Mail von der Schule abgemeldet. Schluss mit dem Stress. Nicht nur der kleine M ist erlöst, auch der große M muss ab sofort nicht mehr zur französischen Schule gehen und Tetiana atmet ebenfalls auf.

Gerade noch haben wir die lange Liste der zu erwerbenden Schulsachen abgearbeitet, gerade noch haben wir den kleinen M von seiner Sonderbehandlung in der Kantine befreit, gerade noch hat Tetiana ihre Aufenthaltsgenehmigung für weitere sechs Monate verlängert, gerade noch haben wir mit einer Bekannten versucht, für Tetiana etwas im Theaterbereich zu finden, und gerade haben wir erfahren, dass sie bereits ein Busticket gefunden haben. Ganz praktisch, Cannes – Ternopil in 48 Stunden, wer hätte gedacht, dass es so etwas gibt, aber erst am 18. September, seufzt sie. Es dauert ihr jetzt, wo sie sich entschieden hat, alles zu lange. Sie ist aufgeregt und hofft, noch ein früheres Flugticket nach Krakau zu finden, und von dort wird es dann ebenfalls mit einem Bus weitergehen. Nach Hause. Nach Hause. Tetianas Französisch ist fast genau so holprig wie bei ihrer Ankunft, sie versteht nicht mehr, was wir sagen und fragen (Hat sie sich bereits vom Resto du Coeur abgemeldet? Von Pole emploi? Was sollen wir mit dem Bankkonto machen?), und sie findet auch keine französischen Worte mehr.

Ich bin betrübt, sie sind mir so ans Herz gewachsen. Aber ich kann sie auch verstehen. Der Krieg ist noch lange nicht zu Ende, dieses provisorische Leben zu dritt in einer kleinen Einzimmerwohnung, wie lange soll das dauern? Tetiana war von Anfang an gespalten – einerseits wollte sie etwas aufbauen, die Sprache lernen, einen Job finden, und gleichzeitig wollte sie es auch nicht. Sie wollte, dass die Kinder in die Schule gehen, aber gleichzeitig wollte sie nicht, dass sie dadurch zu französisch werden. Wir sind Ukrainer, und wir gehen auf jeden Fall zurück.

Ich habe es schon mehrfach hier erzählt, mein Studienschwerpunkt war Zeitgeschichte und besonders “Exilliteratur” – ich habe meine Magisterarbeit über eine jüdische österreichische Schriftstellerin und Verlegerin geschrieben, die in die USA emigriert war. Ich war sehr beseelt von diesem Thema und habe alles gegeben. Aus heutiger Sicht aber denke ich, wie wenig habe ich damals wirklich verstanden von dieser Exilsituation der emigrierten Schriftsteller und Schriftstellerinnen.

Unser gemeinsames Abenteuer nähert sich also seinem Ende. Bald werde ich mein Büro wieder nutzen können, das ist mir nicht unlieb; und nein, wir werden niemand anderen aufnehmen. Nicht nur, weil die Zeit mit der kleinen ukrainischen Familie so besonders war, sondern auch, weil ich Tetiana versprochen habe, dass sie zurückkommen können, wenn es, wir wollen es nicht hoffen, in Ternopil früher oder später “ein Problem” geben sollte.

Von Herzen Dank Ihnen allen, die Sie die kleine Familie unterstützt haben, unaufgefordert und großzügig, einmal und wiederholt. Es hat ihnen, vor allem zu Beginn ihres Aufenthalts, wirklich weitergeholfen. Die letzte Spende, die uns hier erreichte, und die für “Ferienunternehmungen” gedacht war, wollte Tetiana nicht mehr annehmen (sie war von Anfang an jedes Mal sehr beschämt, wenn ich ihr Geld, dass man mir für sie hat zukommen lassen, übergab; dieses Mal war es besonders schwierig), ich ließ die Scheine trotzdem auf dem Tisch liegen. Vielleicht finanziert diese Spende jetzt das Rückfahrtticket mit.

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12 Responses to Nach Hause

  1. Croco sagt:

    Das ist traurig, dass die Familie so zerrissen ist. Auch hier kehren die ersten Ukrainer wieder zurück. Aber sieh es mal so: ihr habt ihnen so viel Zuwendung und eine gute Zeit geschenkt, dass sie etwas haben, von dem sie zehren können. Mehr kann man nicht tun. Trotzdem ist es traurig.
    Sich in Menschen im Exil hinein zu versetzen, ist fast nicht möglich. Nach dem zweiten Weltkrieg sind so viele nach Deutschland zurückgekehrt, von denen man es nie dachte. Sogar jüdische Familien sind in das Land der Mörder ihrer Angehörigen zurückgekehrt. Verstehen muss man das nicht.

    Eine Dating App für Verheiratete? Ich glaube, um das zu verstehen, bin ich zu einfach gebaut. Oder ist das so eine Art Hobby? Statt tanzen geht man eben fremd? Gruselig.

    • dreher sagt:

      Danke Croco. Ja, es ist traurig für uns. Bei aller Sorge um die Sicherheit in der Ukraine, ist es für die Familie aber sicher froher und “gesünder” wieder vereint zu sein.

      Ich glaube, fremdgehen ist hier an der Tagesordung. Gerade erschien ein Film zu diesem Thema: Chronique d’une liaison passagère – eigentlich sollte es nur ein “plan Q” sein (nur um Sex gehen), aber bald ist die Komplizität der beiden Fremdgehenden überraschend stark … so die Filmankündigung. No comment.

  2. Marion sagt:

    Das sind Neuigkeiten… Wie lange war die Familie nun schon bei euch? Aber Heimweh ist Heimweh, Krieg hin oder her, und solche Entscheidungen höchst individuell. Das wird sicher erstmal ungewohnt sein für euch ohne sie und für sie ohne euch. Danke nochmals von Herzen für all Eure Unterstützung!!! 💙💛
    Zum Alltag: Die Plastikhecken sind nach wie vor gruselig. Das Pendant dazu sind hier die zubetonierten Vorgärten. Es gibt Bestrebungen, das zu verbieten, eben weil die Natur im Vorgarten zur Klimaregulierung ihren Beitrag leistet.
    Über Dating-Apps kann ich lustige und weniger lustige Anekdoten erzählen. Man kann dort ein Abenteuer, aber auch eine seriöse Beziehung finden. Ich hatte allein zwei Kolleginnen (26 bzw. 30), die ihren (festen!) Freund bei Tinder bzw. FriendScout kennengelernt haben. Und das sind nur die, die es zugeben. Ein moderner und mittlerweile normaler Weg der Kontaktaufnahme. Das echte Kennenlernen ist natürlich romantischer, es passiert nur so selten!

    • dreher sagt:

      Danke Marion. Sechs Monate waren (sind) sie jetzt hier, ziemlich auf den Tag genau.

      Nichts gegen Dating-Apps, es geht in der besagten App aber nicht um romantisches oder weniger romantisches Kennenlernen eines Partners, es geht um einen “plan Q” wie man hier sagt, und zwar für Frauen, die verheiratet sind, also durchaus einen Partner haben, den sie auch nicht verlassen wollen, aber mit dem der Sex zur (gähn) Routine geworden ist. “Brisez la routine” heißt es irgendwo auf der homepage.

      • Marion sagt:

        Das hatte ich schon verstanden 😉. Für die Fremdgeherei braucht es allerdings gar keine spezielle App, da reichen auch die normalen. Fremdgehen ist auch hier dadurch leichter geworden. Bei einer App nur für Frauen werden diese sich nicht mehr retten können vor Angeboten 😁.
        Bin in Gedanken heute viel bei Euch und Tetiana und den beiden Jungs.

  3. PaulineM sagt:

    Eine Flucht ist ein Trauma und es ist für Nichtbetroffene schwer zu verstehen, was so eine plötzliche Entwurzelung mit Menschen macht. Sie fühlen sich weder hier noch da zugehörig, haben Sehnsucht nach der Familie und Schuldgefühle, weil sie Sehnsucht haben und sich undankbar euch gegenüber fühlen. Ich bin einen ähnlichen Weg vor fast 30 Jahren gegangen, ungeplant das Land verlassen, aber unter friedlichen Bedingungen und nicht mit der Belastung eines Krieges oder mit der Angst um Angehörige. Dennoch hat es Jahre gedauert, bis ich mich in meinem neuen Leben wirklich zugehörig gefühlt habe. Nehmen Sie es ihnen nicht übel, dass die Sehnsucht stärker ist. Sie werden Sie und Monsieur in ihrem Leben nicht vergessen. Ich bin mir sicher, dass Sie einen großen Platz in ihrem Herzen behalten werden.

    • dreher sagt:

      Herzlichen Dank für Ihren lieben und verständnisvollen Kommentar.
      Ich bin ebenso, wenn auch unter anderen Bedingungen, nach Frankreich gegangen und weiß, wie schwer es ist, sich hier zuhause zu fühlen und wie anstrengend all das Fremde ist, obwohl ich hier leben wollte.
      Nein, ich nehme es Tetiana nicht übel, wie könnte ich. Ich bin betrübt, das ist so, und die Situation in der Ukraine ist nachwievor besorgniserregend, wenn auch vielleicht weniger in Ternopil.

  4. Eva sagt:

    Guten Morgen,
    das sind ja auf der einen Seite gute Nachrichten, aber da der Krieg wohl lange nicht vorbei sein wird, bleibt es weiterhin schwierig.
    Ich hoffe, sie nimmt das Geld für Notfälle mit, es wäre uns sehr recht! Und Notfälle können so verschieden sein: meine Schwiegereltern sind auch geflüchtet und kaum in D angekommen, war meine Schwiegermutter-sicherlich ungeplant- mit dem dritten Kind schwanger. Das hat den Start vor über 50 Jahren nicht einfacher gemacht…
    Danke an euch stellvertretend für die direkte Hilfe, ich bin immer noch sehr beeindruckt.
    Hier in D gibt es auch solche Fremdgehapps: „du trägst doch auch nicht jeden Tag die selben Schuhe“ oder „dein eigenes Bett kennst du ja gut genug“. Ich bin nicht prüde, aber ich finde das ziemlich widerlich. Mal davon abgesehen gibt es immer noch HIV, Hepatitis, Syphilis (grad wieder voll im Kommen, man mag es nicht glauben). Möge es immer den Willen, Kondome zu benutzen, geben!
    Ich hoffe, ihr habt auch etwas Regen bekommen, dosiert, für guten Nachtschlaf und echtes Grün!
    Herzliche Grüße,
    Eva

  5. Ursula Weber sagt:

    Liebe Christiane, vielen Dank für deine interessanten Berichte.
    Alles erdenklich Gute für euch und Tertiana und ihre Kinder! Herzliche Grüße Uschi ❣️🍀💙💛🍀😘

  6. Trulla sagt:

    Heimweh ist sehr schmerzhaft. Auch die beiden jungen Frauen, die mein Sohn in seine Familie aufgenommen hatte, sind jetzt, Anfang September, nach 6 Monaten, wieder zurückgegangen. Sie haben damit von behördlicher Seite die Option erreicht, zurückkehren zu dürfen, wenn nötig. Auch die Sohnesfamilie würde bereit sein, sie wieder zu beherbergen, wenn ihre Pläne, zum einen das unterbrochene Studium in der Heimat zu beenden und zum anderen den wichtigen Arbeitsplatz mit besonderen Kindern wieder auszufüllen, sich wider Erwarten nicht verwirklichen lassen sollten. Ihre Zukunft wollen sie in der Ukraine sehen, obwohl sie sich inzwischen gute Deutschkenntnisse erworben haben, ein Arbeitsplatz angeboten wurde und beide noch ungebunden sind.

    Ich kann gut verstehen, dass sie denken, dort gebraucht zu werden. Dennoch bleibt viel Sorge.

    Muss ich eigentlich vorwegschicken, kein Moralapostel oder sonstwie verklemmt zu sein, um derartige Anzeigen für peinlich zu halten? Passt allerdings zur traurigen Gesamtentwicklung, sh. die Selbstentblössungstendenzen in den TV Privatsendern. Da wundert man sich über gar nichts mehr.

  7. Claudia Pollmann sagt:

    “Literaten im Exil” ein Thema das mich schon seit Jahrzehnten (in werde Alt!) interessiert. Josef Roth, Johannes Urzidil und Stefan Zweig . Bei der Frage “welches Buch würden sie auf die einsame Insel mitnehmen?” währen es wohl immer diese Autoren.
    Ich wünsche deiner kleinen Familie viel Glück und Kraft für eine Rückkehr. Auch bei uns kehren aktuell sehr viele zurück. Und du bist ja vielleicht im Hinterkopf noch ein kleiner Schutzhafen wenn die Lage in der Ukraine schlechter wird.
    Das nicht dazu zugehören und das Heimweh kann ich gut verstehen. Meine Vorfahren haben das nicht so gut verkraftet und im Allgäu nach Krieg und Vertreibung aus dem Egerland keine Wurzeln gefunden. Da war sehr viel Resignation, Trauer und auch wenig Lebenswillen. Meine Mutter ist ziemlich traumatisiert und funktioniert auch nur im Rahmen ihres kleinen Lebens gut.
    Änderungen machen ihr grundsätzlich Angst. Sie reagiert dann sofort mit Erkrankungen. Ich musste das erst mal verstehen.
    Aktuell lese ich von Carsten Gansel “Kind einer schwierigen Zeit – Otfried Preißlers frühe Jahre.
    Der Titel passt so zu dieser Generation die als Kinder in diese schreckliche und schwierige Zeit geboren sind. Kann ich nur empfehlen.
    Mit der Aufarbeitung konnte ich meine Mutter gut verstehen. Wir verstehen uns gut und ich kann sie in ihren letzten Lebensjahren begleiten. Meine Schwester hat vor
    über 10 Jahren den Kontakt komplett abgebrochen. Was ich auch verstehen kann aber ich komme mit meinem Weg besser klar.
    Liebe Grüße
    Claudia

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