Lektüre bei Regen

Es ist immer wieder erstaunlich, wie alles zusammenhängt oder zumindest zusammenzuhängen scheint. Bei Herrn Buddenbohm habe ich neulich aus dem Augenwinkel den Link zu Konsalik wahrgenommen – den ich aber gar nicht angeklickt habe – Konsalik, an den habe ich bestimmt seit dreißig Jahren nicht mehr gedacht, obwohl ich glaube, dass ich nie wirklich an Konsalik “gedacht” habe, aber man hat seine Bücher wahrgenommen – auf dem Weg zum Zug in der Bahnhofsbuchhandlung, die damals noch einen schlechten Ruf hatte, eben wegen der trivialen Titel, die sie verkaufte; Aber jetzt, wo diese Erinnerung kurz im Hirn aufflackert, was entdecke ich nur wenige Tage später in dem Bergdorf im Hinterland der Côte d’Azur, in der ehemaligen Telefonzelle, die zur “cabine à livres” umfunktioniert wurde? Konsalik! Viele Bände! Natürlich auf Französisch.

Konsalik, leider unscharf

Nein, “Der Arzt von Stalingrad” ist nicht dabei, aber “Kosakenliebe” und “Das Geheimnis der sieben Palmen”, letzteres wird aber selbst von Konsalik-Liebhabern als “seicht” und “eine Zumutung” eingeschätzt, ich habe mich nämlich gerade ein bisschen informiert, den Podcast über Konsalik habe ich mir nun auch angehört. Es hat heute nämlich noch einmal so wahnsinnig viel geregnet, dass ich nicht “Un”-kraut jäten konnte.

livres accès

Im schönen Bücherschrank hier im Dorf (kleines Wortspiel mit “libre accès” und “livres accès”, meint freier Zugang zu Büchern) steht zwar kein Konsalik, dafür aber Erich Maria Remarques “Im Westen nichts Neues”.

Aber ich bin gerade gedanklich im Osten und auch in einem anderen Krieg, ich lese Jonathan Littells “Die Wohlgesinnten” (aus dem Französischen von Hainer Kober), das ich mir leider in einer gebrauchten Taschenbuchausgabe bestellt habe. Nicht nur, dass man es mit fast 1400 Seiten kaum in der Hand halten kann, die Schrift ist auch noch unglaublich klein. Ich habe gerade gesehen, dass es das auch als Hörbuch gibt, aber ich weiß nicht, ob ich mir das antun will. Ich mag das Blättern, das Vor- und Zurücklesen, das fehlt mir beim Hörbuch sehr, und wenn ich da etwas überspringe (was ich mir bei 50 Stunden Vorlesen durchaus vorstellen kann), dann habe ich immer das Gefühl, dass ich etwas Entscheidendes verpasst habe, das ich dann nicht so einfach nachhören kann, wie ich es nachblättern könnte. Verstehen Sie, was ich meine?

Ich weiß nicht, ob Sie “Die Wohlgesinnten” kennen? Ich bin darauf gestoßen, als ich mich mit der Geschichte der Ukraine beschäftigt habe und dabei auf das Massaker von Babyn Jar (es gibt mehrere Schreibweisen) gestoßen bin. Davon hatte ich noch nie gehört – oder nur vage, es war mir vor Jahren bei der Ausstellung über die Verbrechen der Wehrmacht schon einmal begegnet. Aber zu dieser Zeit hatte ich keinen Bezug zur Ukraine und es blieb ein Massaker unter vielen (dass man das sagen kann, ist erschütternd genug).

Von dem Callsen-Prozess, der in Darmstadt stattfand, zugegebenermaßen zu einer Zeit, als ich noch in der Grundschule war, hatte ich übrigens auch noch nie etwas gehört, aber auch später war dieser Prozess nie ein Thema, und ich habe doch in Darmstadt Abitur gemacht und hatte junge engagierte Sozialkunde- und Geschichtslehrer, die mit uns über den Nationalsozialismus gesprochen haben. Dass Kuno Callsen damals in Neu-Isenburg wohnte, wohin es auch meine kleine Herkunftsfamilie verschlagen hat, ist nur ein zusätzliches überraschendes Detail.

“Die Wohlgesinnten”, im französischen Original “Les Bienveillantes”, erschien während meiner Kulturabstinenz, die etwa von 2005 bis 2010 dauerte – meine persönliche Auszeit, in der ich mit dem Eintauchen in das Bergleben, in eine fremde Welt und Sprache völlig ausgelastet war. Deutsche Kultur und Bücher interessierten mich damals nicht (mehr), für französische Kultur und Neuerscheinungen war mein Französisch noch viel zu rudimentär. Auch heute lese ich lieber auf Deutsch (vor allem, wenn es sich um so dicke Wälzer handelt). Aber ich glaube, ich hätte es damals auch nicht gelesen, weil mir der Bezug zur Ukraine gefehlt hat. Es geht um die Erinnerungen des fiktiven SS-Offiziers Maximilian Aue und vor allem um das Massaker von Babyn Jar.

Wegen des Regens bin ich mit dem Ich-Erzähler Maximilian Aue gestern schon in Lemberg, Lviv heißt es heute, angekommen und über Tausende von stinkenden Leichen gestolpert, es gibt Vergeltungsmaßnahmen gegen die Juden, die als Täter gelten. Wir sind erst auf Seite 80 und es ist schon ziemlich unerträglich.

So viel für heute. Wir essen Fertigsuppe, die ich mit frischer Tomate und Knoblauch etwas aufpeppe, aber nein, keine kalte Suppe à la Gazpacho, nein, eine schöne wärmende Gemüsesuppe wird das. Ein Feuer machen wir am ersten Tag des Sommers dennoch nicht, wir ziehen einen zweiten Pullover an. Und Socken, die sowieso. Machen Sie’s gut.

Das hatte ich gestern Abend geschrieben, und dann erschien es mir doch zu düster für den längsten Tag des Jahres, an dem im Norden Mittsommer gefeiert wird und in Frankreich, zumindest in den größeren Städten, “La fete de la musique” stattfindet: viele Open-Air-Konzerte zum Mitsingen und Tanzen. Davon war gestern hier nichts zu spüren und zu hören. Wenn es ganz schlimm kommt, ziehe ich mich in die Berge zurück, sage ich immer und hoffe, dass ich dann auch davon hier nichts mitkriege.

Heute endlich Sonnenschein und blauer Himmel, ich putze die vom schmutzigen Schlammregen verdreckten Fenster und schaue kritisch auf den schon wieder grün werdenden Kiesplatz. Diesen trüben Text schicke ich nun ins hoffentlich überall sonnige Wochenende. Mal sehen, ob ich in nächster Zeit noch einen “Sonnenschein-Lektüre-Text” zusammenbasteln kann. à bientôt!

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10 Responses to Lektüre bei Regen

  1. Pingback: Normale Menschen machen seltsame Dinge - Buddenbohm & Söhne

  2. Vinni sagt:

    Über Babyn Jar hab ich neulich im Reiseblog von Andreas Moser gelesen, das ich mit seinen eher abseitigen Zielen gerne mag. Wenn ich auf den Beitrag verlinken darf:

    https://andreas-moser.blog/2020/04/20/babi-jar/

  3. Marion sagt:

    Was für schöne Bücherschränke in den Dörfern. Aber keine “Fête de la musique”, das ist ja ein Ding. Hier war wieder das ganze Wochenende Rambazamba auf dem Marktplatz und ich bin leider gar nicht erholt. Aber beim Fußball kann man ja dafür ein bisschen abschalten.
    Nein, das Buch kannte ich nicht. Und der Blog von A. Moser ist wirklich spannend und wichtig! Die Zeiten, als ich auch viel unterwegs (allerdings nicht so viel) und entdeckungsfreudig war, scheinen weit weg zu sein, seufz… Wünsche eine prima Woche nach Cannes!

    • dreher sagt:

      “Unser” Bücherschrank ist so schön, weil wir einen leidenschaftlichen Holz-Künstler im Dorf haben :D

      Ok, wenn du es auch nicht kennst, dann ist Herr Littell vielleicht einfach nicht so durchschlagend bekannt geworden, wie seine Auszeichnungen mich glauben machen wollen. Und ja, der Blog ist beeindruckend!

      Danke ebenfalls. Hier derzeit noch sehr grau und Regen (in Cannes! siehe nächsten Eintrag)

  4. Karin sagt:

    In Genf und Umgebung sind die frei zugänglichen Bücher”schränke” auch sehr beliebt, oft werden dafür einfach ausgediente Zeitungsständer mit transparenter Klappe genutzt (wenn hier jemand weiss, was ich meine). Fête de la musique dauert hier drei Tage, mit einem gigantischen Programm an Musik, Tanz, Vorführungen, Film und Workshops und trotz vielen Regens war gefühlt die ganze Stadt und viele Franzosen aus dem Umland auf den Beinen. Wir schauten uns u.a. eine Tanzvorführung an. Die letzten 10 Minuten trotzten die Tänzer einem gigantischen Regenguss und wurden mit minutenlangem frenetischen Applaus dafür gefeiert wie Helden. :) Statt Aperol Spritz hatten wir hinterher Hot Ginger, Hände und Füsse waren eiskalt. Was für ein Sommer…

    • dreher sagt:

      Danke für deine Eindrücke aus der Schweiz, liebe Karin! Wie toll, dass das trotz Regen so angenommen wurde! Liebe Grüße aus dem Süden, wo es auch nicht Sommer werden will.

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