Dies und das am Samstag

Heute Morgen, kurz nach acht Uhr, auf dem Weg zum Auto, um zum Strand zu fahren: Zwei junge Frauen wanken müde die Escaliers Continental hinauf. Sie haben Reste von dekorativer Schminke im Gesicht, eine schlenkert die Sandalen in der Hand und hat Mühe, geradeaus zu gehen. “Les plages électro?” frage ich. Sie nicken, “war mega!”, murmeln sie.

Gestern wollte ich nicht glauben, dass es 15 Stunden Musik am Tag gibt, aber nach den Konzerten, die von 14 Uhr bis 0.30 Uhr gehen, gibt es noch “After-Konzerte” bis 5 Uhr morgens! Übrigens sind alle drei Tage ausverkauft, und auch der Wettergott meint es gut mit den Festivalbesuchern: Das für heute Abend angekündigte Gewitter hat sich nach ein paar Windböen wieder verzogen.

Ich finde den letzten Parkplatz, aber dann ist fast kein Strand am Strand! Das heute türkisblau verwaschene Meer (leider keine Fotos, wenn ich alleine an den Strand gehe, nehme ich kein Smartphone mit) wirft für mediterrane Verhältnisse sehr hohe und kräftige Wellen, die schäumend und raumgreifend über den Sand laufen. Es gibt heute quasi nur eine Reihe, niemand will vorne liegen, alle drücken sich an die Begrenzungsmauer. Das Publikum ist heute auch ein anderes: kaum Senioren, dafür Familien mit Kindern. Als ich mein Quallenschutz-T-Shirt anziehe und mit Flossen bewaffnet losstapfe, rät mir die junge Mutter, deren Sohn völlig außer Rand und Band in den Wellen herumhüpft, und die ich nach der Quallensituation befragt habe (keine, sagt sie), vorsichtig zu sein. Es würde gleich sehr steil werden. Ich danke ihr, es befremdet mich aber auch. Neulich im Bus ist ein Mann für mich aufgestanden. Ein Mann, der schätzungsweise nur unwesentlich jünger war als ich. Da habe ich noch kategorisch abgelehnt, aber so weit sind wir schon! Seither habe ich im Bus einen Konflikt, für wen stehe ich noch auf? Oder kann ich ohne schlechtes Gewissen sitzen bleiben, weil die anderen in mir schon eine bedürftige Seniorin sehen? Einmal habe ich einer (in meinen Augen) älteren Frau, die zumindest älter war als ich, meinen Platz angeboten, aber auch sie lehnte ab. Vielleicht war sie auch gekränkt?

Ich gehe also vorsichtig ins Wasser, warte lange, bis ein paar weniger hohe Wellen kommen, und ja, es geht sehr steil ins Meer. Rein ist eher kein Problem, aber ich denke, dass ich da später nicht mehr rauskomme. Ich schwimme weit hinaus, weiter draußen sind die Wellen weniger stark und von dort schwimme ich in die nächste Bucht, weil ich sehe, dass die Wellen sich dort weniger heftig brechen. Allerdings ist das Meer hier sehr schmutzig, es ist als würde man durch Spülwasser schwimmen. Ich lasse mich von den Wellen an den Strand tragen und lande beinahe sanft, von dort laufe ich zurück.

Heute Nachmittag besuche ich eine Ausstellung zur Geschichte der “Libération”, der Befreiung Südfrankreichs von der Nazi-Herrschaft. Zum 80. Mal jährt sich das “Débarquement de Provence”, die Landung der Alliierten im Süden, die sogenannte Operation Dragoon, die am 15. August 1944 begann. Die Städte, Gemeinden und Dörfer im Süden wurden nach und nach befreit und feiern jeweils “ihren” Befreiungstag, für Cannes ist es der 24. August. Ich erwartete eine Fotoausstellung, immerhin wurde die Ausstellung mit einem Foto von amerikanischen Soldaten auf einem Panzer in der Rue d’Antibes beworben, aber ich fand nur etwa 80 Schaufensterpuppen in Soldatenuniformen verschiedener Länder und Einheiten. Dazwischen, neben Waffen und Fallschirmen, auch kuriose Objekte wie etwa eine Maschine zum Kodieren oder Dekodieren von Texten (ich habe es nicht ganz verstanden). Alle Uniformen sind Originale, einschließlich der Gürtel, Abzeichen, Schuhe usw. und wurden von einem einzigen Sammler zur Verfügung gestellt. Auch deutsche Soldatenuniformen und Uniformen der Hitlerjugend sind an blonden, blauäugigen Kinderpuppen zu sehen. Etwas schockiert bin ich, als ich dazwischen eine leidend aussehende Puppe in der KZ-Häftlingskleidung eines politischen Häftlings (roter Winkel) sehe. Zum ersten Mal sehe ich diese Kleidung direkt, ohne trennendes Museumsglas. Es ist ein grob gewebter Stoff, der mich an eine Wolldecke erinnert, fleckig und abgetragen, ausgefranst, an manchen Stellen geflickt.

Ob mir die Ausstellung gefällt, fragt mich eine der aufsichtsführenden Damen in diesem Moment. Ich bin schockiert von diesem “Ça vous plait?” Gefallen sei nicht das richtige Wort, antworte ich vorsichtig, aber ich sei beeindruckt von dieser Sammlung. Ich glaube dieses “gefällt es dir?” wird in Frankreich anders verstanden, als ich es empfinde. “Ça t’a plu?” fragt mich auch Monsieur, selbst nach den dramatischsten Filmen, bei denen ich zutiefst erschüttert aus dem Kino gehe. “Hat’s dir gefallen?” Jedes Mal denke ich, was ist das denn für eine gefühllose Frage. Aber vielleicht kann man im Französischen darauf einfach “ja” sagen, und in einem weiteren Satz die Erschütterung oder das Berührtsein ausdrücken. Es gibt noch viele Feinheiten zu lernen.

Als ich die Ausstellung wieder verlasse, habe ich das Bedürfnis ein bisschen Leben zu sehen. Die Musik von den Konzerten der Électro Plages wummert die Croisette entlang – ich gehe aber nicht so weit, sondern bleibe bei den Autos der Superreichen vor dem Carlton hängen. Der weiße Bugatti aus Saudi Arabien hat das Sonderkennzeichen V1! Ich versuchte zu googeln, wem es gehört (vermutlich dem König von Saudi Arabien persönlich), finde aber nur die Preise, für die es verkauft oder versteigert wird – es geht um das Nummernschild! Millionen Dollar für ein Nummernschild! Die kleinstmögliche Nummer muss es sein! Nicht nur das Auto kostet Millionen, sondern auch das Nummernschild! OMG. Und es ist nur ein Stück Blech, nicht einmal mit Diamanten besetzt.

Übrigens: Das teuerste französische Nummernschild kostete 15,90 €. Es wurde extra für die Firma angefertigt, bei der man Nummernschilder bestellen kann.

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8 Responses to Dies und das am Samstag

  1. Marion sagt:

    Der Mann im Bus wollte vielleicht nur Gentleman sein? Und die Frau am Strand nur nett? Richtig fette Autos sieht man hier auch regelmäßig vor der Dorf-Shishabar 🙄. Und kein König von Saudi Arabien weit und breit 🤔. Ich glaube, das “t’a plus?” ist einfach eine Floskel, so wie “wie geht’s?”, auf die man gar keine ausführliche Antwort erwartet oder will. Fahrt ihr nicht mehr in die Berge zurück? Ist doch viel angenehmer. Oder wartest du immer noch auf das Paket? Alain Delon ist tot! Eben in den Nachrichten gehört. Schönen Sonntag!

    • dreher sagt:

      “Alain Delon ist tot. Schönen Sonntag!” hahaha, ich vermute du bist in diesem Fall nur unfreiwillig komisch :D
      Ich weiß, war schon ganz früh in den Nachrichten und jetzt kann man sich vor “Wen hat Alain Delon wirklich geliebt?” “Wie heißen die Kinder von Alain Delon?” “Alain de Delon und die Frauen” in den Medien kaum noch retten. Ich wünsche mir, dass sie das TV-Programm ändern und “Piscine” mit Romy Schenider bringen. Das wäre der Film zur Saison.
      Wir würden gern zurück in die Berge fahren, aber die Baustelle hat sich verkompliziert – auf das Paket hoffe ich zwar noch, aber dass es mir direkt geliefert wird, glaube ich nicht mehr.

      • Marion sagt:

        😁 Haha, na ja, in Tränen ausgebrochen bin ich nicht… Oh ja, “Piscine” möchte ich auch nochmal sehen, und “La veuve Couderc” hat mich umgehauen, ein Meisterwerk! Ansonsten kenne ich gar nicht so viele Filme mit ihm, vielleicht kannst du uns ja aufklären…

        • dreher sagt:

          Ich bin auch kein besonderer Delon-Fan. “La veuve Couderc” kenne ich nichtmal. Aber ich kann mal nach einem informativen Nachruf in der Presse suchen. Da sollte es ja jetzt einige geben ;-)

          • Reiner Wadel sagt:

            Ich finde, in ” Der eiskalte Engel” spielt er eine umwerfende Rolle. Auch in “Rocco und seine Brüder” finde ich ihn sehr überzeugend. Seine politische Einstellung, …. Na ja, schweigen wir lieber darüber.

          • dreher sagt:

            “Der eiskalte Engel” bzw. “Le Samurai” (frz. Titel) wird heute Abend ausgestrahlt, gefolgt von “Piscine” – ich habe beide wohl schon gesehen, mir ist aber nur “Piscine” (mit Romy) in Erinnerung geblieben.
            Er hatte auch weniger charmante Seiten und uncharmante “Freunde”, aber naja, über die Toten nur Gutes…

  2. Croco sagt:

    Meine Schwester hatte ein Plakat von Alain Delon im Zimmer hängen. Ich fand ihn immer sehr schön in jungen Jahren und auch sehr lässig in seinen Rollen. Er wirkte aber immer kalt und recht gefühllos.
    Mich wundert immer, dass Leute ins Wasser gehen mit starke Strömung und keine Flossen tragen. Die eigene Kraft reicht doch manchmal nicht, von draußen wieder ans Ufer zu kommen, wenn der Sog so groß ist.
    War diese Kodierungsmaschine eine Enigma? Die könnte ich dir erklären, bin gerade im Erklärbärmodus.

    • dreher sagt:

      Danke dir! Ich dachte verstanden zu haben, dass es eine Enigma ist, von denen es nur noch ein paar Exemplare gibt, aber im Internet sieht die Enigma ganz anders aus, als das, was ich dort gesehen habe. Ich habe den Film über Thuring gesehen, so in etwa habe ich (damals) verstanden, wie das Ding funktionierte.

      Die Strömung hier ist nicht so stark, ich hatte nur Angst, mit dem schwachen Knie das steile Sandufer nicht und vor allem nicht schnell genug hochzukommen, und mich dabei von den Wellen “einfangen” und wieder zurückreißen zu lassen (wie ich es später bei einer älteren Dame gesehen habe! Die wurde völlig durchgewirbelt und brauchte Hilfe, um da wieder rauszukommen. Dieses Spektakle wollte ich nicht liefern, daher das Ausweichen in die flachere Bucht)