Milli Vanilli in Cannes

Ich weiß nicht, wie viel von Cannes überhaupt zu Ihnen dringt. Wissen Sie beispielsweise, dass dieses Mal mehrere deutsche Filme vertreten sind? „In die Sonne schauen” von der bislang unbekannten Filmemacherin Mascha Schilinski wurde hier sehr gut aufgenommen. Dann gibt es noch „Amrum” von Fatih Akin, der aber nicht im Wettbewerb läuft, sowie Christian Petzolds Film „Miroirs No. 3”, der innerhalb der „Quinzaine des Réalisateurs” gezeigt wird.

Ich hatte mir gestern vorgenommen, für „Amrum” von Fatih Akin eine Karte zu erbetteln, so wie ich das letztes Jahr für die Verleihung der Goldenen Palme gemacht habe. Das hatte prima geklappt und so war ich guten Mutes mit meinem Zettel „Cherche Invitation Amrum” zum Palais des Festivals gelaufen. Ja, gelaufen, denn die Busse fuhren eher nicht, und nachdem ich eine Viertelstunde gewartet hatte, dachte ich, der Film würde ohne mich anfangen, wenn ich nicht losginge.

Ich bin zunächst ein kleines bisschen aufgeregt mit meinem Schild in der Hand, aber ich bin nicht die Einzige, die eine Karte sucht. Jemand möchte eine Karte für „La Petite Dernière“, ein Coming-of-Age-Film von Hafsia Herzi, und jemand anderes möchte eine Karte für „Eddington“, den „Le Monde“ für den schwärzesten Film in dieser Saison in Cannes hält. Ich stehe vor dem Zugang und versuche die Leute gewinnend anzulächeln. Ein junger Mann fragt mich, ob ich stattdessen einen anderen Film sehen möchte. Offensichtlich ist der Saal so leer, dass sie Zuschauer suchen. Ich lehne jedoch ab, da ich so fixiert auf „Amrum” bin und von dem Film, den der junge Mann mir vorschlägt, noch nie etwas gehört habe. Viele sehen mein Schild und gehen weiter. Aber eine Frau in Begleitung eines Mannes nickt mir zu. Sie hat drei Karten und könnte mir eine geben. Das Problem ist nur, dass die Karten alle digitalisiert sind. Mit einem Blick auf meinen Oberkörper, an dem kein Badge herumbaumelt, stellt sie fest, dass ich keine Akkreditierung habe. Also müssen sie mich mitnehmen, ohne sie käme ich nicht rein, sagt sie. Das Paar und ich eilen also zu einem anderen Eingang. In der Zwischenzeit ist vor dem Palais aber alles weitläufig abgesperrt. Wir müssen einen großen Umweg nehmen, auf der anderen Straßenseite am Palais vorbei und dann erneut die Straße überqueren, um hinter dem Palais zum direkten Eingang des Saales Agnes Varda zu gelangen. Es wimmelt vor Menschen. Ich habe Mühe, Schritt zu halten, und die beiden nicht aus den Augen zu verlieren. Sie tippt beim Laufen und schickt mir immerhin schon eine Karte via WhatsApp auf mein Handy. Der Mann, neben dem ich hereile, kommt mir bekannt vor, aber ich weiß nicht, woher. Ein Schauspieler? Außer Atem erreichen wir den Eingang und die Sicherheitskontrolle. Und dann komme ich nicht rein! Die Karte ist eines. Aber ohne Akkreditierung geht nichts. Auch wenn die Dame mich tapfer als ihre Begleitung ausgibt. Nichts zu machen. „Tut mir leid”, sagt sie schließlich achselzuckend und lässt mich am Eingang zurück. “Vielleicht klappt es an einem anderen Zugang”, sagt die Dame von der Sicherheitskontrolle und schickt mich wieder zurück, dorthin, wo wir hergekommen sind.

Aber jetzt rollen schwarze Autos mit getönten Scheiben auf der Straße vor dem Palais entlang. Hier komme ich nicht mehr über die Straße, signalisieren mir die strengen Polizeibeamten. Ich müsse entweder warten oder einen noch längeren Umweg nehmen. In fünf Minuten wird der Zugang zum Film geschlossen, aber ich brauche bei dem Umweg und all den Menschen mindestens fünfzehn Minuten, um überhaupt zurückzukommen. Ich stehe da und bin kurz verzweifelt. Dann atme ich aus, höre auf zu hetzen und lasse es gut sein.

Ich nehme den langen Weg zurück, gehe erstmal ein Eis essen und entscheide mich für Plan B: Ich fahre zum Kinokomplex Cineum in Cannes la Bocca, wo es in zwei Stunden auch eine Vorstellung von „Amrum” gibt. Vielleicht sind sie dort etwas weniger streng. Ich suche die Bushaltestelle, aber nein, hier fährt kein Bus, denn während des Festivals ist alles anders. Also laufe ich zurück zum Bahnhof, denn das ist der einzige Ort, von dem ich sicher bin, dass er von allen Bussen angefahren wird., Ich erwische gerade noch den richtigen Bus, der aber, wie ich bemerke, während des Festivals eine andere Route fährt und keinesfalls bis zum Kinokomplex. Eine Dame tröstet mich: Von der Endhaltestelle könne ich in gut zwanzig Minuten auch zu Fuß hinlaufen. Der Busfahrer schlägt mir jedoch vor, unterwegs umzusteigen und den extra dafür eingerichteten Shuttlebus zu nehmen. Das mache ich dann auch – und mit mir viele andere. Der Bus ist proppevoll und quält sich endlos durch den dichten Straßenverkehr. Vierzig Minuten später sind wir da.

Auch hier gibt es einen roten Teppich und ein Sicherheitsempfangskomitee, dem ich mein Anliegen vortrage. Sie schütteln den Kopf. Ohne Akkreditierung komme ich auch hier nicht rein. „Gibt es denn gar keine gedruckten Karten mehr?”, frage ich. Die jungen Menschen wissen gar nicht, wovon ich rede. Einer der Herren schlägt mir vor, ich könne doch einen anderen Film im Kinokomplex ansehen. Ja, das hatte ich mir als Plan C auch überlegt. Allerdings ist das Nachmittagsprogramm im Kinokomplex etwas mau. Der einzige Film, für den ich nicht noch einmal zwei Stunden warten muss, ist die Geschichte des “Gesang”-und-Tanz-Duos Milli Vanilli. „Girl, you know it’s true” ist vielleicht nicht nur der französische Titel. Die Dame an der Kinokasse empfiehlt ihn mir sehr. Sie bedauert, dass er in Frankreich keinen Erfolg hat.

Den jungen französischen Zuschauer:innen von heute sagt „Milli Vanilli” natürlich nichts, aber ich habe die Geschichte der beiden in meinen jüngeren Jahren live mitverfolgt, wenn auch nur am Rande meines Gesichtsfeldes; es war einfach nicht meine Musik. Dass sie damals aufgeflogen sind, weil sie überhaupt nicht selbst gesungen haben, sondern der Produzent Frank Farian oder andere Sänger, hat mich wenig berührt. Dass man darüber einen Film drehen kann? Aber es ist das oder nichts. Es ist ein deutscher Film und ich will jetzt einen Film sehen! Aber ich muss noch warten, bis der Saal frei ist. Leider muss ich direkt neben der Schlange der Festivaliers warten, die für „Amrum” anstehen. Das grämt mich sehr und ich spüre noch einmal meine große Enttäuschung. Fast kommen mir Tränen.

Wir gehen zeitgleich in unsere Säle: „Amrum” links, „Milli Vanilli” rechts. In meinem Saal bin ich ganz allein, das ist mir noch nie passiert. Und ich bleibe auch allein.

Vermutlich war ich psychologisch nicht wirklich für „Milli Vanilli” bereit. Zusätzlich ist es die französische Version. Ich finde den Film schlecht, und weder witzig noch anrührend, wie ich beim Nachlesen in allerhand guten Kritiken gelesen habe. Allerdings habe ich seit gestern „Baby, don’t forget my number” als Dauerschleife im Kopf.

Hier bitteschön, damit Sie auch etwas davon haben.

Danach steht mir eine erneute Bus-Odyssee bevor und es dauert etwa eine Stunde, bis ich müde zu Hause ankomme.

Zuhause suche ich den Namen der Dame, die mir die Karte via WhatsApp geschickt hat. Sie ist Politikerin (La Gauche républicaine et socialiste) und in ihrer Timeline sehe ich, dass sie an vielen Demonstrationen in Paris teilgenommen hat. Dort sehe ich auch immer wieder den Mann, der sie in Cannes begleitete. Auch er ist vermutlich Politiker, was erklären würde, warum ich glaube, ihn „vom Sehen” zu kennen. Vermutlich vom Fernsehen. Seinen Namen finde ich jedoch nicht.

PS: Der Film, den ich ausgeschlagen hatte, ist “L’Inconnu de la Grande Arche”, der von dem bis dahin unbekannten Architekten Johan Otto van Spreckelsen und den Bau des großen Triumphbogens, der Grande Arche, in La Défense (in Paris) handelt. Gerade gegoogelt: Der junge Mann, der mich angesprochen hat, war der Regisseur persönlich. Ach je. Ich schäme mich. Und es wäre vermutlich deutlich interessanter geworden als Milli Vanilli.

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8 Responses to Milli Vanilli in Cannes

  1. Poupou sagt:

    Meine Güte das Telefon! Ich fühle mich gerade sehr alt…

    Liebe Grüße
    Poupou

    • dreher sagt:

      Haha. Ja, ging mir während des Films mit dem achtziger Jahre Ambiente und der Kleidung (!) die ganze Zeit so! 😅

  2. Eva sagt:

    Oh je! ;-)

  3. Marion sagt:

    Quel bordel, du Arme 🙁. Zur Ehrenrettung von “Milli Vanilli” sei vielleicht gesagt, dass sie zumindest früh etwas zum damals noch nicht so präsenten Thema “diversity” beigetragen haben. Und “Amrum” wirst du noch zu sehen kriegen – mit etwas Geduld 😆. Du hast mich jetzt total neugierig auf dieTapie-Serie gemacht, aber ich hab’ ja kein Netflix mehr, so ein Mist. Also muss ich mich auch in Geduld üben… 🙄. Euch noch einen schönen Sonntag!

    • dreher sagt:

      Dein Kommentar war mal wieder im Papierkorb gelandet *augenroll*
      Ja, was “diversity” angeht, hast du sicherlich recht – und Frank Farian damit ein Vorreiter!
      “Tapie” hört relativ früh auf, mit seinem ersten Gefängnisaufenthalt irgendwann 1995 wegen eines Fußball-Korruptions-Skandals. Ich konnte das in der Serie manchmal nur mit angehaltenem Atem sehen, dieses großspurige sich über alle Regeln hinwegsetzen und das Thema Schulden einfach ignorieren (mein erster Mann hatte solche Züge) – und wenn man weiß, dass er seine Frau mit 642 Millionen Euro Schulden zurückgelassen hat, krieg ich Atemnot. Und sie hat immer zu ihm gehalten, DAS ist groß!

      • Marion sagt:

        Wow, das nennt man heute “co-abhängig”. Oder vielleicht verstehe ich nicht, was Liebe bedeutet 🤔… (hoffentlich jetzt nicht im Papierkorb)…