Patrick ist gerade abgeholt worden zur 3. Chemotherapie, wie immer hab ich geweint beim Abschied, obwohl ich sogar froh bin, dass er in die Klinik kann. Es entlastet uns beide. Ich weiss, dass er gut aufgehoben ist, die Sicherheit, die die Klinik gibt, lässt ihn regelmäßig aufblühen. Ich bin froh, dass die diversen beunruhigenden „Nebenwirkungen“ die in den letzten zwei Tagen aufgetreten sind, von Ärzten bekuckt und besprochen werden.
Mich lassen plötzliche Verschlechterungen sofort noch flacher atmen, Patrick reißt sich tierisch zusammen, um mir nicht noch mehr Angst zu machen, dabei bräuchte er jemanden, der stark ist an seiner Seite, damit er ein bisschen schwächer sein darf.
Die letzten zwölf Tage waren lang. Ich hatte keine Zeit zu schreiben, zwischendurch dachte ich auch, wie viel von diesem ganzen Elend soll ich überhaupt veröffentlichen? Vielleicht ist es ganz gut so, dass ich nicht sofort alles schreiben kann, manche schlimmen Momente sind eben nur Momente. Viele Kleinigkeiten sind nach ein paar Tagen nicht mehr wichtig, auch wenn sie es zum aktuellen Zeitpunkt waren. Das, was übrig bleibt, ist allemal genug.
Ich will von vorne beginnen. Patrick kam am 7. März von seiner letzten Chemo zurück, und er saß im Rollstuhl. Er hatte solche Schmerzen in der Hüfte, dass er nicht laufen konnte. Diese Schmerzen hatten nachts vor der zweiten Chemo begonnen. Ein CT, die in der Klinik gemacht wurde, zeigt nicht genau einzuschätzende Flecken in der Hüfte, die vorher noch nicht da waren. Man hatte ihm ein weiteres Medikament zusätzlich zur Chemo gegeben, in der Hoffnung, dass es den Schmerz lindern würde. Wie die weitere Therapie dafür aussehen wird, war bei seinem Weggang aus der Klinik noch unklar.
Ich war erschüttert Patrick so zu sehen, der mit schmerzverzerrtem Gesicht und von den beiden Krankenpflegern gestützt die Treppen der Auberge hochhumpelte. Ich weinte vor Schreck, Patrick vor Schmerz, aber er war auch voller Erleichterung, wieder da zu sein. Obwohl ihm noch dreißig Treppenstufen nach oben bevorstanden. Davon die letzten fünfzehn, die zu unserem Zimmer führen, in Form einer Holzwendeltreppe. Die Auberge ist am Hang gebaut, wir haben die Küche unsinnigerweise im Keller, das Restaurant zu ebener Erde, darüber die Zimmer und nochmals darüber wohnen wir. 45 Treppenstufen sind das jedes Mal, wenn ich Patrick etwas zu Essen nach oben bringe, denn nachdem er einmal oben war, war von runterkommen so bald keine Rede mehr.
Ich war so unglücklich über Patricks Zustand, dass ich am liebsten sofort alles hingeschmissen haette und irgendwo ein anderes und vor allem ebenerdiges Leben anfangen wollte.
Glücklicherweise war meine Schwiegermutter am Vortag gekommen, sie blieb ein paar Tage, um uns zu unterstützen, denn wir hatten, wie nicht anders zu erwarten: Gäste. Nur zwei, die waren auch sehr nett, aber kochen und kümmern, da sein, mal eben einen Tee kochen oder Wanderungen erklären, muss man auch für zwei Gäste.
Meine Schwiegermutter ist vom Fach, sie hat früher Hotels geleitet, sie kann alles und sie gibt mir sehr viel Sicherheit, Ruhe und Kraft. Und wenn ich ein Zehntel ihrer Energie hätte, wäre ich glücklich. Die kleinen Anfangsschwierigkeiten des Zusammenwirkens legten sich bald, oder sagen wir, wir schlucken beide mal was runter, angesichts der Situation ist es auch wirklich egal, ob sie Schweinebraten aufwärmen unmöglich findet, während ich zwei Karotten in einem Liter Wasser schwimmend ungesund finde. Sie kann nicht verstehen, dass wir unserer Ernährung auf „krebshemmende“ Lebensmittel umgestellt haben und ich ein kleines Vermögen für einen bestimmten japanischen Grüntee ausgebe. Aber abgesehen davon kommen wir gut miteinander aus. Wir haben viel gearbeitet, Gefriertruhen inspiziert, abgetaut, Essen vorbereitet, viel aufgeräumt und geputzt, für all das hatte ich allein einfach keine Energie mehr.
Am 8. März war unser erster Hochzeitstag. Ich hatte in der Auberge eine lange Fotostrecke an die Wand gehängt, Fotos von Patrick, Fotos von mir und Fotos von uns beiden. Ich erzähle und zeige damit unseren bisherigen gemeinsamen Weg. Dann bastelte ich mit rotem Geschenkband den Schriftzug l’amour , der groß an der Wand prangt und stellte überall rote Rosen hin.
Ich war sehr gerührt, denn Patrick hatte beim Hochfahren die Krankenpfleger gebeten, an einem Blumenladen anzuhalten, damit er mir Blumen mitbringen konnte, und er hatte mir per Hand einen Liebesbrief geschrieben, der so schön ist, dass ich beim Lesen nur Rotz und Wasser heulte.
Ein paar Nachbarn kamen überraschend nachmittags mit Champagner und einem selbst gestalteten Fotoalbum vorbei, das noch einmal uns und unsere Hochzeit zeigte und vor allem auch alle Dorfbewohner, die anwesend waren. Patrick quälte sich dafür die Stufen runter, er war voller Schmerzen, aber es war dennoch ein sehr schöner und beinahe fröhlicher Nachmittag, und ich bin froh, dass wir ihn gefeiert haben, unseren ersten Hochzeitstag!
Danach wurde es sehr anstrengend. Patrick ging es lange schlecht, und ich konnte fast nicht aufhören zu weinen. Patrick ist trotz seines Zustandes oder vielleicht auch gerade deswegen und vermutlich aufgrund der Medikamente wie im Rausch: Sich selbst überschätzend, voller unrealistischer Pläne, rechthaberisch und aggressiv. Dieses Geflenne um ihn herum kann er nicht gebrauchen. Ich untergrabe seine Moral, wie soll er da gesund werden, wenn ich nur heule? Und er mache das doch alles nur für mich: die Chemo, die Auberge etc. Ich sage, wenn es für mich ist, dann lass uns die Auberge aufgeben, das übersteigt meine Kraft, ich suche mir irgendeine andere Arbeit, die ruhiger und weniger öffentlich ist. Aber es ist dann wohl doch nicht nur für mich, denn wütend, mit fiebrigen Augen und schmerzender Hüfte wird mir dann gezeigt, dass es seine Kräfte zwar auch übersteigt, er aber dennoch weitermacht, und er ist ja der Kranke, da werd ich ja verdammt noch mal auch einfach weiter machen können. Und dabei gefälligst aufhören zu heulen. Und wenn meine Schwiegermutter nicht da gewesen wäre, die mal mit ihm sprach, mal mit mir, die Lösungen sucht für uns beide, wäre ich vermutlich zusammengebrochen.
Entschieden ist, sie wird auch wiederkommen, sie hat hier ein Häuschen gemietet, während sie zeitgleich ihre Wohnung in Cannes für die Filmfestspiele und für den Sommer vermietet – nur so lässt sich das auch finanzieren. Wir werden also versuchen, vorerst hier weiter zu machen, vielleicht können wir zusätzlich eine Haushaltshilfe von irgend einer Stelle finanziert bekommen, die den ganzen klassischen Putz- und Bügelkram erledigen könnte, das wäre schon eine Erleichterung. Ich merke, dass mich dieses „öffentlich“ sein überfordert. Jeder kann hier jederzeit reinkommen, denn wir sind ja Auberge. So kamen dann auch Gäste überraschend vorbei, während ich gerade heulte, Patrick seine Medikamente in seine Wochenbox füllte und das Ambiente nicht sehr einladend war. Sie tranken zwei Kaffee und wollten wissen, was wir ihnen, wenn sie mit Freunden am Sonntag kämen, Schönes zu Essen zaubern würden. Patrick schwadroniert, mir stockt der Atem, denn meine Schwiegermutter war gerade abgereist, ich weiß, es wird alles an mir hängenbleiben und ich fühl’ mich überfordert, darf es aber nicht sein.
Tatsächlich wurde es noch viel mehr, wir haben am Wochenende einmal vier, einmal sechs Gäste glücklich gemacht, und dann bis einschließlich heute morgen noch zwei Wanderer beherbergt. Ja, es geht, aber es kostet mich unendlich viel Kraft. Die mir für mich und Patrick dann fehlt.
Wir haben beschlossen, wenigstens solange Patrick in der Klinik ist, die Auberge zu schließen, und das erste, was ich machte, nachdem Patrick im Krankenwagen weggefahren war, war, die Tür abzuschließen: Ich bin weg. Ich bin nicht verfügbar.
Morgen fahre ich nach Nizza, ich habe einen Termin mit der Klinikpsychologin, um auch von meiner Not Kenntnis zu geben. Und ich will ans Meer, die Möwen schreien hören und den Frühlingswind spüren. Als ob sie es geahnt haette, hat mir eine Freundin heute das Foto einer Möwe geschickt. Schönes Zeichen. An der Côte d’Azur ist Frühling, während hier immer noch Schneefelder liegen. Ich fahre für zwei Tage in den Frühling! Fast bin ich froh.