Barels

Von meinem ehemaligen Dorf in den Bergen, Chateauneuf, kann man einige Häuser eines anderen Dorfes sehen, das heute im Nationalpark Mercantour liegt: Barels. Barels besteht aus drei kleinen Weilern, und alle drei wurde in den fünfziger Jahren aufgegeben, weil es dort kein Wasser mehr gab. Außerdem gab es keine richtige Zugangsstraße, man musste zu Fuß oder mit einem Lastesel

über kleine Pfade dorthin kommen (das ist heute immer noch so). Das war den Menschen irgendwann zu mühsam, so dass sie dieses Dorf verließen. Und sie ließen alles zurück, das Leben in der Stadt war verheißungsvoll, wer braucht da noch einen Pflug, einen Dreschflegel, Tisch und Stuhl, eine Standuhr oder Werkzeug.

In den sechziger Jahren kamen die Hippies, die Aussteiger, die baba cools, wie sie in Frankreich heißen und entdeckten diesen Ort für sich und besetzten ihn kurzerhand. Sie erweckten alles wieder zum Leben, es war ja alles noch da. Ein paar Jahre lang lebte hier eine Gruppe intellektueller junger Menschen autonom und alternativ ganz wie früher. Dann zogen sie weiter, manche leben immer noch im Tal.

Eine zweite Welle der Haus- oder Dorfbesetzer folgte in den achtziger Jahren. Es waren mehr verlorene Seelen, die in der Einsamkeit der Natur und mit mehr oder weniger harten Drogen den Sinn suchten. Lebens-, Beziehungs- und Drogen-Experimente wurden gemacht. Von mindestens einem Kind weiß ich, das dort geboren wurde, ohne Hebamme, ohne Arzt und mitten im Winter. Auch diese Ära ging irgendwann zu Ende, die Menschen verließen das Dorf und ließen wieder alles zurück, viel war es sowieso nicht, was sie hatten. Das Dorf verfiel und fiel in einen Dornröschenschlaf und wildeste Gerüchte über die letzten Bewohner werden immer noch verbreitet.

Seit Jahren wollte ich Barels sehen, der lange Weg, der fast unkenntlich sein sollte, schreckte mich jedoch ab. Dieses Jahr aber war es mein unbedingtes Ziel und eines Morgens zogen wir los. In der Zwischenzeit gehört das Dorf zum Nationalpark und es gibt einen gut markierten Wanderweg. Wasser gibt es allerdings wirklich wenig auf der Strecke, es wird über Kilometer von einer Quelle in oberirdisch liegenden Schläuchen zu einer Tränke geführt und ist so, da die Schläuche der Sonne ausgesetzt sind, im Sommer zumindest brühwarm und widerlich.

Ich erwartete eine Art Geisterdorf vorzufinden, wie man sie manchmal in Western sieht, ein Schaukelstuhl auf der Veranda, Spinnweben, ein quietschendes Schild im Wind… Nichts dergleichen, oder doch ein bisschen. Aber die Sonne schien hell, alles war so lieblich und die Landschaft grün, ein Schäfer hütete seine Schafe dort, dass ich nur berührt war. Wie idyllisch! Und tatsächlich sind wieder junge Menschen dabei, Häuser in Stand zu setzen. Enkel oder Großenkel der ursprünglichen Besitzer verbringen den Sommer dort mit Freunden und hämmern und sägen und bewirtschaften ein Gärtchen.

Nun liegt das Dorf im Nationalpark und dort gelten strenge Regeln. Das Gesetz sagt, so lange noch ein Dach auf dem Haus ist, darf man das Haus wieder in Stand setzen. Das machen viele nun. Mit Lasteseln oder per Helikoptertransport lässt man sich Material liefern. Aber die Interessen kollidieren. Junge Menschen, auch wenn sie die Natur lieben, haben dennoch andere Vorstellungen vom Leben, wie der Schäfer, der hier schon jahrelang lebt und seine Einsamkeit liebte. Den Parkwächtern aber sind alle ein Dorn im Auge, auch die braven Eselwanderer, die seit kurzem regelmäßig hier vorbeikommen. Die Hüter möchten den Nationalpark am liebsten menschenfrei haben.

Ich wünschte mir, ich sei jünger und könnte hier leben. Obwohl ich weiß, dass mich mit Anfang vierzig, als ich in die Berge Frankreichs ging, der Gedanke schreckte, an einem Ort zu sein, an dem es keine Elektrizität und kein Badezimmer gäbe. Noch schlimmer, keine Toilette. Als ich jünger war, auch viel jünger, war das nicht mein Ding. Heute, mit schmerzenden Knien und Knochen nach einer banalen sechstündigen Wanderung, weiß ich, dass ich leider schon zu alt bin für solche Experimente. Wie schade.

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15 Responses to Barels

  1. Lothar Wiesweg sagt:

    Beeindruckende Landschaftsbilder. Einfühlender Text, passend zu den Fotos. Merci, Christiane.

    • dreher sagt:

      @Lothar, merci à toi!
      @Ute – Ihr Kommentar stand im spam und ich hab ihn versehentlich unrettbar gelöscht (mit all dem echten spam), sorry! habs aber noch gelesen, dankeschön!

  2. Rosalind sagt:

    WOW! Tolle Bilder. Merci auch von mir.

  3. Karin sagt:

    Da möchte man doch am liebsten gleich die Wanderschuhe anziehen und sich auf den Weg machen! Leider ist meine letzte ernsthafte Wanderung auch schon ein Tochterleben her und ich bin mir nicht sicher, ob ich noch fit genug wäre … Als Kinderlose war ich viel in den französischen Alpen unterwegs, immer allein, was ich sehr genosse habe, Meditation pur sozusagen, und manchmal bekomme ich richtig Sehnsucht nach dieser Zeit. Merci daher für die schönen Fotos, mir geht das Herz auf!
    Karin aus Genf

  4. dreher sagt:

    Merci Karin, merci Rosalind! :)

  5. Gerd Ziegler sagt:

    Ô joie!

    Schöne Bilder und schöner Artikel. Da könnte man glatt zum Hippie oder Aussteiger werden. Lange Haare muss ich mir dann erst noch wachsen lassen, aber bunte flippige Hemden finden sich bestimmt noch irgendwo in der Mottenkiste. Anstelle der berühmten einsamen Insel die sowieso wegen des Klimawandels überspült würde, wäre das eine schöne Alternative.

    In der Westschweiz hatten wir vor einigen Jahren einen Aussteiger kennen gelernt, der ganz alleine seit über 20 Jahren auf einer Alm lebte und Kühe von allen benachbarten Bauern hütete. Kein Strom, kein fließendes Wasser, kein Konsum Schnick-Schnack. Irgendwie habe ich ihn ein wenig beneidet, da oben, in den Bergen. Mittlerweile lebt Alphonse wohl wieder in der Stadt, wie wir gehört haben.

    Wahrscheinlich würde ich ebenso wieder die Zivilisation aufsuchen wollen, wenn sich die ersten Zipperlein bemerkbar machen würden. :-(

    C’est la vie…

  6. Sunni sagt:

    Wundervolle Bilder, die der Seele trotz der teilweisen Verlassenheit, die sie spiegeln, gut tun!Und der Text ebenso. Wie sehr ich beim letzten Satz doch dachte “Oh, genauso geht es mir!” Danke!

  7. BeaM sagt:

    ach, es ist traumhaft. da kommt man echt ins Schwärmen. dass es sowas noch gibt, mitten in Europa!

  8. Olaf sagt:

    Hallo liebe Christjann,

    seehr schön, erinnert es mich doch an lange zurückliegende Jahre (hatte ich dir einmal geschrieben).
    Hier ist alles gut, bei Euch offenbar auch.

    Herzliche Grüße aus Hambourg, wo es langsam herbstelt…

  9. Ilse sagt:

    bildschöne fotos, die einen inspirieren. habe gerade dein buch “zwischen boule und… ” gelesen und bin über google auf dieser seite gelandet. ich liebe die provence und habe früher oft dort meinen urlaub verbracht. inzwischen bin ich (60 Jahre) von hamburg in die provinz auf ein kleines dorf, 3 km von hamburg entfernt, gezogen. werde im mai n.j. mit meinem mann nach südfrankreich fahren und ein paar tage dort verbringen. vielleicht finden wir barels auf unserer reise. wirst du irgendwann noch einmal ein neues buch schreiben?
    gruß aus hamburg ilse

    • dreher sagt:

      liebe Ilse,
      Barels, wie auch mein ehemaliges Dorf Chateauneuf d’Entraunes liegen nicht in der Provence, sondern am Rande des Mercantour, es ist dort rauher, höher und weniger lieblich als in der Provence – und auch einsamer und weniger touristisch.
      Das alles liegt etwa anderthalb Stunden nördlich von Nizza im oberen Vartal.
      Und ja, ich werde ein neues Buch schreiben, aber keines in diesem Stil. Es wird voraussichtlich im Frühjahr 2014 erscheinen. Noch geheim! Psst! ;)
      liebe Grüsse
      Christiane

      • Ilse sagt:

        hallo christiane,
        habe jetzt auf der karte nachgesehen und châteauneuf-d’entraunes gefunden, auch barels – auf einer wanderkarte. wir werden n.j. freunde in st. gervais (haute savoie) besuchen und dann richtung nationalpark mercantour weiter reisen. wenn ich nach draußen schaue .. november grau in grau und nass dazu, möchte ich gleich die koffer packen. aber ich werde noch warten bis dein neues buch erschienen ist. ich freue mich schon darauf.
        liebe grüße
        ilse

  10. Ilse sagt:

    liebe christiane,
    danke für die geografische beschreibung. ich habe es auch auf der karte gefunden, ebenso barels – auf einer wanderkarte. wir werden bei unserer reise, nachdem wir unsere freunde in st. gervais (haute savoie) besucht haben, weiter gen süden fahren und den naturpark des mercantour sicherlich finden. ist heute ja nicht so problematisch dank navi. ich bin schon gespannt auf dein nächstes buch.
    liebe grüße
    ilse

    • dreher sagt:

      liebe Ilse,

      ich war zwei tage weg, daher hatte ich den kommentar nicht freischalten können —
      das Buch ist erst für 2014!!!