Gerade habe ich ein(e) berührende(s) BD (sprich “behdeh”, meint: bande dessinée), einen literarischen Erwachsenen-Comic, Graphic Novel ist das neudeutsche Wort dafür, über die letzten Tage von Stefan Zweig gelesen. Stefan Zweig, der auf seiner Flucht aus Nazi-Deutschland bis nach Brasilien gekommen ist und sich dort im Februar 1942 zusammen mit seiner zweiten Frau Lotte das Leben nahm. Ich bin immer wieder erstaunt, welch sperrige Themen die Franzosen in Comicform veröffentlichen und dass sich das anscheinend gut verkauft: Das Leben von Chagall, Picasso oder Egon Schiele zum Beispiel, die Romane von Camus, aber auch viele Geschichten zum ersten und zweiten Weltkrieg, darunter das verstörende vierbändige Werk Il etait une fois en France, das die unglaubliche, aber wahre Geschichte des rumänischen Juden Joseph Joanovici alias Monsieur Joseph erzählt und von dessen abenteuerlichen Weg vom Schrotthändler zu einem einflussreichen Geschäftsmann vor allem während und nach dem zweiten Weltkrieg. Und eben Stefan Zweig. Les derniers jours de Stefan Zweig ist letztes Jahr erschienen und hat sich seither schon 75.000 Mal verkauft. Unglaublich, oder? Wer interessiert sich in Frankreich für den Selbstmord eines österreichischen Schriftstellers aus dem letzten, sogar vorletzten Jahrhundert? Aber Stefan Zweig ist sowieso ein französisches Phänomen. Er ist einer der meistverkauften deutschsprachigen Schriftsteller in Frankreich. In jeder Buchhandlung ist zu meinem großen Erstaunen immer eine große Auswahl seiner Werke zu finden. Es gibt so wenig ins Französische übersetzte deutschsprachige Literatur, warum gerade Stefan Zweig?
Ich habe ein bisschen geforscht und wenig gefunden: Zweig zu lesen scheint Kultiviertheit auszustrahlen, ist aber auch für ungeübte Leser leicht zugänglich. Sein Übersetzer jedoch fragt sich, wie man einem Schriftsteller diese Texte ursprünglich hat durchgehen lassen können und sagt allen Ernstes: Si on traduisait Zweig tel qu’il écrit, il n’est pas sûr qu’il aurait autant de succès, wenn man Zweig so übersetzte, wie er geschrieben hat, hätten seine Bücher (in Frankreich) vielleicht nicht den gleichen Erfolg. Wieviel Stefan Zweig ist noch in den französischen Ausgaben, frage ich mich da? Aber vielleicht ist das das Geheimnis? Und vielleicht sollten wir besser die französischen Ausgaben wieder ins Deutsche zurückübersetzen, anstelle Zweig schnöde im Original zu lesen, vielleicht fänden wir Stefan Zweig dann auch viel spannender?! Nein, das ist natürlich ein Scherz … Vielleicht ist Stefan Zweig, der vor dem letzten Weltkrieg bereits weltweit gelesen wurde, in Frankreich auch einfach nur nicht dem Vergessen anheim gefallen, wie es mit den allermeisten exilierten Schriftstellern in Deutschland geschah. Schriftsteller von Weltruhm, erst verboten und verbrannt und dann (weitgehend) vergessen.
Am Wochenende waren wir in Toulon Schiffe gucken und auch kurz in Marseille, und auf dem Weg von A nach B kamen wir durch Sanary sur Mer. Dieses kleine Städtchen war in den dreißiger und vierziger Jahren des letzten Jahrhunderts eine “deutsche Kolonie” exilierter Schriftsteller. Auch Stefan Zweig war hier, allerdings nur zu Besuch bei Lion Feuchtwanger, Thomas Mann oder Ludwig Marcuse. Am Gebäude des Office de Tourisme ist eine Gedenktafel für die ehemals exilierten Schriftsteller angebracht, eine gute und ausführliche Dokumentation “Schriftsteller im Exil” bekommt man dort ebenfalls, und die Stadt hat an manchen Häusern Tafeln mit Informationen und Fotos anbringen lassen, so dass man in einem kleinen Spaziergang durch das Städtchen zu Cafés, Hotels und Wohnorten mancher Schriftsteller geführt wird. Ich war sehr berührt und bin seither wieder eingetaucht in die Welt der Exil-Schriftsteller, ein Thema, dem ich mich während meines Studiums bereits gewidmet hatte. Ich erinnere mich, lese erneut, blättere und suche – und denke, wie wenig habe ich damals, als ich darüber schrieb, eigentlich von dieser Exil-Situation verstanden. Ich schrieb über Ängste, Fremdsein und Sprachlosigkeit. Ich las über Schriftsteller, die depressiv wurden, weil sie im Literaturbetrieb nur noch Randfiguren waren und über deren tapfere Frauen, die sich mit vielerlei unqualifizierten Jobs herumschlugen, um den Lebensunterhalt zu verdienen. Ich las von Zusammenhalt in dieser schwierigen Situation und von gescheiterten Ehen, Internierung und vielen Selbstmorden. Ich verstand es und verstand es nicht. Es blieb theoretisch. Heute müsste ich darüber schreiben, mit meiner eigenen Auslandserfahrung.
Niemand kann es glauben: Auch an blauen Tagen bricht das Herz heißt es in einem Gedicht von Hilde Domin. Wie wahr. Man kann im zauberhaften Nizza oder im mondänen Cannes oder eben im verschlafenen Fischerdorf Sanary sur Mer leben und doch Angst haben, depressiv sein und verzweifelt. Wie soll man richtig leben, wenn einen existentielle Sorgen drücken? Wie lange kann man bleiben? Muss man weiter und wohin? Von was wird man morgen leben? Wird man verhaftet? Bekommt man gültige Papiere, ein Visum? Wem kann man vertrauen? Nur, wer einmal versucht hat in einem fremden Land mit undurchsichtiger Bürokratie ein Auto umzumelden, einen verlorenen Pass zu ersetzen oder sich zu verheiraten, und dabei mit sturen Beamten zu tun hat, die einen immer noch ein Dokument herbeischaffen lassen, das zusätzlich übersetzt und von der Stelle X abgezeichnet sein muss, so lange, bis das erste davon schon wieder seine Gültigkeit verloren hat, kann sich in etwa vorstellen wie nervenaufreibend es wohl war, als Flüchtling in Frankreich mit deutschen Papieren ein Visum für ein anderes, rettendes Land zu bekommen. Und dann steht man vielleicht an der Grenze und hat tatsächlich ein gültiges Einreisevisum und der Grenzbeamte verwehrt einem dennoch den Zutritt in das rettende Land, denn es fehlt das plötzlich benötigte Ausreisevisum … Walter Benjamin, herzkrank und erschöpft, nahm sich so an der spanischen Grenze das Leben.
Ich möchte Ihnen gerne noch Franz Hessel vorstellen, den ich bei diesem Spaziergang durch Sanary “kennengelernt” habe. Er ist einer von denen, die heute, zumindest beim großen Publikum, wirklich ganz vergessen sind. Natürlich gibt es irgendwo plötzlich einen Franz-Hessel-Preis für Literatur, natürlich haben sich ein paar Menschen im Zuge der Beschäftigung mit Exil-Literatur ab den achtziger Jahren seiner angenommen, aber ganz ehrlich, haben Sie seinen Namen schon einmal gehört? Ich war erstaunt zu sehen, dass seine kleinen Spaziergänge durch Berlin aus den zwanziger Jahren wieder aufgelegt worden sind. Vielleicht hat der Lichtspot, der gerade auf ihn fällt, auch mit einem seiner Söhne zu tun, der in den letzten Jahren durch eine kleine Veröffentlichung bekannt geworden ist: Indignez vous! Empört euch! hatte der freundliche, wache, aber schon sehr betagte Stéphane Hessel vor zwei, drei Jahren geschrieben. Den Erfolg, den das Büchlein weltweit hatte, konnte er noch erleben, vor kurzem ist er verstorben. Das Aufsehen, das Stéphane Hessel mit dieser Streitschrift erregte und das dazu führte, dass man in allen Medien über sein bewegtes Leben sprach, führte wohl auch dazu, dass man seinen Vater, Franz Hessel, wieder entdeckte: Er stammte aus wohlhabender Familie, war zunächst Schriftsteller und Flaneur und hin- und hergerissen zwischen Berlin und Paris. So konnte er bei strahlendem Sonnenschein mit aufgespanntem Regenschirm durch Berlin laufen, weil es in seinem geliebten Paris doch gerade regnete. War er in Paris sehnte er sich jedoch nach Berlin. In Paris lernte er Henri-Pierre Roché kennen, einen Kunstsammler, später Kunsthändler, sie wurden unzertrennliche Freunde und lebten mit Hessels Frau Helene ein aufwühlendes Dreiecksverhältnis. Hessel verlor in der Inflation sein Vermögen und arbeitete fortan als Lektor und Übersetzer und lebte weiterhin einige Jahre in Paris und dann wieder in Deutschland. Trotz seiner Liebe zu Frankreich widerstrebte es ihm aber, ins Exil zu gehen und er verließ Deutschland, obwohl er schon Schreibverbot hatte, nur zögerlich. Ab 1940 lebte er mit seiner Frau und seinem jüngeren Sohn Ulrich in Sanary. Mit diesem wurde er in das Lager Les Milles bei Aix en Provence interniert, erlitt dort einen Schlaganfall, kam zwar wieder frei, blieb aber gesundheitlich angeschlagen und starb im Januar 1941 in Sanary.
Henri-Pierre Roché setzte der Freundschaft mit Franz Hessel ein Denkmal und schrieb das stark autobiographische Buch Jules et Jim, über die Freundschaft zweier Männer, die die gleiche Frau lieben. Truffaut verfilmte das Buch mit Jeanne Moreau in der Hauptrolle. [ http://www.arthaus.de/jules_und_jim ] Mir bringt diese Geschichte die Figuren dieses Films näher, den ich trotz Kultstatus nie so richtig mochte, und ich finde die Idee, dass Franz Hessel so doch nicht ganz vergessen ist, tröstlich.
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ps: Aus der Fülle der Literatur zum Thema Exilliteratur, möchte ich auf die Veröffentlichungen von Manfred Flügge hinweisen; sein Buch Wider Willen im Paradies habe ich in der französischen Ausgabe Amer Azur vorliegen (immerhin in Sanary in der kleinen Buchhandlung am Hafen gekauft). Mein persönlicher Einstieg in dieses Thema vor vielen Jahren war Gabriele Kreis’ Frauen im Exil, das ich jetzt noch einmal gerne und verstehender gelesen habe.
pps: Eigentlich wollte ich Ihnen noch ganz viele schöne Fotos einbauen, von Viermastern in Toulon und kleinen Schiffchen in Sanary, aber die Heinzelmännchen haben gerade meinen Fotoapparat entführt. Ich habe eben schon panisch die Waschmaschine ausgeräumt, weil ich dachte, ich habe ihn aus Versehen mit einem Wäscheberg dort hinein versenkt, aber dort ist er immerhin und Gottseidank nicht, aber wo er sich sonst gerade versteckt weiß ich auch nicht. Daher für eben nur ein paar Fotos aus dem Internet …
Vielen Dank, Christjann, für diesen spannenden Exkurs…
ich danke DIR, Marion !
In Sachen Auto ummelden nach Frankreich könnte ich ja seitenweise Geschichten erzählen… also, beim Auto ging es noch. Das nächste Auto hatte aber schon seine Zweijahresinspektion hinter sich, als der Wohnwagen seine Zulassung immer noch nicht hatte…
Französischen Übersetzungen stehe ich äußerst skeptisch gegenüber. Zwar kann man vieles auf französisch einfach nicht denken, was uns im Deutschen wie selbstverständlich über die Lippen geht. Franzosen haben beispielsweise keine Heimat. Nur ein Vaterland, aber das ist ja was grundlegend anderes. Aber französische Buchübersetzer neigen dazu, selbst die Namen der Protagonisten zu übersetzen, falls auch nur der Verdacht bestehen könnte, der Name möchte vielleicht irgend etwas ausdrücken. In deutschen Buchausgaben ist man meist schon zu geizig, eine Fußnote zu setzen für sowas, in französischen Büchern wird aus Mr. Fox M.Renard.
Es hat uns übrigens die Feigen verregnet dieses Jahr.
… schade um die Feigen
Gerade ” Frau Thomas Mann” von Inge und Walter Jens gelesen und nicht völlig beeindruckt von dieser Frau, die die Dichtung ihres Mannes über alles stellte. Auch für sie war Sanary nicht das Paradies und blaue Tage wird es über der Organisation des Haushalts und der Sorge um Verwandte und Freunde wenige gegeben haben, obwohl sie sich gegenüber anderen Exilanten noch in einer relativ komfortablen Lage befand. Werde mich jetzt um ” Frauen im Exil ” bemühen. Danke für den Hinweis.
In Port Bou das Denkmal für Walter Benjamin besucht und gefröstelt trotz Sonne und grandioser Landschaft
— sorry ein Fehler – es soll natürlich heißen : noch völlig
och, ich hätte es mit “nicht” auch akzeptiert hatte so manches Mal Schwierigkeiten mit der Kälte der Familie Mann, in der sich alles nur um Herrn Thomas Mann drehte … Manns und Feuchtwangers waren finanziell wirklich noch immer gut gestellt, auch wenn sie Vieles zurücklassen mussten, aber natürlich leiden auch die Reichen am Verlust … der Heimat, der Freunde, der Sprache und auch sie haben Sorgen und Ängste.
Gabriele Kreis’ Buch ist eine journalistische Mischung aus Literaturbetrachtung und Interviews mit psychologisch-soziologischer Fragestellung zur Situation der Frauen. Damals noch ein brandneuer Ansatz!
Manfred Flügge ist m. E. auch ein guter und gut lesbarer Einstieg.
Liebe Christiane,
Danke für den interessanten Beitrag!
Ich war im September gerade auch für ein paar Tage in Sanary und habe sogar im Hotel La Tour (wo ja viele Exilschriftsteller wohnten ) übernachtet.
Mit hat deren Geschichte auch sehr berührt und die Dokumentation, die man im Tourismusbüro erhält, ist wirklich gut. Doch das Ganze geht im Ort irgendwie sehr unter.
Man muss schon ganz genau danach suchen bzw fragen muss, denn sonst würde man von der ehemaligen Präsenz der großen AutorInnen nichts merken. Mit meinem holprigen Französisch hatte ich am ersten Tag im Tourismusbüro auch kein Glück, als ich nur etwas von „littérature“ stammelte und auch leer ausging…denn die jungen Dame vom Tourismusbüro meinte, „il n´y a pas d´littérature“ oder so… Aber am nächsten Tag gelang es mir dann doch irgendwie, zu der von Dir erwähnten Doku zu kommen. Und ich klapperte dann begeistert die Cafés, Häuser und Schauplätze ab.
Den Ort selbst empfand ich als recht angenehm.
Lieben Gruß nach Cannes
liebe Irene, du siehst vermutlich zu italienisch aus, da hat die Dame im Tourismusbüro keinen Bezug zu deinem Wunsch herstellen können – ich, eher groß, kräftig und blond sehe so deutsch aus, dass ich den Mund noch kaum aufgemacht hatte und sie fragte schon “Sie suchen etwas über die Exilschriftsteller?!?”
ich hatte ja nicht so viel Zeit dort – Sanary war ein spontan und zusätzlich reingequetschtes Besichtigungsprogramm – hast du die Ausstellung in der Mediathek gesehen? Und hast du das Haus von Thomas Mann gefunden? Ich stand neben der Mühle von Werfel, hatte noch die kleine Kapelle da oben angesehen – aber das Haus der Manns wollte sich nicht finden lassen – ich behaupte, es war auf dem Plan falsch eingezeichnet, Oder???
Und das Zauberwort für alle des Französischen weniger mächtigen Besucher ist vermutlich “Exil”
Das Haus von Thomas Mann hab ich auch nicht besucht- es erschien mir auf der Karte zu weit ab vom Schuss und nicht mehr in Sanary, sondern Richtung Vorort. Die Mediathek ist mir leider auch entgangen …