Was habe ich da nur losgetreten? Was nicht geht: Beim mal eben schnell in die Stadt laufen, um etwas Vergessenes in Windeseile zu erledigen, eine Straße so nebenbei abzulaufen und abzufotografieren. Jede Straße braucht ihre Zeit und meine Aufmerksamkeit. So gibt es heute nur zwei Fotos, und eins davon ist nicht mal gut, aber es gibt eine Geschichte dazu: Eine Palme und eine Grünanlage.
Seit Jahr und Tag frage ich mich, wie man sich direkt an der lauten Straße in ein klitzekleines eingezäuntes Stück tristes Grün setzen kann. Ich sag mal so: Zwanzig Quadratmeter Rasen, drei ausgebleichte Plastikbänke, ein Abfallkorb, zwei Verbotsschilder, das alles mit Maschendraht eingezäunt plus Eingangstor. Und dazu liegt das Stückchen trauriges Grün die meiste Zeit im Schatten und an den fensterlosen Rückseiten hoher angrenzender Häuser und, wie gesagt, an der Straße. Säße man darin hätte man den Blick auf die vorbeifahrenden Autos. Nichts, aber auch gar nichts würde mich da hineinziehen. Ich drücke dennoch die Klinke des Tores herunter, es ist abgesperrt. Ich mache ein Foto und ein ältere Herr stutzt, bleibt kurz stehen, sieht mich an, läuft vorbei, dreht sich nochmal um. Ich möchte ja jetzt nicht schon wieder als potenzielle Grünanlagen-Einbrecherin gelten und frage (eine für Frankreich typische Gesprächs-Einstiegsfrage) Vous êtes du quartier? Wohnen Sie hier? Na klar tut er das. Er wohnt gleich nebenan in dem Haus neben der Palme, die ich auch gerade aufgenommen habe. Ich frage, ob er wisse, warum diese Grünanlage abgesperrt sei. Na klar, weiß er das. Er schimpft ein bisschen über die Mairie, die sich nur um die großen Parks kümmere, nicht aber um diese kleinen Orte … sie müssten eben auch morgens auf- und abends abgeschlossen werden und tagsüber ein bisschen betreut, so wie alle Parks in Cannes, womit vermieden wird, dass auf den Bänken nachts wohnsitzlose Menschen schlafen oder Jugendliche Partys feiern. Aber diese kleine Grünanlage war trotz Tor immer offen, nachts wurde dort gefeiert, getrunken, geschlafen und morgens lagen Menschen zwischen leeren Dosen, Flaschen und Pizzakartons. Tagsüber wurden dort Hunde ausgeführt und niemand kümmerte sich darum, die Haufen wegzumachen. Es war ekelhaft. Und einmal wurde dort ein Hund ausgesetzt. Er wurde an den Laternenpfahl angeleint und bellte. Bellte von neun Uhr morgens bis Mitternacht. Dann rief jemand die Polizei. Ein Labrador, so ein schöner Hund. Einfach ausgesetzt. Naja, es gab immer nur Probleme mit der Grünanlage und jetzt ist sie eben dauerhaft abgesperrt.
Wir plaudern, er fragt, warum ich das fotografiere, ich will mein Viertel richtig kennenlernen sage ich mal wieder (was sage ich wohl später in den Villenvierteln der Ultrareichen, wenn mich Sicherheitsbeamte festhalten?) und er erzählt mir, wie lebendig das Viertel früher war. Alles gab es hier, Handwerker, kleine Läden, einen Bäcker, einen Metzger – der Metzger war so gut, dass die Leute von weit weg herkamen, um bei ihm einzukaufen. Jetzt gibt es nichts mehr und für ein Brot muss man bis in die Stadt laufen … Das weiß ich eigentlich alles schon von Monsieur, aber es ist berührend, es noch einmal von einem älteren Herrn zu hören, der seit Jahr und Tag in diesem Viertel lebt, in dem Haus neben der großen Palme, die wie ein Fahnenmast im Wind schwankt. In der Palme hat seit einigen Jahren ein Specht sein Nest, erzählt er mir noch. Dann musste ich wirklich weiter, ich war in Eile – die Straße muss ich ein anderes Mal mit mehr Zeit abgehen. Ich bin beschwingt und beglückt – ich habe das Gefühl, ich werde Cannes wirklich kennenlernen, Schritt für Schritt, es wird vermutlich viel länger dauern als ich dachte, vor allem, wenn ich jedes Mal so viel mit Anwohnern plaudere, aber ist es nicht nett zu erfahren, dass ein Specht in der Palme sein Nest hat?
Wie heißt denn die Straße und das Quartier?
Lustig, stimmt, für die ultrareichen Quartiers musst Du Dir noch was einfallen lassen…:-)
Und wenn du ihnen erzählst, du möchtest deutschen Lesern das Cannes abseits des Festival und des Strandes zeigen, das Cannes, in dem es sich zu leben lohnt und in dem du dein Zuhause gefunden hast?
ooh wie schön, aber so liebevoll kann ich das noch nicht formulieren, schließlich bin ich selbst ja noch am wenigsten davon überzeugt … aber hat was