Cannes zu Fuß – Boulevard du Moulin

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So, gehen wir zur Entspannung doch mal wieder ein bisschen spazieren. So richtig weit weg bin immer noch nicht gekommen, der Boulevard du Moulin liegt im weitesten Sinn auch noch in meinem Viertel. Gerade habe ich nachgelesen, was ein Boulevard eigentlich ist, denn so sehr unterscheidet sich das Sträßchen nicht von den anderen Straßen,

die allesamt Rue’s sind. Ich habe herausgefunden, dass ein Boulevard eine promenade plantée d’arbres sur l’emplacement d’anciens remparts ist. Also, in der Regel eine (ich ergänze etwas) breite, mehrspurige Straße, mit Bürgersteigen und Bäumen auf einem ehemaligen Burgwall. Mit Ausnahmen in Südfrankreich, wo es auch ganz kleine baumlose Sträßchen mitten im Nirgendwo gibt, die auch Boulevard heißen. Einfach so. So ist er, der Südfranzose. In Marseille gibts das, in Toulon und in Cannes auch. Gerade nochmal auf dem Stadtplan nachgesehen, wir sind geradezu umzingelt von Boulevards, die alle klein, unspektakulär und ohne Baumbestand sind. Ich habe Monsieur gefragt, ob hier früher mal eine Befestigungsanlage stand, er zuckte nur die Schultern. Ich muss irgendwann doch ins Archiv. Begnügen wir uns momentan mit der Feststellung, dass es jede Menge kleine unscheinbare Boulevards in Cannes gibt. Wobei der Boulevard du Moulin doch immerhin einer gewissen Wallanlage gleicht. Es ist eine Straße, die am Hang entlang führt, manche der Häuser sehen von der Straße aus wie kleine Puppenhäuschen. Sie verbergen ihre wahre Größe, denn sie sind nicht nach oben, sondern nach unten gebaut, manchmal kleben so vier Etagen untereinander quasi am Felsen. (Ich muss mal schauen, ob ich das von einer anderen Stelle sehen kann!) Die Straße führt in einer leichten Kurve hügelab (ich ging sie zumindest von oben nach unten), eine reine Wohnstraße mit kleinen und großen Häuschen.

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Nichts allzu besonderes eigentlich, wenn ich nicht gerade dieses Buch übers aufmerksame Schauen gelesen hätte. Seitdem ich das Kapitel gelesen habe, in dem Alexandra Horowitz mit ihrem anderthalb Jahr alten Sohn spazieren lief, sehe ich alles, und vor allem alles, was sich unter meinen Füßen befindet: Stöckchen, Steinchen, alte, festgetretene Kaugummis, Papierchen, ein Streichholz, einen Bierflaschenkapselverschluss, Pflänzchen, die aus Territzen wachsen, Muster, Flecken und Risse im Teer, sogar Gesichter, Farbspritzer, Gullideckel (es gibt so viele verschiedene, ich könnte eine Gullideckel-Sammlung machen!) … ich komme kaum noch vorwärts vor lauter Schauen.

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Dann hebe ich natürlich den Blick und sehe Antennen, Kamine, sich verzweigende Abflussrohre, Stromkabel, Telefonleitungen …

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dazwischen sehe ich Briefkästen, Türklinken, Zäune, Türen, Fenster Hausnummern, Klingelschilder und so viel Schrift, dass ich fast erschrocken bin, Schrift allüberall, zumeist groß und hässlich, das kommt dazu, das alles schreit einen quasi an!

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Und Pflanzen sehe ich auch, Mimosen, natürlich aber auch erste Narzissen, Krokusse, und so viele Grünpflanzen, aber haben Sie schon mal ein Palmenblatt richtig angesehen? Oder eines dieser geschwungenen Agavenblätter? Oder die Rinde eines Stammes? Oder die bizarren Formen von Platanen bewundert? Ich sag’s Ihnen, ich komme kaum noch voran, muss mich von Schulkindern auslachen lassen, weil ich eine Palme ansehe, richtig ansehe – mit zehn ist man ja schon zu groß dafür, da hat man zig Palmen gesehen und bleibt nicht mehr stehen vor solchen Wunderdingen.

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Und natürlich muss ich mich auch wieder streng anraunzen lassen: “Das ist mein Haus, was fotografieren Sie da?” Als ich ein verrostetes Gartentürchen fotografierte, wurde ich verdächtigt für die Mairie nach nicht richtig instand gehaltenen Häusern zu forschen. Dabei ist mein Lieblingshaus in dieser Straße sogar das allerverwahrloseste – ich habe gar nicht so schöne Aufnahmen davon gemacht finde ich jetzt, war wohl zu geblendet von seiner schäbig-barocken Pracht.

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Das Straßenschild, dass die sogenannten “sleeping policemen” ankündigt, die Hubbel in der Straße, die einen zwingen, langsam zu fahren, erinnert ein bisschen an eine Zeichnung aus dem “Kleinen Prinzen”, finden Sie nicht? Die Schlange, die einen Elefanten verdaut ;) Wenn Sie die Palme groß klicken, sehen Sie ganz klein den Vollmond, toll, oder? Was ich jetzt nicht alles sehe …

Mir fiel bei dieser Wunder-vollen-Guckerei dieses sehr melancholische Lied Die Zeit heilt alle Wunder von “Wir sind Helden” ein, das ich seither immer wieder im Kopf habe, vor allem diese Strophe:                                                                                                                           Du kommst auf die Welt um ihr den Kopf zu verdrehen                                                            Du lachst über Hunde und deine eigenen Zehen
Du bleibst kaum kannst du laufen alle zwei Meter stehen
und fällst auf die Knie um noch ein Wunder zu sehn 

Ich verlinke das Lied noch hier, hoffe Sie können es hören, da gibts ja immer mal Probleme … Ich wünsche Ihnen ein wunder-volles Wochenende!

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6 Responses to Cannes zu Fuß – Boulevard du Moulin

  1. Barbara Kiel sagt:

    Liebe Christine! Danke für den “Anschubser” mal wieder richtig zu schauen. Manchmal muss man daran erinnert werden. Obwohl es mir auch passiert, dass ich sinnend vor Dingen am Wegesrand stehe und es schnell ablichte. Machen Sie weiter so!
    Ich bin seit heute im Besitz Ihres neuen Buches, werde mich aber bezähmen und es erst in meinem Urlaub im März lesen. Es hat es sicher verdient, in aller Ruhe gelesen zu werden. Alles Liebe und einen schönen Sonntag! Barbara

  2. Frank Wigger sagt:

    Ich habe mich – als der für das Sachbuchprogramm von Springer Spektrum verantwortliche Lektor – eben sehr gefreut, Ihren Kommentar zu dem Buch “Von der Kunst, die Welt mit anderen Augen zu sehen” von Alexandra Horowitz zu entdecken. Ich mag dieses Buch und ihre Autorin auch sehr gerne – und wünsche Ihnen weiterhin das Vergnügen der Aufmerksamkeit! Frank Wigger

    • dreher sagt:

      Oh, danke, das freut mich ja nun auch! Vielen Dank für Ihren netten Kommentar – und tatsächlich lässt das Buch mich seither beim Spazierengehen viel aufmerksamer sein! Ich empfehle es gerne :)

  3. Angela Raymond sagt:

    Kleine Anmerkung: meines Wissens leitet sich “Boulevard” von dem deutschen Wort “Bollwerk” her. Scheint mir eine recht logische Lautverschiebung.

    Ansonsten: meldet sich leise mein schlechtes Gewissen – guckst Dir lieber die schönen Photos aus Cannes im internet an, als Deinen Hintern zu bewegen und ähnlich schöne Entdeckungen in Beausoleil zu machen, faules Stück!
    Also los, solange noch kein Regen!