Es ist schon ein paar Tage her und ich bin schon wieder völlig eingetaucht in mein französisches Leben, ich habe den Kopf voll mit kriminellen Angelegenheiten, aber ich wollte doch noch darüber schreiben: Monsieur und Madame waren in Deutschland! Ein eng gestricktes Besuchsprogramm, das sich über gut sechs Tage allein im süddeutschen Raum abspielte, je zwei Tage An- und Abreise mit dem Auto,
sprich eine Übernachtung auf halber Strecke, man ist ja auch nicht mehr so jung, macht zehn Tage. Mein Jahresurlaub sozusagen, gerade noch reingequetscht, bevor ich mich schreibend in Klausur begebe. Es war toll, einschließlich Wetter! Jetzt bin ich schon wieder ein bisschen abgeklärt, aber es war sehr intensiv, wir hatten sehr viele Begegnungen, noch mehr als ich sowieso eingeplant hatte, alle waren wundervoll, ich stand die ganze Zeit unter Strom, war aufgewühlt und konnte kaum schlafen, am Ende war ich völlig erschöpft aber auch glücklich, habe aber zu Hause zwei Tage gebraucht, um mein Schlafdefizit wieder auszugleichen.
Wir kamen montags mittags in München an, und es war Fußball. Ich kann mit Fußball nichts anfangen, Monsieur ist eher Anhänger des Motorsports, Tennis, Ski und Eishockey gehen auch noch, Fußball im Fernsehen lässt uns um- oder abschalten. Ich muss vielleicht erklärend sagen, dass ich 2006, als die WM in Deutschland stattfand, schon in Frankreich lebte und die grundlegende Veränderung, die diesbezüglich wohl stattgefunden hat, nicht mitbekommen habe. Ich laufe also mit Monsieur durch Schwabing und alle Menschen, jung und alt, vereinten sich eilig um auf großen Bildschirmen in Kneipen, auf Plätzen und in Biergärten gemeinsam Fußball zu schauen. Deutschland spielte an diesem Abend und gewann, um es gleich vorab zu sagen 4:0. Sie erinnern sich bestimmt. Aber ich verstand die Welt nicht mehr, denn München war geflaggt bis zum gehtnichtmehr, Mädchen hatten sich aus Deutschlandfahnen Miniröcke geknotet und trugen Bunny-Öhrchen in Deutschlandfarben auf dem Kopf. T-Shirts, Schminke, Papierblumenschlangen, Sonnenbrillen, Fahnen, Tröten, Autos mit Fähnchen an allen vier Ecken und Außenspiegel mit Deutschland-Öhrchen … mir machte das ein komisches Gefühl, ich gebs zu. Das war doch früher nicht so?! Monsieur und ich schlenderten unbekümmert und fußballuninteressiert durch Schwabing, wir wollten das Spiel gar nicht sehen, aber man konnte dem Fußball nicht entgehen; beim Kauf einer Dose Rasierschaum wurden wir bei Karstadt via Durchsage informiert, dass Thomas Müller gerade das 3. Tor geschossen habe. Ich war fassungslos. Der Rest von Deutschland, den wir später durchfuhren war auch geflaggt, es blieb mir fremd. Und Fußball haben wir nicht geguckt. Zuerst nicht zumindest.
München war so nett, wirklich, als ich vor knapp 15 Jahren dort für ein Jahr lebte und arbeitete, konnte ich das nicht wirklich schätzen wie schön, wie leicht und grün diese Stadt ist, und wie nah an den Bergen und Seen, und ich wechselte damals mit Begeisterung nach Köln. Da ich mit Monsieur in München war, konnte ich mich zum ersten Mal touristisch dort bewegen ohne mich zu schämen und machte daher lauter touristische Sachen: auf Türme fahren und über die Dächer schauen zum Beispiel, und das Rathaus sah ich bei der Gelegenheit zum ersten Mal von innen. Das Hofbräuhaus auch übrigens. Bier in Biergärten trinken, Brez(el)n, Würste und Leberkässemmeln futtern und dergleichen mehr. Da Monsieur es gern “deutsch” haben wollte, habe ich überall ziemlich deutsche Hotels ausgesucht, die ich für mich vermutlich nie gewählt hätte, die mir aber komischerweise dann auch gut gefielen. Vielleicht weil man sich gleich so zu Hause fühlt. Falls Sie mal ein nettes Haus suchen, wo man das Gefühl hat bei seiner Großmutter zu übernachten, in altmodischen Möbeln, mit vielen Teppichen, vollgestopft mit Nippes und vielen heterogenen Bildern an den Wänden, aber eingebettet in einen lauschigen Garten, zusätzlich direkt am Englischen Garten und außerdem mit einem netten Biergarten gegenüber, dann kann ich das Gästehaus am Englischen Garten nur empfehlen.
Nach einer Nacht bei Freunden im Schwäbischen, fuhren wir nördlich Richtung Odenwald, und waren noch keine 30 Kilometer unterwegs als Monsieur fast augenblicklich anhielt. Das Öllämpchen leuchtete alarmierend rot auf. Ich muss dazu sagen, dass Monsieur eher cool ist was Pannen angeht und wir fast ein Jahr lang mit wechselnd aufleuchtenden Pannenlichtchen fuhren, ohne je eine Werkstatt aufzusuchen, weil Monsieur wegwerfend meinte “Ist bestimmt nur ein Wackelkontakt”. Bis das Auto dann stehenblieb und wir kurzfristig 900 Euro investierten, damit es bitte weiterfahren möge. Daher verstand ich seine plötzliche Panik bei dem aufleuchtendem Lämpchen nicht so richtig und dass mein spöttisches “Ist bestimmt nur ein Wackelkontakt” von ihm nicht besonders geschätzt wurde. Ich verstand dann aber, dass uns möglicherweise gleich ein Motorschaden und hohe Reparaturkosten bevorstanden. Ich drängte Monsieur dennoch ein Stück weiterzufahren, damit ich irgendwo Hilfe oder ein Telefon organisieren könne, denn wir standen mitten im Nichts auf der Schwäbischen Alb und falls Sie sich je gefragt haben, ob ich wieder ein Handy habe, kann ich Ihnen hier sagen, nein, ich habe nachwievor kein Handy, und diese Reise habe ich auch unter dem persönlichen Feldforschungsversuch “Ist eine Reise ohne Handy möglich?” unternommen. Ich stand vor einer gewissen Herausforderung. Wir rollten dann im Leerlauf ins nächste Dorf. Es war Fronleichnam, alle Einwohner in der Kirche oder schon bei der Fronleichnamsprozession, das Dorf war komplett geschlossen, so dass wir ins nächste Dorf weiterfuhren. Monsieur, eigentlich nicht sehr gläubig, schickte Gebete an den heiligen Christophorus und siehe da, in Pfronstetten hatte immerhin das Gasthaus Rose geöffnet, bot die WM live an und schwäbische Küche. Wir rollten auf den großen geteerten Hof und ich ging hinein und suchte eine Möglichkeit zu telefonieren; zumindest die Freunde, die wir gerade verlassen hatten, wollte ich informieren, und die, die wir eigentlich an diesem Tag im Odenwald noch treffen wollten. Sie werden es nicht glauben, aber der neue Wirt dieses Etablissements mitten im schwäbischen Nichts, das zumindest außen nichts (mehr) von der 130 Jahre währenden Gasthaustradition spüren lässt, ist Luxemburger und spricht französisch, der Koch ist gleich ganz Franzose, so dass Monsieur sich sofort wie zu Hause fühlte. Wir blieben da. Natürlich nur, weil die nächste Werkstatt sowieso erst am nächsten Tag geöffnet haben würde. Und so verbrachten wir den Tag auf einer schlichten Terrasse an der Durchgangsstraße und guckten Autos, die ununterbrochen vorbeirauschten. Überall dort wird übrigens heftig um eine Umgehungsstraße gekämpft, was ich verstehen kann, der Wirt jedoch lebt vom Durchgangsverkehr und hatte auch ordentlich zu tun, weil er der einzige war, der an diesem Feiertag geöffnet hatte. Ich lief später noch ein wenig im und ums Dorf herum und fand es jenseits der Durchgangsstraße eigentlich richtig nett. Das Gasthaus ist vor allem riesig, unser Zimmer war riesig, die Portionen waren es auch, ich hatte mir etwas mehr Rafinesse erhofft mit einem französischen Koch, aber es war sehr durschnittlich, ein durchfahrender Lkw-Fahrer wird aber bestimmt gut satt. Riesig aber war auch die Freundlichkeit des Wirts, der mich auch Internet in seinem privaten Schlafzimmer nutzen ließ. Und das Frühstück am nächsten Morgen war auch gigantisch, sehr viel frische und gute Wurst, neben einem riesigen Korb frischer noch lauwarmer Brötchen. Der Wirt ist extra wegen uns früher aufgestanden, obwohl er spät noch mit Gästen im Jägerzimmer Fußball schauen musste, weil wir so früh wie möglich eine Werkstatt anrufen wollten. Wir wussten in der Zwischenzeit (dank der schwäbischen Freunde, merci M&M!) wo es welche Werkstatt gab und dass vermutlich (Christophorus hatte uns erhört!) nur der Öldruckmessstab leck war. Die nächste Überraschung war die fixe und kostengünstige Sofortreparatur der Opel-Werkstatt in Pfullingen und auch hier extreme Freundlichkeit. Ich war begeistert von Deutschland, wenn nur die vielen Deutschlandfahnen nicht gewesen wären, ich war immer noch ein bisschen verschämt, Monsieur dieses komisch stolz-geflaggte Deutschland zu zeigen.
Dann fuhren wir in den Odenwald und da fühle ich mich ja so wehmütig zu Hause, diese grünen Hügelchen, diese Lieblichkeit, das Fachwerk und der rote Sandstein, ich war die ganze Zeit nur gerührt. Obwohl ich hier groß geworden bin, verfuhr ich mich ständig, beruhigte Monsieur aber stets mit “Ich kenn’ mich hier aus”, wenn ich zwischen Reinheim, Reichenbach und Reichelsheim durcheinander geriet. Und wo kommen alle diese neuen Umgehungsstraßen her? Die mied ich natürlich und bewies Pfadfinderqualitäten, denn ich glaubte auf der Suche nach Nieder Kainsbach auch viel direkter sein zu können und habe dabei einen sehr hübschen abgelegenen Ort entdeckte: Nonrod, sehr idylllisch wirklich, aus dem wir dann nur über Feldwege wieder hinaus kamen. Monsieur sprach derweil wieder leise mit Christophorus. Wir kamen deshalb auch immer an. Manchmal etwas später. Aber das ist das französische Viertelstündchen. Im Odenwald waren viele Freunde in einem schönen großen Ferienhaus versammelt und ich suchte zusätzlich noch Orte der Vergangenheit auf, was mir zusätzlich berührende Begegnungen bescherte. Ganz zu Schweigen vom überraschenden Besuch in einer kleinen Buchhandlung in Michelstadt, The little bookshop, in der ich mein Buch vorrätig fand, was mich extrem freute, die Buchhändlerin freute sich dann wiederum über meinen Besuch. Das alles waren sehr, sehr schöne Momente, manchmal war ich den Tränen nah, so etwa in dem Kirchlein in meinen Heimatdorf, dem ich vor dreißig Jahren schnöde den Rücken gekehrt habe.
In Pfronstetten hatte ich übrigens erstmals ein bisschen drumherum zum Fußball geschaut und weiß seither über die Brüder Boateng bescheid. Weshalb ich mir das Spiel Deutschland-Ghana erstmals auf einer großen Leinwand komplett ansah. Ich fand’s tatsächlich spannend und die anwesenden Kinder fragten immer erstaunt, warum ich denn so schreien würde. Na, ich habe eben mitgefiebert! Ich! Bei Fußball! Vor zwei Jahren fragte ich noch voller Unkenntniss gegen Ende eines Spiels, das mir in Deutschland bei ähnlicher Gelegenheit aufgezwungen wurde, warum eigentlich alle um mich herum für Polen seien, bis mir auffiel, dass ICH mich 85 Minuten lang in der Mannschaft geirrt hatte.
Ich könnte noch viel mehr schreiben, in Heidelberg gab es auch nochmal ein Hotel Rose mit Fünfziger Jahre-Jagdfresken an der Wand und Tischabfalleimern und Kissen mit Schlag und ausgezeichnetem Frühstück; erwähnen möchte ich auch die wirklich idyllische und charmante Pension Moarhof in Südtirol, die wir auf der Rückfahrt gleich wieder anfuhren, weil es dort so nett war – und nein, ich werde dafür nicht bezahlt, es macht mir nur Freude Orte, an denen es uns gut ging, zu benennen. An die Flaggen hatte ich mich zwischenzeitlich gewöhnt, ich hoffe allerdings, dass die Anzahl nach der WM wieder etwas abnimmt. Ohne Handy ging weitestgehend prima, man muss im Notfall eben wie früher andere um Hilfe bitten. Geht. Ich habe es auch nicht überstrapaziert und nur dort angerufen, wo es wirklich sein musste, alles andere war vorab organisiert, und diese Termine wurden eben eingehalten. Fußball wird jetzt hier so ein bisschen geguckt. Vor drei Tagen sagte Monsieur irgendetwas unqualifiziertes à la “Deutschland darf gegen die USA nicht gewinnen, weil sie sonst rausfliegen, deswegen stolpern sie so vor sich hin”, woraufhin ich ihm lang und breit erklärte, warum das Spiel USA-Deutschland so besonders sei und dass beiden ein Unentschieden reichen würde und dass Deutschland sogar verlieren könnte und trotzdem qualifiziert sei, vorausgesetzt, dass Ghana gegen Portugal undsoweiter und ratterte dieses ganze Zeug runter und fragte mich, warum ich mir das gerade alles merken kann?! Gefallen hat mir das Spiel trotzdem nicht. Und Fähnchen werden hier auch nicht geschwungen. So viel für eben, wir verabschieden uns ins Trainingslager … nein, ganz im Ernst, ich sage “Tschüss” bis zum September, ich habe schrecklich viel zu tun und es ist Sommer, das ist hier ja kein echter Spaß. Ich hasse diese Jahreszeit hier, es ist zu heiß, zu schwül, zu laut, alle haben Ferien und ich … muss arbeiten. Wir lesen uns später im Jahr wieder. Bis dahin! Haben Sie es gut und (nur) so viel Sommer wie Sie mögen!
ps: Die Dokumentation meiner Deutschlandreise ist fototechnisch eigenartig ungleichgewichtig ausgefallen, Pfronstetten auf der Alb wurde eindeutig überproportional abgelichtet. Drei Fotos in der ersten Reihe stehen stellvertretend für München und den Odenwald. Wir hoffen, die Mama des kleinen Mädchens mit der Katze ist mit der Abbildung einverstanden.
Liebe Christiane,
ich schmunzelte sehr über deinen Bericht. Und JA: 2006 hat Deutschland in Bezug auf Fußball sehr verändert. Damals war ich mit einem völlig Fußballuninteressierten Mann verheiratet, der in dieser Zeit plötzlich das Spiele gucken und sich freuen für sich entdeckte. Und die Fahnen werden verschwunden sein, sobald Deutschland nicht mehr spielt, also spätestens nach dem 13.07.
Danke, Luli, hier etwas, was ich auf FB auch schon schrieb: Ich habe mich im Laufe der Zeit an die Deutschlandfahnenpräsenz gewöhnt, fand es dann auch gar nicht so schlecht, dass diese Konnotation Stolz/Deutschlandfahne=Rechtsextremismus aufgebrochen wurde, wie ich es zumindest bislang immer empfunden habe. Ich bin eben ohne diese Zeichen aufgewachsen. In München (vor allem) sah ich ein junges Publikum, das damit ganz unbeschwert umging, das war schön. Und Monsieur fand (glaube ich) gar nichts Ungewöhnliches daran, so viel Schwarz-rot-gold zu sehen.
Die Deutschlandflaggen haben ihre Bedeutung geändert mit den Jahren.
Jetzt sagen sie: “Ich mag Fussball und ich wünsche mir, dass Deutschland, also wir, gewinnt.” Und sie sind jetzt schon wieder verschwunden.
Der Misthaufen kam mir gleich so bekannt vor. Wir fahren da schon so viele Jahre dran vorbei auf dem Weg zu den Schwiegereltern im Oberland.
Die Alb hat ihren eigenartigen Zauber der verlassenen Welten behalten.