Vielleicht haben Sie es verfolgt, ganz Frankreich war heute auf der Straße. In Paris lief Angela neben François und alle, alle waren da. In Cannes haben wir uns dans les Allées versammelt, dort wo sonst sonntags Antiquitätenmarkt ist und die Woche über Boule gespielt wird. Und es war wie in Paris, nur in klein,
aber Monsieur sagt, er hat in Cannes niemals so viele Menschen versammelt gesehen, nicht mal für das Filmfestival. Man hört heute überall, dass seit der Libération (der Befreiung Paris’ und Frankreichs nach dem Zweiten Weltkrieg) nicht mehr so viele Menschen gemeinsam für eine Sache auf die Straße gegangen sind. Damals war die Stimmung vermutlich etwas ausgelassener. Heute war es schweigsam, wobei schweigsam nur heißt, dass keine Parolen skandiert wurden oder in Trillerpfeifen geblasen wurde, gesprochen wurde natürlich, aber es war ruhig und friedlich und freundlich. Man hielt diverse Schilder in die Höhe, es gab Charlie-Rufe, Liberté-Rufe und Applaus, und hin und wieder wurde die Marseillaise gesungen, deren blutrünstiger Text heute irgendwie passte. Besonders laut wurde jedes Mal der Refrain “aux Armes citoyens” und “marchons, marchons” angestimmt. Das taten wir dann auch – wir marschierten, spazierten vielmehr die Croisette entlang, Familien, Alte und Junge, vorbei am Palais des Festivals, das ein riesiges schwarzes “Je suis Charlie”-Banner aufgezogen hatte und sogar einen schwarzen Teppich, anstelle des roten, auf den legendären Stufen ausgelegt hatte, von dem man aber vor lauter Menschen nichts sah.
Und während wir am Schwanzende der Versammlung noch auf dem Hinweg waren, kam uns auf der Gegenspur der Anfang des Marsches schon wieder entgegen. Es waren sehr, sehr wenige Maghrebins dabei, um das auch zu sagen, eine Handvoll Männer, die Schilder mit “pas en mon nom” zeigten oder “Der Terrorismus hat keine Religion”.
Es ist sehr berührend und beeindruckend all diese Menschen solidarisch zu sehen, aber ich kann nicht umhin zu denken, wie allein die Zeichner und Macher von Charlie Hebdo bis gerade eben noch waren, wie kritisiert und angegriffen sie wurden für ihre freie und schonungslose Art sich einzumischen, kritisiert selbst von der Regierung. Ich hoffe sehr, dass mit dieser Bewegung ein frisches (und andauerndes) Bewusstsein für die Pressefreiheit geschaffen wird, die nicht überall in der Welt so frei existiert. Schreiben wir weiter, zeichnen wir weiter und verteidigen wir diese Freiheit, es kann und wird nicht alles immer allen gefallen. Aber so ist es. Diese Freiheit haben wir auch, die Freiheit nicht einverstanden zu sein.
ps: Auf arte gab es kürzlich die Sendung “Ausgelacht”: wie Karikaturisten in aller Welt mit Tabus und (nicht existenter) Meinungsfreiheit umgehen; kann auf arte+7 noch ein paar Tage lang angesehen werden.
Vielen Dank für Deinen Bericht aus Cannes.
Wenn für jedes gerufenes “Aux armes, citoyens” gedanklich ein Bleistift statt einer Bleikugel gemeint war, dann passt es doch. Wichtig ist doch, dass man gegen Terror und Gewalt ist. Egal von welcher Seite aus.
Ich träume von dem Tag, an dem alle Waffenhersteller und -lieferanten in Konkurs gehen…
Ja, das wurde andernorts auch kritisiert, dass “aux armes” vielleicht nicht passend gewesen sei an einem friedlichen Tag, aber wie ich dort schon sagte, im übertragenen Sinn, im Sinn von “wir mobilisieren uns, wir wehren uns”, kann ich es gelten lassen, und ich denke, so war es gestern gemeint.
Im übrigen ist es eben die französische Nationalhymne, die gesungen hier wirklich ein Zusammengehörigkeitsgefühl entstehen lässt, wie das für Nationalhymnen allgemein vorgesehen ist. (Ein Marschlied, dessen Melodie und Text aus der Zeit der Französischen Revolution stammen.)