Es war grau und später regnete es, als ich mich zur Fondation Louis Vuitton in den Bois de Boulogne aufmachte. “Schau dir dort unbedingt die Ausstellung in der Fondation Vuitton an”, sagte mir eine Freundin, als ich erzählte, wir würden gleich nach Paris fahren. War mir peinlich, ich hatte nicht mal den Hauch einer Ahnung, was und wo die Fondation Louis Vuitton sein könnte. Sieh an, es ist ein Kunstort, den sie heimlich hinter meinem Rücken in Paris gebaut haben. Was habe ich eigentlich im Oktober 2014 gemacht, als das Gebäude, erbaut vom Architekten Frank Gehry, eingeweiht worden ist? Alle Feuilletonartikel in der Zeitung verschlafen? Mein erstes kulturelles Loch hatte ich ja, als ich fünf Jahre in meinem Bergdorf gelebt habe. Den Anschluss an verpasste Filme, Ausstellungen und Kunstevents habe ich nie mehr geschafft, es auch nicht gewollt, wenn ich ehrlich bin. Dass ich in den fünf Jahren ganz gut gelebt habe und die Erde sich auch weitergedreht hat, obwohl ich weder aktiv noch passiv am Welt-Kulturgeschehen teilgenommen habe, war überraschend. Monsieurs Kulturloch ist noch viel größer, fünfzehn Jahre lang hat er in einem korsischen Dorf gelebt. Was in den Achtzigern auf dem Kontinent passiert ist, davon hat er so gut wie keine Ahnung. Aber als er zurückkam, war es für ihn schwierig, den Anschluss zu finden. Ganz generell, an das Leben “auf dem Kontinent”. Ich schweife ab. Die Fondation Vuitton also. Die Sammlung Chtchoukine. Sollte toll sein. Ich hatte eine Karte (Monsieur hatte nur müde abgewinkt) vorab bestellt, damit ich mir das Schlangestehen am Ticketschalter ersparen konnte. Pustekuchen. Ich musste schon am Arc de Triomphe für den kleinen Shuttlebus Schlange stehen.
Und dann stand ich, trotz Vorabticket, in einer der drei Schlangen (Schlange A: ohne Ticket, Schlange B: mit Ticket Einlass zur vollen Stunde, Schlange C: mit Ticket Einlass zur halben Stunde) an, und, ehrlich gesagt, waren die Besucher ohne Ticket diesmal schneller drin. Welche Schmach. In meiner Schlange schafften wir es aber gerade auch noch vor dem Regen. Überdacht ist da nämlich nix. Man steht vor diesem Luxusgebäude, das aussieht wie ein Schiff mit geblähten Segeln, im Freien herum und muss zunächst durch einen Sicherheitscontainer.
Ich hatte tolle Fotos von dem Gebäude gesehen. Komischerweise waren die weißen “Segel”, die man auf allen Fotos sieht, jetzt bunt gefleckt und wirkten selbst an, oder auch wegen, dem grauen, sonnenlosen Wintertag gar nicht fröhlich, nur irgendwie plastikmäßig.
Man konnte sich auch nicht wirklich so richtig vom Gebäude entfernen, um einen Eindruck von Weitem zu bekommen, denn drumherum ist ja überall Wald.
Der Bois de Boulogne ist ein richtiger Stadtwald, zerschnitten von Schneisen und Wegen und Straßen, aber eben Wald. Mit einem zweifelhaften Ruf, das wissen Sie vielleicht. Aber ich wollte ja auch keinen Waldspaziergang machen, sondern die Ausstellung ansehen.
Drinnen im Schiffsgebäude war alles groß, hoch und leer. Wir wurden in engen, abgsperrten Wegen mit sehr viel Sicherheitspersonal über drei Etagen zur Kunst geleitet. Es ging nur vorwärts. Und es war voll. Man sah schon wieder nur Menschen vor der Kunst und nicht die Kunst selbst. Ich war in Nullkommanix schon wieder genervt und marschierte eher unwillig durch den ersten Saal mit Porträts und, wie nennt man von sich selbst gemalte Porträts?! Autoporträts?! Sagt man das? Wie dem auch sei: diverse (und ausschließlich) Herrenköpfe.
Dann kamen die Impressionisten, ich habe die Hälfte schon wieder vergessen, so viele waren es: Mehrere Manets, Monets und Renoirs. Vor einem fast völlig die Wand einnehmenden Déjeuner sur l’Herbe geriet ich fast in Wut, weil eine Dame im roten Pullover, die sich etwa zehn Mal davor fotografieren ließ, so lange den Blick darauf versperrte. (Im Nachhinein ärgere ich mich, dass ich das nicht fotografiert habe. Heute fände ich es witzig, das zu zeigen, aber dort ärgerte ich mich nur maßlos.)
Dann: Frauenporträts (immerhin!)
Dann Gemälde von Cezanne und vom Zöllner Rousseau, und ein Saal fast ausschließlich mit großformatigen Gauguins.
Und dann ein Saal voller Matisse’. Und etwas veränderte sich in mir. J’étais émue par les Matisses, erzählte ich später. Ich war so ge- und berührt von den Matisse-Gemälden. So groß, so leuchtend farbig, so wundervoll fand ich sie, ich hatte Tränen in den Augen und konnte mich kaum von ihnen lösen.
Und ich wurde milder mit den Menschen, denn ich verstand jetzt das Raunen in den Sälen und die aufgeregte Nervosität der Besucher, die sich vor den Gemälden drängten. Ich schätze, es waren etwa 80 Prozent Franzosen, und sie waren die ganze Zeit, so wie ich bei den Matisses, gleichzeitig gerührt und aufgewühlt. Mit einem gewissen Besitzerstolz betrachteten sie jedes einzelne Gemälde lange und intensiv, so, als habe man ihnen endlich “ihre” lang verschollene Kunst zurückgebracht.
Chtchoukine hatte die Kunst seinerzeit redlich erworben, hatte im großen Stil, mal eben hier dreißig Picassos und mal da zwanzig Matisses’, gekauft. Matisse hatte sich selbst nach Russland begeben, um seine Gemälde in den rosa Salon des Chtchoukine-Palastes zu hängen. Nach der Russischen Revolution aber musste Chtchoukine mit seiner Familie fliehen und landete über Umwege in Paris, wo er 1948 im Alter von 82 Jahren starb. Der russische Staat beschlagnahmte seinen Besitz und teilte seine Gemäldesammlung in zwei Nationalmuseen auf. Vieles verschwand aber über Jahrzehnte in den Archiven, da es der Staatsführung als nicht genehm galt.
Die Ausstellung in der Fondation Vouitton ist gigantisch. Dabei sahen wir nur etwa die Hälfte (= 130 Gemälde) dessen, was Chtchoukine seinerzeit besaß. Was für ein unfassbar großer Besitz an (damals) moderner Kunst.
Gegen Ende wurde es moderner und damit ruhiger in den Sälen: des Raunen vor den abstrakter werdenden Picassos, Braques und ein paar russischen Künstlern wie Malewitsch wurde leiser, und die Menschen standen weniger gehäuft und weniger lange vor den Gemälden, die vielleicht schwerer zugänglich sind, aber man war vielleicht auch einfach schon gesättigt.
Ich hätte danach gerne einen Kaffee getrunken und mich mal einen Moment hingesetzt, um alles nachwirken lassen. Die nüchternen Bänke in der Mitte der Säle waren nämlich nicht nur wenig einladend, sondern man sah von dort auch gleich gar nichts mehr, zumindest keine Kunst. Aber es gab keine Sitzgelegenheit. Nirgends. Alles nur hoch und weit und leer. Und vor dem edlen Restaurant, das ab 16 Uhr immerhin einen Gouter anbot, stand schon wieder eine lange Schlange. Complet. Rein kam man nur, wenn andere Gäste rauskamen.
Ich drückte mich also mit vielen anderen noch eine Weile in der Buchhandlung herum, blätterte noch einmal den Ausstellungskatalog durch (tonnenschwer, blieb daher ungekauft), und stand dort für ein paar Postkarten mal wieder in einer langen Schlange an der Kasse an, und dann warf ich mich, was sollte ich auch sonst tun, in den kalten Regen und wartete in einer weiteren langen Schlange wieder auf den Shuttlebus zurück zum Arc de Triomphe. Danach hatte ich Fuß und Rücken und ich frage mich, wie man das alles “durchsteht”, wenn man noch etwas älter ist.
Hier ein Nachtrag, daher auch in Rot, falls Sie sich noch einmal hierher verirren sollten: ich habe mich sehr beeilt, diese Texte zu schreiben und ich hätte vieles noch schöner machen können (manche Sätze vielleicht auch, ich habe auch ein “n” getauscht), ich bin eben auf der Seite der Fondation Vuitton über zwei sehr anrührende kleine Filme gestolpert, die ich Ihnen hier verlinke: Sie können einen Tänzer in der Ausstellung verfolgen, so sehen Sie einen kleinen Teil der Ausstellung quasi alleine, UND er beginnt bei Matisse! Im zweiten kleinen Film wird erzählt, wie die Ausstellung zustande kam, auf Bitte der Familie Chtchoukine nämlich, und man sieht auch einen Enkel von Chtchoukine, der beglückt ist, zumindest einen Teil des “Familienerbes” sehen zu können; ist auf Französisch, aber auch die Bilder sprechen für sich.
Selbstporträt.
Ah! Danke! Mir geht die deutsche Sprache langsam verloren …
Danke Christiane. Sehr informativ und dazu mit tollen Bildern. Wie wärs mal mit Dresden und seinen Kunstschätzen? Ist das auch mal in Planung?
Ich wünsche Dir und Deinen Lieben ein schönes Weihnachten und einen guten Rutsch in ein hoffentlich friedlicheres Neues Jahr. Bleib bitte so schreibfreudig, ich freue mich schon auf den nächsten Bericht von Dir.
Danke dir, Birgit! Einen Text gibts noch zu Paris, dann vielleicht noch einen Jahresabschlusstext und dann ist erstmal ein Momentelchen Ruhe. Ich kann so viel nur schreiben, wenn ich “frei” habe und produziere ausserdem unter absoluter Missachtung aller anderer Tätigkeiten. Freut das direkte Umfeld weniger. Dresden ist und wäre schön ja, Wien auch, aber Paris ist ja Familienbesuch und Freundebesuch gleichzeitig. Da wird nur Kunst undsoweiter drumherumgelegt, das ist keine Urlaubsreise im weiteren Sinne. Und nächstes Jahr will Monsieur nach langer Zeit mal wieder nach Korsika, “bevor dort alle, die er kannte tot sind” (Zitat), on verra …
Na dann freue ich mich jetzt schon auf deinen Korsika-Bericht. Da war ich noch nicht, interessiert mich auch sehr.
Ach Paris… und Korsika…!! Ihr wandelt schon wieder auf meinen Spuren (nach Biscarosse und Toulouse), denn dort habe ich auch mal 6 Monate gelebt. War mein allererster längerer Auslandsaufenthalt mit Anfang 20 und der Grundstein für alle weiteren Aktivitäten in diese Richtung…!! So eine Trauminsel…!!
na sowas … was hast du denn da gemacht?! auf Korsika meine ich –
War für ein kleines dt. Reiseunternehmen “Mädchen für alles”: Rezeptionistin, Reiseleitung, Putzfrau (in der Nähe von Calvi), und ich habe in einem kleinen Laden auf einem korsischen Campingplatz gearbeitet (bei Porto Vecchio). Das waren noch Zeiten, Abenteuer pur…Gut, dass ich das alles erlebt habe! Es schlagen eben zwei Herzen in meiner Brust. Auch damals schon habe ich mir die Frage gestellt: bleiben oder gehen? War dann doch nicht mutig genug und bin wieder zurück nach D.
Toll! Und ja, wie gut, dass du das alles gemacht hast! Wärst du geblieben wäre es heute Alltag und fühlte sich nicht mehr nach Abenteuer an. Siehs mal so.
Vielen Dank, liebe Christiane,
für den weiteren interessanten Parisbericht und die tollen Bilder!
Ich wünsche Euch frohe, gesunde und (hoffentlich) entspannte Festtage und alles erdenklich Gute für 2017.
Herzliche Grüße Uschi
Danke für die Wünsche, liebe Uschi, das Gleiche gebe ich zurück!
Und einer kommt noch von Paris …