Herzzerreißend

Des images déchirantes, sagen die Journalisten mehrfach. Herzzerreißende Bilder. Ich kann mich nicht erinnern, Journalisten jemals so tief ernst und berührt gesehen zu haben. Ich, emotional wie immer, habe Tränen in den Augen, während ich die aktuellen Bilder im TV sehe. Ein Franzose, der (im derzeit noch wenig betroffenen Lviv im Westen der Ukraine) eine französische Supermarktkette leitet, sagt, auf die Frage, warum er nicht nach Frankreich ausreise: “Alle meine Mitarbeiter sind da, niemand ist gegangen, alle sind mutig und engagiert; in einem Supermarkt geht es darum, die Menschen mit Lebensmitteln und allem Notwendigen zu versorgen. Das tun wir. Ich kann meine Mitarbeiter doch jetzt nicht alleine lassen.” Ob er keine Angst habe, wurde er auch gefragt. “Noch nicht”, antwortet er.

Das französische Filmarchiv INA hat heute eine (klick–>) Balade dans Kiew, einen kleinen Spaziergang in Kiew in den 60er Jahren, ausgekramt. Kiew gehörte damals allerdings zur UdSSR. (Achtung: Dies ist nur ein kopiertes Foto. Ich kann das INA-Video hier nicht direkt einbetten. Sie müssen bitte auf den oben angegebenen Link klicken und dort den Film öffnen.)

Die Ukraine habe so viele Eroberer gesehen, aber keiner konnte die Vitalität der Ukrainer zerstören, lautet einer der letzten Sätze. “Ruhm für die Ukraine!” ruft Vitali Klitschko stolz zum Abschluss seiner Posts auf Instagram.

Ich habe daraufhin ein paar aktuelle Reisevideos angesehen. Ich gebe Ihnen mal dieses hier, weil es am meisten von der Ukraine zeigt. Ich, die ich im Kalten Krieg aufgewachsen bin, habe ja immer noch diese grauen, tristen Bilder im Kopf von all diesen “armen” Ländern im Osten, die ich dann auch nach dem Mauerfall und der Öffnung des Ostens so gut wie nie besucht habe. Als eine (Internet-)Freundin vor ein paar Jahren sagte, sie habe sich “in Bukarest verliebt” (erst in die Stadt, dann in einen Mann) und dort hinzog, konnte ich es nicht fassen. Ich sehe immer nur Ceaucescu und diesen überdimensionierten Palast und all die hungernden Menschen vor mir. Geht aber nicht nur mir so. Manche Amerikaner, die Reisevideos gedreht haben, sind offensichtlich auch mehr als überrascht, dass sie dort im Osten etwas Richtiges zu essen kriegen und sogar schnelles Internet haben. Wow! Und alles ist so billig! Ich entschuldige mich für alle meine Vorurteile. Die Ukraine werde ich jetzt wohl nie mehr so sehen. (Achtung: Man konnte sogar Tchernobyl besichtigen. Das wird von uns bleiben, denke ich, im Fall dass …)

Bei INA gab es heute auch Serge Reggiani, der einen Text von Boris Vian interpretierte: le Java des bombes atomiques. Klingt, wenn man nicht auf den Text hört, wie ein heiteres Liedchen. Der Text hat es in sich. Er ist vor allem terrible. Schrecklich, furchtbar. Aus dem zunächst amateurhaft Bomben bastelnden Onkel wird ein Fanatiker, der seine Bomben immer weiter perfektioniert. Alle Staatsoberhäupter statten ihm einen Besuch ab. Der Onkel sperrt sie ein und bombt sie in die Luft. Es sei ein unglücklicher Zufall gewesen, stammelt er später vor Gericht, und dennoch sei er überzeugt, Frankreich damit gedient zu haben. Er wird verurteilt, amnestiert und … zum neuen Regierungschef gewählt.

Ist natürlich eine pazifistische Botschaft.

Fließender Übergang zur Wahlkampagne. Macron hat gestern Abend ein kleines erstes Video veröffentlicht, der Auftakt einer mehrteiligen Serie Le Candidat, deren Folgen immer freitags veröffentlicht werden. Man folgt ihm (und seinem Hund, nur kurz im Bild) in sein Büro im Elysée, sieht, wie er seinen Brief an die Franzosen verfasst und er spricht assez décontracté, ziemlich locker, zu den Franzosen. Über seine Erfolge in den letzten Jahren (niedrige Arbeitslosigkeit, viele Ausbildungsplätze) zum Beispiel. Er habe auch weiterhin ehrgeizige Pläne für Frankreich. Als amtierender Präsident aber müsse er, insbesondere in dieser außergewöhnlichen Situation, weiterhin seine Arbeit tun, er habe zum Beispiel lange mit Putin und mit Zelensky telefoniert, aber er verspricht, sein Programm vorzustellen und sich, wie die anderen Kandidaten, den Fragen der Franzosen zu stellen. Nichts sei bislang entschieden, sagt er, auf die Frage, ob er die Wahl nicht eigentlich schon “in der Tasche habe”.

Nun gut. Gerade steigen seine Umfragewerte, denn er macht als “Mediator” eine bemerkenswerte Arbeit. Insbesondere die älteren WählerInnen (die, die in der Regel auch wählen gehen) setzen auf Sicherheit und wollen keine Experimente mit einem neuen unerfahrenen Kandidaten oder einer unerfahrenen Kandidatin. Aber nichts ist sicher in dieser Welt, wie wir gerade erfahren. Alles kann passieren. Auch das Schlimmste.

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1 Responses to Herzzerreißend

  1. Karin sagt:

    Liebe Christiane,
    in der Tat erschütternd, was man an Nachrichten hört und sieht. Und irgendwie paradox, dass man sich so viel mehr berührt fühlt als von all den anderen Auseinandersetzungen in den vielen Krisengebieten dieser Welt, wo genau wie in der Ukraine Menschen sterben. Katharina Thalbach hat uns in in einem Interview daran erinnert, so viele Konflikte spielen sich gleichzeit ab (ich füge hinze: man verliert den Ueberblick). Und dennoch fühle auch ich mich von diesem Krieg betroffener als von anderen, so nah an Europa. Meine Heimatstadt liegt genau auf halber Strecke zwischen Genf und Kiew, leicht mit dem Auto an einem Tag zu schaffen, allein der Gedanke erschrickt mich. Eigentlich wollte ich meinen “Heimaturlaub” für Ostern planen, aber es ist fast wie mit Corona zu manchen Zeiten: hat es überhaupt Sinn zu planen, wenn wir gar nicht wissen was dann sein wird?
    Samstag war ich auf einer Demo gegen den Krieg in der Ukraine und zwei Damen vor mir unterhielten sich über die Nachrichten aus Deutschland, dass der Verteidigungsetat (eigentlich ein Sonderetat, aber gut) drastisch erhöht wurde. Man hat schon wieder Angst vor einem starken Deutschland. Fast wollte ich ihnen zurufen: es geht darum, die Truppe so auszustatten, dass sie nicht gleich über den Haufen geschossen werden im Falle dass. Ich hoffe, das entspricht der Wahrheit. Wie in vielen Fragen fühle ich mich derzeit einfach nur hin- und hergerissen zwischen den Alternativen…