Tatjana

Sie haben es schon gemerkt, dieser Krieg berührt mich mehr als all die anderen, die es zeitgleich auch irgendwo gibt. Ich glaube, es liegt daran, dass mir Putin vorkommt wie Hitler, ein Größenwahnsinniger, der sein Volk indoktriniert hat und einen gnadenlosen Angriffskrieg führt. Damit werde ich in unsere Geschichte katapultiert, mit der ich mich, wie Sie wissen, schon immer und immer wieder auseinandersetze. Ich habe für meinen letzten Kriminalroman über die Geschichte der versteckten jüdischen Kinder hier im Südosten Frankreichs recherchiert; bei all dem Leid, dass es im Zweiten Weltkrieg gab, haben immer auch Menschen andere Menschen aufgenommen, mitunter jahrelang versteckt und unter schwierigen Bedingungen mit ernährt. Und sich dabei selbst in Lebensgefahr gebracht.

Ich habe mich, trotz so vieler herzzerreißender anderer Bilder, die ich auch gesehen habe, noch nie vorher in der Flüchtlingshilfe engagiert. Erstmals aber hat es mich nicht ausreichend beruhigt, Geld zu spenden oder von den drei verbleibenden Etsy-Händlerinnen in der Ukraine etwas zu erwerben. Es gibt hier unten auch kaum erwähnenswerte Demos, bei denen man sich solidarisch zeigen kann, und die einem vielleicht das Gefühl geben, etwas getan zu haben.

In der Nacht von Samstag auf Sonntag habe ich so gut wie nicht geschlafen. Monsieur ebensowenig. “Kannst du dir vorstellen, dein Büro zur Verfügung zu stellen?”, fragte Monsieur, noch bevor er mir seinen Guten-Morgen-Kuss gegeben hat. Ich weiß, was er meint. “Ja”, nicke ich, ebenfalls noch bevor ich “guten Morgen” sage und fühle mich unendlich erleichtert und mit einem Mal auch ruhig. Ich kann aktiv etwas tun in diesem Wahnsinn!

Am Montagmorgen um 10 Uhr öffnet das Büro für die Ukraine-Hilfe, das sich in einem Mehrzwecksaal in einer Außenstelle der Mairie befindet. Wir sind die ersten an diesem Morgen, die eine Unterkunft anbieten. Wir denken dabei an ein Paar oder an eine Mutter mit einem Kind, es ist nur eine kleine einfache Einzimmerwohnung mit einem Klappsofa. Die beiden Damen notieren sich unser Angebot. “Wie lange?”, fragen sie. Ich sehe Monsieur an. “So lange es nötig ist”, entscheidet er. Sie nicken und lächeln. “Und ab wann?”, fragen sie. Wir zucken die Schultern und überlegen. “Ab sofort vielleicht?”, fragen die Damen nach. Monsieur und ich sehen uns an. So schnell? “Dann müssen wir ein bisschen Möbel schieben”, überlegen wir laut, denn ich werde meinen Schreibtisch und meinen Stuhl in unser Wohnzimmer integrieren, “aber doch, das können wir hinkriegen. Ab sofort, ja”, nicken wir den Damen zu.

Nicht mal eine Stunde später werde ich angerufen: Im Laufe des Tages käme eine junge Frau mit zwei Kindern, ob sie zu uns kommen könnten? “Klar”, sage ich, zögere aber, denn für drei Personen haben wir keine Schlafgelegenheit, wir haben nur ein Klappsofa für zwei. “Wie alt sind die Kinder?”, erkundige ich mich, mit zwei kleinen Kindern könnte man vielleicht auch zu dritt in dem, wenn ausgeklappt, ziemlich breiten Sofa schlafen. Aber die Kinder sind etwa 8 und 10 Jahre alt. Unser Angebot ist raummäßig das größte, das derzeit zur Verfügung stehe, erfahre ich, und klar, es ist dringend. “Können Sie nicht noch eine Schlafgelegenheit dazustellen?”, fragt die Dame der Mairie. “Ja, vielleicht”, überlege ich. Ein Sofa, gebraucht gekauft für das Haus im Bergdorf, hat sowieso vorübergehend seinen Platz im Büro, “aber dann wird es wahnsinnig eng”, wende ich ein. “Glauben Sie mir, das ist den Leuten egal, die brauchen nur überhaupt einen Raum, um zur Ruhe zu kommen und in Sicherheit zu sein”, versichert mir die Dame. “Gut, dann machen wir das”, stimme ich zu.

Monsieur und ich wuchten Möbel in die erste Etage (fragen Sie nicht nach den Knien!) und schieben Sudokumäßig Möbel im Büro hin und her. Das Sofa ist etwas kurz, aber vielleicht kann ein Kind dort schlafen? Ich suche Kissen und Deckbetten und zusätzlich einen Schlafsack, Bettwäsche und Handtücher zusammen. Ich lüfte den alten Schlafsack und besehe ihn mit kritischen Augen; waschen kann ich ihn so schnell nicht mehr, wir kaufen aber eilig noch einen Innenschlafsack. Einerseits bin ich total energiegeladen, gleichzeitig nervös und flatterig. Was für Leute werden es sein? Ich suche einen großen Topf mit Glasdeckel, um die karge Küchenausstattung des dafür nicht gedachten Büros etwas anzureichern, der Topf gleitet mir aus den zitternden Händen und der Deckel zerbricht krachend auf dem gekachelten Fußboden in tausende von Glassplittern. Ich stehe dumm herum, während Monsieur schweigend die Glassplitter zusammenfegt. Die “Glasdeckel-Explosion” hat mich zwar von meiner Übernervosität heruntergeholt, der Topf aber ist hin.

Ich erhalte einen Anruf einer (mittelmäßig gut) französisch sprechenden Ukrainerin, die für die Mairie vermittelt und übersetzt. Die Familie käme gegen 18 Uhr an, man würde sie zu uns begleiten. “Alles gut”, sage ich und überlege bereits, was ich zu Essen machen könnte.

Mit dem, was ich im Haus habe und dem, was universell passen könnte, plane ich eine Gemüsesuppe, Nudeln mit Tomatensoße, eventuell angereichert mit steak haché (Rinderhacksteaks, das französische Kinderessen schlechthin) und einen Apfelstreuselkuchen. Damit bin ich den Rest des Nachmittags beschäftigt. Ich erhalte einen weiteren Anruf, es wird später, vielleicht würde es auch sehr spät, ob sie trotzdem kommen könnten? “Selbstverständlich”, versichere ich. “Wir warten auf jeden Fall und es gibt auch etwas zu essen.” Mir wird überschwänglich gedankt.

Gegen 22 Uhr ist es soweit. Vier Erwachsene und ein Kind stehen vor mir. Ein anderes Kind schläft auf dem Arm einer schmalen jungen Frau mit großen Augen. Das Kind ist noch klein. Sie habe sich etwas mit dem Alter der Kinder vertan, entschuldigt sich die ukrainische Vermittlerin, die mit ihrem Mann und dem Bruder der jungen Frau gekommen ist. Alle drei erklären, warum sie Tatjana, denn so heißt die junge Frau, und die Kinder nicht selbst aufnehmen können, sie wohnen selbst schon wahnsinnig beengt. Der Bruder wohnt in einer 9 Quadratmeter”wohnung”, einem sogenannten chambre de bonne, einem ehemaligen Dienstmädchenzimmer. Sie finden unsere kleine einfache Einzimmerwohnung groß und großartig und danken mir alle immer wieder. Ich finde es beruhigend, dass es einen (wenn auch nur mäßig französisch sprechenden) Bruder gibt, der sich um all das Administrative (Aufenthaltsgenehmigung, etc.) kümmern will, über das wir uns natürlich auch schon Gedanken gemacht haben. “Wir machen das!”, versichern sie mir alle. Dass wir die Wohnung zur Verfügung stellen, ist schon so eine Erleichterung, alles andere werden sie übernehmen. Dann sind wir aber doch erstmal alleine mit Tatjana und den zwei Jungens, die vier und neun Jahre alt sind. Sie sind alle drei reizend. Niemand spricht Französisch oder Englisch, der Junge immerhin kann ein paar Brocken Schulenglisch, wir wurschteln uns so durch. Die Suppe ist gut, die Nudeln schmecken und der lauwarme Apfelstreusel ganz besonders. Merci, sagt der große Junge plötzlich in akzentfreiem Französisch und strahlt mich an. Ich muss mich zusammenreißen, um ihn nicht zu küssen und streichle auch nur ganz wenig über das blonde Flaumhaar des kleineren Jungen, der mit Pepita um die Wette maunzt und plötzlich laut pupst. “Oh!” macht er erschrocken und sieht schuldbewusst von mir zu seiner Mutter und zurück. Auch der große Junge hält kurz den Atem an. Was muss ihre Mutter ihnen nicht alles eingeschärft haben. “Benehmt euch, seid höflich und brav, gepupst wird nicht und schon gar nicht am Tisch!” Ich lache laut, uff, alle lachen und sind erleichtert. Tatjana entspannt sich zunehmend und umarmt mich plötzlich lange. Ich erinnere sie an die Großmutter, erfahre ich, an die Mutter ihres Mannes. Das ist ein Kompliment, vermute ich und bin gerührt. Gegen halb zwölf schläft der kleine Junge fast am Tisch ein und wir bringen die kleine Familie ins Erdgeschoss in ihre Wohnung.

Später gehe ich noch einmal nach unten und schließe vorsichtig die Fensterläden von außen, was ihnen, wie ich heute früh erfahren habe, Sorgen machte, weil sie dachten, sie müssten versteckt leben und dürften die Fensterläden nicht öffnen.

Eigentlich dachte ich, sie würden heute früh noch einmal zum Frühstück zu uns kommen, aber Tatjanas Bruder, Ivan, brachte schon eine Tüte voller Lebensmittel und außerdem Blumen für Tatjana und mich (es sei unser Tag, sagte er, klar, 8. März ist Weltfrauentag, war mir nicht besonders präsent dieses Jahr). Wir klären ein paar Fragen zur Heizung, Toilette, insbesondere die Mülltrennung beschäftigte sie. Ich frage, ob sie Nachrichten von ihrem Mann habe. Der Bruder nickt. Er lebt. Die Nacht war relativ ruhig, aber alle zwei Stunden gab es einen Alarm. Mehr erfahre ich erstmal nicht. Der Bruder hat heute einen Tag freigenommen und kümmert sich um das Dringendste. Ich frage wegen der Schule für die Kinder. Sie sehen mich skeptisch an. “So lange wird es doch nicht dauern”, winken sie ab. Ich fürchte, es wird noch sehr lange dauern, aber na gut, ich will sie damit nicht noch zusätzlich belasten. Eigentlich will Ivan zurück in die Ukraine, um sein Land zu verteidigen. “Alle meine Freunde kämpfen und ich tue nichts!” Aber erstmal wollte er seine Schwester in Sicherheit wissen. “Stabilität”, sagt er wiederholt. Sie brauche erstmal Stabilität. Erst dann wird er zurückgehen.

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26 Responses to Tatjana

  1. Trulla sagt:

    Großartig!
    Mir fehlen die Worte, um meinen Respekt auszudrücken, und nasse Augen habe ich außerdem.

    Ich selbst fühle mich jetzt leider zu alt und nicht mehr fit genug um mehr als finanzielle Unterstützung zu leisten. Aber wenigstens das kann ich.
    Und ich bin allen Menschen unendlich dankbar, die mehr tun.

    • dreher sagt:

      Danke! Wir haben die Möglichkeit (den Raum) und sind derzeit gesund genug für diese Art von Hilfe. Ich verstehe auch, wenn man so nicht helfen kann (oder mag), es ist (sehr wahrscheinlich) ein Engagement für lange Zeit. Für mich ist es das erste Mal, dass ich das tue und ich bin selbst so froh darüber, diesem Wahnsinn etwas entgegensetzen zu können (ich bin nicht sehr mutig, ich könnte nicht kämpfen).

  2. Reiner Wadel sagt:

    Chapeau, Madame!

  3. Croco sagt:

    Ihr seid wunderbar und toll!

  4. Norina sagt:

    Das ist so toll, vielen Dank!

  5. Kathrin Peters sagt:

    Großartig! Die Geschichte hat mich sehr gerührt! Alleine , dass Ivan unter diesen Umständen an den Weltfrauentag gedacht hat!

  6. Sunni sagt:

    Ach wie toll und wunderbar und herzzerreißend gut! Danke von uns, die wir nur spenden können. Danke für alle von Herzen kommenden Dinge. Wir fragen meine Freundin in Ternopil jeden Tag, ob sie lebt und die Familie soweit ok ist. Herzlichst, Sunni

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