Tetiana

Zwischen zwei Vulkaninseln ein Update zu Tetiana und ihrer Familie. Ich werde immer wieder privat gefragt, und vielleicht interessiert es Sie ja auch, wie es ihnen in der Zwischenzeit geht.

Vor einem Monat, am 18. September, sind sie abgereist. Ich weilte an diesem Wochenende in Deutschland, die Lesung, Sie erinnern sich, und habe habe mich daher am Freitagnachmittag schon verabschiedet. Ich sagte ihr, dass wir froh seien, in dieser Situation etwas für sie haben tun zu können, sie sagte tausendmal Merci und sie würde die Zeit bei uns nie vergessen, wir umarmten uns fest und weinten beide ein bisschen. Ich sei wie eine zweite Mama für sie gewesen, sagte sie. Wir versicherten uns gegenseitig, dass wir uns für immer im Herzen behalten würden. Der große M nickte und lächelte stolz, als ich ihm sagte, dass er ein toller Junge sei, wie großartig er alles gemeistert und Französisch gelernt habe, und dass es mir/uns eine Freude war, ihn und sie bei uns gehabt zu haben. Dem kleinen M ist das alles herzlich egal, er spielt ein Spiel auf dem Handy und kann es nicht unterbrechen, um sich von mir zu verabschieden.

Es gab ein paar Tage vorher noch einen Schreck, denn Tetianas Mann war überraschend krank geworden. Ich habe bis heute nicht verstanden, was er hatte, aber er hatte eine schwere Infektion und man hatte ihn umgehend ins Krankenhaus eingewiesen, wo er innerhalb von nur 24 Stunden zweimal operiert wurde. Sein Leben war wohl in Gefahr und Tetiana war, verständlicherweise, vollkommen durch den Wind. Sie wollte sofort abreisen. Mit dem Flieger. Jetzt sofort oder am nächsten Tag, es gab aber nur teure und vor allem sehr umständliche Flugverbindungen, bei denen sie mit den Kindern und Gepäck hätten umsteigen müssen, um letzten Endes ab Krakau dann doch wieder in einem Überlandbus zu sitzen. Sie harrte hier also aus bis zum 18. September, versuchte den Alltag zu überstehen und ging jeden Tag mit den Kindern stundenlang an den Strand.

Wir hätten gerne ein Aschiedsessen gemacht, wenigstens mit den Freunden aus den Bergen, wir planten hier oder da, aber es war ihr alles zu viel, sie war gedanklich abwesend und konnte sich auch nicht mehr genügend konzentrieren, um Französisch zu sprechen oder zu verstehen. Wir haben es abgeblasen und ließen sie in den letzten Tagen weitestgehend in Ruhe.

Tetiana konnte auch all das administrative Höflichkeitsgedöns nicht machen; ich ging an ihrer Stelle zum Elternabend und erklärte der Direktorin die Situation und dankte für die herzliche Aufnahme der Kinder, desaktivierte ihr Konto beim Resto du Coeur und dankte den Damen ebenso für ihre Arbeit. Man versicherte mir, dass man das Konto, falls sie zurückkämen, jederzeit ebenso unproblematisch wieder altivieren werde. Was für ein Segen! Bank- und Sécurité Sociale lassen wir momentan noch laufen – wer weiß, was noch alles passiert.

Ihr Mann blieb weiterhin im Krankenhaus. Ich folge seinem privaten Konto auf Instagram, er ist dort normalerweise sehr munter und aktiv – in dieser Zeit aber meldete sich nur einmal, er sei sehr schwach, schrieb er, und er bat seine Freunde, für ihn zu beten.

Nun, als ich aus Deutschland zurückkam, waren sie weg – ich habe zwei, drei herzschwere Tage gebraucht, bis ich unten in “mein” Büro gehen, mich umsehen, den Kühlschrank leeren und die Handtücher und Bettwäsche wieder bei uns in den Schrank integrieren konnte. Ich dachte, alles, was sie vielleicht nicht mitgenommen hätten, an die Ukraine-Hilfe weiterzugeben, aber ich war erstaunt, die Wohnung ziemlich leer vorzufinden.

Vielleicht freut es Sie, die Sie sie mit Büchern und anderem unterstützt haben, zu wissen, dass sie beinahe alles mitgenommen haben. Ich habe keine Ahnung, wie sie sich organisiert haben, sie waren seinerzeit nur mit einem Koffer angereist. Sie müssen mit mindestens drei Koffern oder Kisten zurückgereist sein. Sogar die kleinen Tretroller (dank eines Decathlon-Gutscheins erworben!) sind mit in die Ukraine gefahren (ich sehe die Jungs via kleiner Instagramfilmchen in ihrer Stadt darauf herumsausen!), ebenso der Schulranzen und meine ins Russische übersetzten Krimis, die hier erworbenen Jeansjacken für die Kinder, die Sonnenbrillen, die Golfkappen, die Sport-Trikots und die T-Shirts (Das Dinosaurier-T-Shirt hat definitv das Spiderman-T-Shirt auf der Beliebtheitsskala des kleinen M abgelöst). Mich rührt das sehr, weil ich denke, die Dinge, die wir für Tetiana und die Kinder gefunden haben, oder die sie sich, dank Ihrer Spenden und dank der Gutscheine, angeschafft haben, haben ihnen wirklich etwas bedeutet.

Was bleibt sind ein Spiderman-Ball, mein abgeliebtes Kuschelschaf, das geliehene Playmobilhaus, ein paar Bücher und Schulhefte, Zeichnungen, ein Stück bemaltes Holz in Form eines Gewehrs, eine Bastelarbeit des kleinen M, und ein großes Gemälde, das der große M zum Ferienbeginn aus der Schule mitgebracht hatte.

Ich habe in der Zwischenzeit zwei sehr liebevolle auf Französisch verfasste Nachrichten von Tetiana bekommen. Sie denke täglich an uns, schrieb sie, mit dem großen M spräche sie weiterhin ein bisschen Französisch. Und sie war gerade rechtzeitig zurück, um ihrem Mann bei der dritten (!) OP beizustehen. Zeitgleich war ihre Mutter mit Covid ins Krankenhaus eingeliefert worden. Uff!

Mann und Mutter geht es wieder besser, beide haben das Krankenhaus verlassen. Ihr Mann schrieb mir vor ein paar Tagen, dass er nie vergessen würde, was wir für seine Familie getan hätten, und dass wir, wenn “alles” vorbei sei, zu ihnen in die Ukraine kommen müssten, wir gehörten nämlich jetzt zur Familie.

Der große M ist mit seinen Schulfreunden in die weiterführende Schule gekommen. Er strahlt auf dem Foto vor der Schule so erleichtert und glücklich, ich bin sehr froh, ihn so zu sehen. Der kleine M rollert derweil vergnügt und (Schul-)unbeschwert mit dem Tretroller herum.

Tetiana, ihr Mann und ich folgen uns gegenseitig auf Instagram und schicken uns Herzchen, hin und wieder ein paar Worte. Nach den letzten russischen Angriffen, klickte ich nervös auf Instagram herum; erleichtert sehe ich Ausflugsfotos mit Mann und Hund im Herbstlaub – die Jungs posieren cool vor Graffiti, Tetiana trägt die große Sonnenbrille im von der südfranzösischen Sonne gebleichten honigblonden Haar. Tetiana Arm in Arm mit ihrem Mann. Sie sehen ernst in die Kamera, #standwithukraine posten sie.

Das tue ich und habe in diesem Zusammenhang noch etwas auf dem Herzen: Ich habe einen weiteren Kontakt in der Ukraine, Victoria, ich habe schon einmal von ihr geschrieben. Eine junge Fotografin, die ich letztes Jahr während des Stipendiums in Nürnberg kennengelernt habe. Ich hatte Victoria zu Beginn des Krieges angeboten, zu helfen, das hatte sie damals noch abgelehnt. Kurz vor dem ukrainischen Nationalfeiertag, für den man starke russische Angriffe in der Ukraine fürchtete, hat sie dann doch ihre umkämpfte Stadt Kharkiv/Charkiv verlassen. Sie ist nun in Berlin gelandet. Hatte ein paar Tage hier und da in Übergangszimmern unterkommen können, für eine gewisse Zeit kann sie jetzt bei einer deutschen Familie mitleben, aber sie sucht eine eigene kleine Wohnung. Ich weiß, Berlin ist voll, es ist auch für Deutsche nicht leicht, etwas zu finden; ich habe schon meine sämtlichen privaten Kontakte in Berlin befragt, es gab Ideen und Hinweise, aber es hat sich bislang nichts Konkretes ergeben. Victoria ist 36, Nichtraucherin, Fotografin, spricht Englisch und hat ein Budget, um eine (kleine) Wohnung zu bezahlen. Falls Sie etwas wissen oder hören sollten, würde ich mich freuen, wenn Sie sich bei mir melden. Herzlichen Dank!

Dieser Beitrag wurde unter Allgemein abgelegt und mit , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

10 Responses to Tetiana

  1. Ich danke für diesen Bericht und auch Ihnen, wie Sie Menschen in Not geholfen haben (und es weiter tun)N

  2. FrauC sagt:

    Danke für das Update! Ich habe mich schon öfter gefragt, was wohl aus Tetiana und den Ms geworden ist.

  3. Karin sagt:

    Ich bin erleichtert zu hören, dass es Tetianas Mann und Mutter wieder besser geht und die Jungs in ihren Alltag zurück gefunden haben. Wie ruhig muss es jetzt in eurem Haus sein! Und was für eine bewegende und aufregende Zeit. Danke, dass du uns hast daran teilhaben lassen. Ich hoffe sehr für Tetianas Familie, dass sich alles zum Guten wendet. Vielleicht kannst du ihr ja sagen, dass wir an sie denken – sofern sie weiss, dass wir von ihr wissen. :)
    Lieben Dank für dein Engagement

  4. Marion sagt:

    Merci, merci, merci, merci, danke, danke, danke, danke für alles!! Möge die kleine Familie beschützt sein 🙏🏼💙💛!!!

  5. sunni sagt:

    Oh, wie gut zu hören, dass es allen nun, soweit irgend möglich, gut geht. Man kann sich kaum vorstellen, wie schlimm die letzten Tage für Tetiana in F gewesen sein müssen mit soviel Sorge. Wollen wir alle hoffen, dass die Familie von den schlimmsten Dingen verschont bleibt! Wegen Berlin höre ich mich um. Danke für alles, was Sie für die 3 in F getan haben! Herzlich, Sunni

  6. Pingback: Währenddessen in den Blogs, Ausgabe 25.10.2022 – Buddenbohm & Söhne