Ohne Titel

recyceltes Foto: Blau und Gelb

Sie wollen natürlich wissen, wie es hier weitergeht mit Tetiana (nicht Tatjana, wie ich in der Zwischenzeit weiß) und ihren Kindern. Es passiert so viel, dass ich kaum nachkomme und ich weiß immer noch so wenig von ihr. Die fünf Tage, die wir in den Bergen verbracht haben, waren intensiv und traurig – es gab eigentlich noch eine zweite Beerdigung, am ersten und am letzten Tag nämlich, und nur weil meine Lesung am Sonntag in Nizza wegen eines Radsportevents ausgefallen war (das CCFA lag mitten in der Einfuhrschneise von Paris-Nice und die komplette Innenstadt war zu diesem Zwecke gesperrt) fuhren wir nicht hin und her, sondern blieben da oben, was mir überraschende Begegnungen mit Freundinnen von früher ermöglichte – die junge Schäferin Marie schleppte mich und zwei andere Frauen nämlich zu einem Frauenabend (die ganze Woche gab es im kleinen Sozialzentrum von Guillaumes Veranstaltungen im Rahmen des Weltfrauentags) und das war toll! Am nächsten Tag war Markttag und ich kaufte Unmengen von Schafs- und Kuh-Käse und Joghurt von fast allen producteurs. Love that!

Vor der Abfahrt in die Berge hatte ich in der Buchhandlung zwei bebilderte Kinderwörterbücher, Filzstifte und Papier erstanden, und ein franco-ukrainisches Wörterbuch bestellt. Dann zeigte ich ihnen noch schnell den Park mit dem kleinem Spielplatz, die beiden Jungs, auch der große, rutschten begeistert auf der kleinen Rutschbahn, kletterten juchzend auf dem Klettergerüst und rannten ansonsten einfach herum. Endlich Bewegung! Mit Tetiana unterhielten wir uns satzweise via einer franco-ukrainischen App auf dem Telefon und genossen die warmen Sonnenstrahlen auf einer Parkbank. Die Frage nach leichterer Kleidung kam auf, da es aber in den folgenden Tagen regnete und stürmte, und auch wieder kalt wurde, wurde es weniger dringlich. (In den Bergen fiel entsprechend Schnee.) Sie verbrachten die nächsten Tage drinnen, aber eine Freundin und die beiden Nachbarinnen aus dem Haus hatten Spielzeug (Puzzle, Autos, Playmobil, Knete) Bilderbücher und Kinderzeitschriften (Wapiti) angeschleppt, ich gab zusätzlich mein kleines Kuschelschaf an den kleinen Jungen weiter, ich glaube, er braucht es nötiger als ich.

Die großherzige Freundin, bei der wir in den Bergen logierten, gab mir selbstgemachte Marmelade, Honig und Käse für die kleine Familie mit, und einen Umschlag. Das alles führt jedes Mal dazu, dass Tetiana hundertmal Merci sagt und mich mit Tränen in den Augen umarmt. Dann aber genug bedankt, mussten wir schnell eine attestation d’hebergement schreiben, also bestätigen, dass Tetiana mit den Kindern so lange es nötig ist, bei uns wohnen kann, suchten zusätzlich eine aktuelle Telefonrechnung (die es natürlich nur im persönlichen Internet-Serviceraum auszudrucken gibt, den wir in all den Jahren nie eröffnet hatten, die Suche nach Passwörtern, bzw. die Kreation neuer sicherer Passwörter begann, nervig, Sie kennen das.) Die Telefonrechnung, die an uns adressiert ist, ist quasi unsere Meldebestätigung, da es so etwas in Frankreich nicht gibt.

So. Gerade (20 Uhr) habe ich Tetiana und Ivan gesehen. Sie sind erschöpft von ihrem Tag, sie haben erneut mit den Kindern und etwa 600 anderen Personen an der Präfektur vergeblich Schlange gestanden. Der Schalter schloss als sie nur noch etwa einen Meter davon entfernt waren. Jetzt werden sie sich gegen Mitternacht anstellen, und hoffen, dass sie morgen dran kommen. Herrjeh. Die Kinder bleiben derweil in der Obhut einer ukrainischen Bekannten. Bislang waren die Kinder so etwas von still und leise, dass sie mir ganz unheimlich waren. Vorhin weinte der Große, weil er in der Nacht nicht ohne seine Mama verbringen wollte. Jetzt (23 Uhr) giggeln sie und lachen und kreischen und rennen durch die kleine Wohnung, dass ich sie nicht nur im Zimmer direkt darüber, sondern noch zwei Zimmer weiter hören kann. Eigentlich macht mich Lärm unter meinem Schlafzimmer, ganz gleich welcher Art, nicht glücklich. Aber heute denke ich, dieses ausgelassene (Stress rauslassende) Kindergeschrei ist ein gutes Zeichen. Sie sind ganz normale, lebendige Kinder, denen das Leben von jetzt auf gleich in einem anderen Land, ohne ihren Vater, und mit der spürbaren Sorge ihrer Mutter natürlich zusetzt.

Morgen gibt es eine Informationsveranstaltung der Stadt für die ukrainischen Familien und ihre Gastgeber. Da werden vielleicht auch die etwas widersprüchlichen Ankündigungen zum Schulbesuch eindeutig geklärt, und wir wollen die Lebensmittelhilfe, die wir beantragt hatten, reklamieren. Und für Katrin von Côte d’Azur unlimited, die ganz großartig ihre kleine Ferienwohnung in Théoule für eine vierköpfige Familie zur Verfügung stellte (morgens angerufen, abends sind die Menschen da, das geht hier ruckzuck, alles andere holpert und stolpert dann etwas hinterher), für Katrin also frage ich, wie man der Familie eine Anschlusswohnung auf Zeit oder besser noch eine richtige Wohnung vermitteln kann, denn erstens liegt die (zu) kleine Wohnung weit weg von Schule und Läden (eine Ferienwohnung eben) und irgendwann will Katrin schon gerne selbst wieder in ihrer Ferienwohnung Urlaub machen.

Gerade trudelte noch eine Nachricht der Bürgermeisterin meines Bergdorfes ein: sie werden in der derzeit leerstehenden Auberge Flüchtende aus der Ukraine aufnehmen. Boah, denke ich und hoffe gleichzeitig, es verschlägt nicht irgendwelche Großstädter dorthin. Ich liebe mein kleines Dorf, aber es ist nicht allzu viel los da und ohne Auto wird es schwierig.

Ich möchte Ihnen noch von einer jungen ukrainischen Fotografin @victoria_liholet erzählen, die ich letztes Jahr im Internationalen Haus in Nürnberg kennengelernt habe (da sehen Sie mal, diese Städtepartnerschaften führen zu echten Begegnungen! Cannes übrigens hat sich gerade mit Lviv verpartnerschaftet!) Sie kommt aus Kharkiv (= französische Schreibweise), wie mir plötzlich erschrocken klar wurde. Kharkiv, ups, was haben wir da nicht für schreckliche Bilder im Fernsehen gesehen. Ich bin mit Victoria lose über Instagram verbunden und suchte sie. Seit zwölf Tagen postet sie aus ihrer Wohnung im obersten Stock eines Hochhauses Nachtaufnahmen der wenigen Lichter ihrer Nachbarschaft. Heute schrieb sie: “Die Lichter werden immer weniger.” Es gehe ihr “gut”, antwortete sie, als ich sie vor ein paar Tagen anschrieb. Sie sei “relativ sicher” und sie dankt mir für meine Sorge und mein Hilfsangebot, lehnt es aber ab, es gehe ihr gut und sie wolle nicht weg. Ich warte jetzt jeden Tag auf ihr gepostetes Foto, so weiß ich, dass sie noch lebt. Bei @photovogue gibt es derzeit eine mehrteilige Serie A tribute to Ukraine über ukrainische FotografInnen. Auch von ihr gibt es einen Beitrag. Doch sie ist unzufrieden, schreibt sie mir, dass man ukrainische Kunst und Künstler erst durch diesen Krieg entdecke, und dass man nicht mehr über Kunst um der Kunst willen sprechen könne, sondern immer nur im Kontext Krieg. “I really want to get back to pure enjoyment of art, when this whole nightmare is over.” Auch ihre Fotos sind ja vom Krieg beeinflusst, aber nun gut. In Nürnberg erzählte sie und die anderen FotografInnen aus Kharkiv mir von ihrem Projekt, Nacktaufnahmen zu machen, ohne dass sie als sexualisiert oder pornografisch angesehen würden. “Aha”, dachte ich, alte weiße Frau aus einem alten westeuropäischen Land, ein bisschen müde. Ich habe mich nicht besonders dafür interessiert, scrolle erst jetzt neugierig durch ihre über tausend Instagram-(nicht nur Nackt-)Fotos, und ja, die Ukraine und manche Künstlerin entdecke auch ich gerade erst durch diesen Krieg. Mea culpa. Aber soll ich deshalb jetzt nicht darüber sprechen?

Dieses ukrainische Orchester zum Beispiel begeistert mich mit jedem Hören mehr und mehr. Gefunden über @stasiasavasuk.

Wenn Sie noch nicht genug haben, hier wäre nochmal eine zusätzliche Stunde DakhaBrakha.

ps: Diesen Text habe ich schon gestern Abend geschrieben, aber mir wollte ums Verr*** keine Überschrift einfallen. Deswegen ließ ich ihn über Nacht liegen, mir fällt immer noch nix ein, aber da wir von Kunst sprechen, erlaube ich mir meine Lieblingsbezeichnung von Kunstwerken in Museen und Galerien zu verwenden: Ohne Titel.

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7 Responses to Ohne Titel

  1. Marion sagt:

    Nochmals un grand merci für Euren Einsatz. Ich könnte es so nicht, so selbstsüchtig das auch erscheint. Hier im Haus gibt es auch eine nicht immer genutzte (und hellhörige!) Wohnung, deren wechselnde Mieter mich schon oft viel Kraft gekostet haben, deshalb (und da ich selber viel Ruhe brauche und auch gesundheitlich angeschlagen bin, aber das geht es Dir ja nicht anders!), ist das für mich derzeit keine Option. Bezahlt die Mairie eigentlich (teilweise) die Miete oder macht Ihr das umsonst?
    Schade, dass die Lesung nicht stattfand, aber schön Dein Bericht/Nachruf aus dem Dorf. Weiterhin viel Kraft für Euch und Eure Schützlinge!

    • dreher sagt:

      Danke Marion! Ich bin glaube ich, und auch auf die Gefahr kitschig zu klingen, erstmals mit ganzem Herzen engagiert, weshalb es mit der Wohnung unter uns geht. Bleibt natürlich abzuwarten, wie sich das auf lange Sicht entwickelt. Und dass ich Tetiana, ihren Bruder und die Jungens sehr sympathisch finde, macht es mir leicht (aber das wusste ich ja vorher nicht).
      Nein, die Mairie zahlt da nix, ich habe ja vorher auch keine Miete dafür gezahlt, ist ja quasi Teil unserer Wohnung, wenn auch “ausgelagert”.
      Die Mairie tut aber eine ganze Menge, unser Bürgermeister ist sehr engagiert (die ersten 100 Bustickets gratis, Lebensmittel für die ersten Tage usw. (das greift aber erst jetzt, Tetiana ist dafür “zu früh” angekommen).

  2. Eleonore Braun-Folta sagt:

    Liebe Christiane. Ich finde es toll, was ihr macht. Hier in Neustadt kann man sich auch melden, ob man ein Zimmer abgibt. Hier sind bis jetzt 6 Busse innerhalb einer Woche angekommen. Am ersten Tag waren es 270 Menschen. Wir haben sie auf Corona getestet und dann bekamen sie eine Schlafstelle in der Sporthalle. Das Verteilen geht aber langsam vor sich. Erst morgen werden sie durch die Feuerwehr zu den Familien gebracht. Morgen kommen dann wieder 2 neue Busse. Essen gibt es von der Stadt. Wir sammeln aber auch Lebensmittel, Kleidung und alles was man so braucht. Am Samstag sammeln wir Lebensmittel durch die Tafel und diese werden Sonntag verteilt. Wir helfen wo es geht. LG Elli

  3. Kathrin Peters sagt:

    Danke für den Bericht 🇺🇦!

    https://www.ukrainetakeshelter.com/ Hier ist eine Website von 2 Jungen aus Harvard entwickelt, wo Unterkünfte angeboten werden zum Weiterleiten!

    • dreher sagt:

      Danke für den Link, tolle Sache, es gibt auch noch diese Seite: https://icanhelp.host/
      Das kann natürlich jede(r) halten, wie sie/er will, ich als “Gastgeberin” finde es derzeit “sicherer” mit einer Organisation, sprich Stadt/Gemeinde im Hintergrund.

  4. Pingback: Währenddessen in den Blogs, Ausgabe 21.3.2022 – Buddenbohm & Söhne