Ok, machen wir das mal ein bisschen flotter heute – weniger Text dafür mehr Fotos. Lipari ist die Hauptinsel und Lipari-Stadt ist wirklich (klein-)städtisch, “was Sie hier nicht finden, finden Sie auch auf keiner anderen Insel” heißt es im Reiseführer. Während auf Stromboli etwa 400 Menschen ganzjährig leben, sind es hier etwa 10.000 und es gibt etwa 350 aktive Fischer. Zum Vergleich, zwischen Monaco (ein einziger Fischer!) und Marseille gibt es etwa 30 Fischer, und nein, ich habe keine Null vergessen.
Lipari ist natürlich trotzdem nur ein Inselchen mit ein paar Dörfern entlang der 27 Kilometer langen, die Insel umrundenden Straße, – es lohnt sich nicht wirklich, ein Auto zu mieten. Wir haben den netten französischsprachigen Taxifahrer engagiert, der uns herumfährt – natürlich macht er nicht an jedem Kieselstein Halt, wie ich es vielleicht getan hätte, auf der Suche nach dem ultimativen Fotomotiv, aber wir sehen trotzdem etwas von der Insel. Viel Meer natürlich, die benachbarte Insel Vulcano, den berühmten Aussichtspunkt mit dem “Vier-Augen”-Blick (man braucht vier Augen, um alles Schöne gleichzeitig zu sehen), leider im Gegenlicht, und ein ehemaliges Bimssteinabbaugebiet durch dessen beeindruckende weiße Schluchten wir ein bisschen stolpern.
Nach der Tour lässt uns unser Chauffeur am netten kleinen Hafen Marina Corta raus, der mich vom ersten Augenblick an Venedig erinnert, vermutlich wegen dem kleinen geschwungenen Brückchen, den vielen kleinen Booten und den am Wasser gestapelten Häuschen.
Er empfiehlt uns, noch am gleichen Nachmittag auf den Schlossberg zu steigen, nicht nur wegen des Archäologischen Museums, sondern vor allem wegen des Blicks von da oben, denn am nächsten Tag würde es regnen. Das machen wir dann natürlich auch brav, trotz all der Stufen (ächz) mir sind es dann aber zu viele alte Scherben, das Museum ist in mehrere thematische gegliederte Gebäude aufgeteilt, und ich lasse den Gatten sich alleine daran berauschen. Lipari hat nicht nur eine griechischen und römische sondern bereits eine prähistorische Geschichte und Monsieur kommt irgendwann müde, aber begeistert aus dem letzten Museum heraus. Ich warte derweil, blinzele in die Sonne, fotografiere dies und das und natürlich auch schlafende Katzen.
Am nächsten Tag regnet es tatsächlich. Es stürmt und schüttet, wie auch schon auf Salina. Glücklicherweise haben wir in der Hotelbibliothek unter den zurückgelassenen Büchern Nachschub gefunden, denn ich habe Zur See nun durch, und mit Annie Ernaux’ Les Années fremdele ich nach den ersten Seiten erneut, auch wenn Monsieur es “lesbar” findet und die Lektüre ihn in seine eigenen Erinnerungen versetzt.
(Kleiner Exkurs: Ich habe Les Années, Die Jahre in der Zwischenzeit auf Deutsch gelesen, und ich verstehe, warum es mir in französischer Sprache fremdblieb: es ist so wahnsinnig französisch, voller Anspielungen, Werbetexten, Liedzeilen, so voller politischer, kultureller und gesellschaftlicher Entwicklung, so viele Namen, die mir nichts sagen, und die ich alle nachschlage, um tiefer zu verstehen, mir fehlt der Zugang zu diesen Erinnerungen, die ich nicht habe. Vieles bleibt auch in der deutschen Übersetzung unübersetzt, weil es sich eben nicht übersetzen läßt; das einzige, was ich an dieser Übersetzung von Sonja Finck, über die ich wie gesagt sehr froh und dankbar bin, weil sie mir das Buch überhaupt zugänglich gemacht hat, zu kritisieren habe, ist, dass ich an dem einen oder anderen umgangssprachlichen Ausdruck hängenblieb, von dem ich finde, dass die gewählte deutsche Entsprechung sprachlich mitunter etwas zu “jung” ist. Niemand in der Generation vor mir sagt meines Wissens “geil”, selbst ich sage es nicht, es sei denn mit ironischem Unterton. Aber das fällt vielleicht auch nur mir auf, weil ich mich beim Lesen fragte, wie wohl das ursprüngliche französische Wort gelautet hat und ich es nachlas. Egal. Die Lektüre hat mich nicht entmutigt und ich lese jetzt Eine Frau, das Buch, das Annie Ernaux über ihre Mutter schrieb, Monsieur liest in der Zwischenzeit amüsanterweise zeitgleich La place, über den Vater der Autorin. Exkurs Ende.)
Ich beginne aber an diesem Regentag den Roman von Petra Reski über die sizilianische Mafia, und auch das fühlt sich, wie auch schon der Inselroman von Dörte Hansen, absolut richtig an, es hier im Süden von Italien zu lesen. Ich sehe die Landschaft vor mir und fühle mich mittendrin. Ich spüre, dass Petra Reski weiß, von was sie schreibt und denke, vermutlich findet das alles genauso statt, auch wenn es unter dem Deckmäntelchen der Fiktion daherkommt. Die Geschichte, eine italienische Staatsanwältin, die, weil die Eltern “Gastarbeiter” in Deutschland waren, im Ruhrgebiet aufgewachsen ist, und deutsche Sprache und Kultur verinnerlicht hat, ermittelt in Palermo hartnäckig aber ziemlich erfolglos gegen die italienische Mafia und ihre Verstrickungen in Deutschland, lässt mich mit einem unguten Gefühl zurück. Ich lese über Petra Reski und abonniere ihren Newsletter; ich verstehe, dass sie ihre Recherche über die Mafia jetzt lieber als Fiktion verkauft, damit sie weniger einstweilige Verfügungen und Prozesse am Hals hat. Ich lese auch über ihren Kampf gegen den #overtourism, den Ausverkauf Venedigs, wo sie lebt. Und auch dieses Thema passt auf die Insel, durch deren niedliche Altstadtgassen sich Touristengruppen drängeln, und so auch wir, und wir finden uns mittags alle in derselben, im Reiseführer gelobten und wirklich guten, kleinen Sandwich- und Weinbar. Bei uns gab es aber Bier, Wasser und Lemon Soda, die köstliche sizilianische Variante von Bitter Lemon.
Nun, ich lebe selbst in einer touristischen Stadt, aus der ich im Sommer, so ich kann, fliehe, ich finde Reisen generell durchaus nicht unproblematisch, aber ich habe auch keine Lösung; man kann den Menschen das Reisen ja nicht verbieten. Über all das auf dieser kleinen süditalienischen Insel nachzudenken, ist durchaus passend.
Nachdem Sturm und Gewitter etwas nachgelassen haben, ziehen wir unter tief hängenden Wolken Richtung Hafen und essen dort in einem Restaurant die Hälfte der fangfrischen Variante einer Dorade, und am Nachmittag bummele ich noch einmal durch die Stadt, kaufe Kapern als Mitbringsel
und schaffe es gerade noch rechtzeitig zum rosafarbenen Sonnenuntergang an den kleinen Hafen Marina Corta, wo jetzt, nachdem die Tagestouristen weg sind, die Einheimischen über den Platz flanieren und die Älteren auf Mäuerchen sitzen und plaudern. Ich will da nicht stören und zoome das von Weitem (mit dem Handy) diskret heran, weshalb die Aufnahmen bei dem wenigen Licht so ein bisschen flau sind.
Am nächsten Tag reisen wir zurück aufs Festland und verbringen noch anderthalb Tage in Catania.
… wird noch einmal fortgesetzt
Und hier noch etwas Werbung in eigener Sache:
Am Sonntag, den 13.11.2022 um 16 Uhr lese ich in den schönen Räumen des CCFA, des Centre Culturel Franco-Allemand in Nizza aus meinem Buch “Von hier bis ans Meer”. Die Lesung wurde (nicht nur) wegen Covid bereits x-Mal verschoben und findet jetzt statt! Hurrah! Kommen Sie gerne, die Lesung ist in deutscher Sprache, der Eintritt ist kostenlos; Sie müssten sich bitte nur auf der Seite des CCFA anmelden.
Ich kann leider nicht zur Lesung kommen, von hier bis ans Meer sind’s zu viele Kilometer. Muss ich halt das Buch selber lesen …
Ja, zugegeben, Nizza liegt für die allermeisten nicht vor der Haustür. Selbst lesen ist aber eine gute Alternative! Bonne lecture!
Von Annie Ernaux habe ich “La Place” auf frz. und “Die Jahre” auf dt, gelesen und kann mich kaum noch an den Inhalt erinnern. Allerdings geht mir das mit anderer Lektüre auch oft so. Die Übersetzung wurde auch anderweitig kritisiert, habe gerade nochmal Amazon-Rezensionen gelesen. Am ehesten erinnere ich mich an “Erinnerung eines Mädchens”. Dass die ersten Erfahrungen enttäuschend bis traumatisch sind, erleben ja leider nicht wenige Mädchen. Vielleicht versuche ich es aber doch nochmal mit “Eine Frau”. Du kannst ja mal berichten.
Ach Urlaub, Urlaub!!! Ich bräuchte auch so dringend einen Tapetenwechsel, seufz. Lesung – jaaa, wie gerne würde ich nach Nizza kommen.
Ich habe mit Annie Ernaux so meine Schwierigkeiten, wie ich hinter den Kulissen schon mehrfach geschrieben habe – sie wird hier in Frankreich lange nicht so gehypt wie in Deutschland; diese Art von Autofiktion wird hier nicht als “Literatur” verstanden; man wolle doch bitte nicht über Annie Ernaux’ Schnellkochtopf lesen, hieß es mal.
Mich persönlich stört ihr Beharren auf der Klassenzugehörigkeit, obwohl ich verstehe, dass die einfache Herkunft einen für das Leben prägt und man sich in anderen und “besseren Kreisen”, in die man aufgrund von Bildung aufgestiegen ist, immer unwohl fühlt. In der Welt, aus der man kommt, aber letztlich auch.
Dass sie neben und mit Mélenchon (diesem europafeindlichen Populisten) demonstriert, “weil sie es ihrer Klasse schuldet”, ertrage ich nicht und kann es nur schwer von ihrem Werk trennen.
“Eine Frau” ist im gleichen Stil, spröde und distanziert, wie “Die Jahre” geschrieben. Eine Anneinanderreihung von Erinnerungen an ihre gerade verstorbene Mutter. Mich hat es nicht berührt.
P.S.: “Das Ereignis” habe ich im Kino gesehen und auf ARTE “Annie Ernaux’ Super 8-Tagebücher”.
Liebe Marion, “Das Ereignis” habe ich nicht gesehen, obwohl ich es mir vorgenommen hatte; die Filmemacherin hatte es schwer, in Frankreich überhaupt Geldgeber zu finden, für einen Film über dieses Thema, das immer noch tabu ist. Schon deswegen wollte ich ihn sehen, aber er lief vielleicht nur eine Woche zu einer schlechten Uhrzeit und weg war er.
Die Super-8-Tagebücher erinnern mich an “Tagebuchbloggen” – nicht wahnsinnig aufregend, um nicht banal zu sagen.
Liebe Christiane, danke für Deine Ausführungen! Vielleicht ist es eine Art voyeuristische Neugier, aber natürlich auch das Interesse an früheren frz. Lebensumständen, die einen (mich) zu dieser Autorin hinzieht, obwohl ich den Stil als reduziert und schmucklos empfinde. Hier wurde sie außerdem für ihre Nähe zur BDS-Bewegung kritisiert: https://www.spiegel.de/kultur/literatur/zentralrat-der-juden-nobelpreisauszeichnung-fuer-annie-ernaux-ist-verstoerend-a-025431da-b669-4b11-92ab-9bd426943243.
Banal trifft es irgendwie auch, schließlich gibt es unzählige “Sozialaufsteiger”, die ähnliches berichten könnten. Und Familienfilmchen zu veröffentlichen, die es so in unzähligen Familien gibt, ist natürlich auch keine Kunst.
Bonne journée!
Ja, ich kenne diese Vorwürfe – ich verlinke mal diesen (aktualisierten) Artikel, den ich recht differenziert finde
https://www.dw.com/de/literaturnobelpreis-annie-ernaux-vorwurf-antisemitismus/a-63384361
Wie gesagt, ich habe auch Schwierigkeiten, ihre Ansichten auszublenden.
In dem Zusammenhang ist mir Erwin Strittmatters “Der Laden” wieder eingefallen, eine Trilogie, die ich seinerzeit gerne gelesen habe. Die könnte man mal wieder hervorkramen. https://de.wikipedia.org/wiki/Der_Laden
Anderes Thema: ich habe “Bahnen ziehen” auf deinen Hinweis erworben – etwas mühsame Lektüre! Und ich habe mich nun doch gegen das Meer und für das Hallenbad entschieden …
LG!
C.
Auch wenn der Blog vielleicht nicht der richtige Ort ist, sich zu bedanken…. Ihre Lesung heute in Nizza in dieser Umgebung und zusammen mit vielen netten Menschen habe ich sehr genossen, obwohl oder weil ich ich Ihr Buch schon gelesen habe. Ich habe mich in vielen Dingen wieder gefunden und konnte vieles nachvollziehen.
Herzliche Grüße von Antibes nach Cannes !
Merci ! Ich habe mich sehr gefreut, dass Sie dabei waren, erinnere mich jetzt natürlich an Ihren Namen und Ihre Kommentare. Schön, dass ich jetzt ein Gesicht dazu bekommen habe!
Ach, wie gern wäre ich dabei gewesen, wenn Sie lesen. Aber immerhin habe ich das Buch jetzt ein viertes Mal gelesen, einzelne Passagen sicher viel öfter. Das tröstet mich, denn es ist immer, als würde ich neben Ihnen sitzen, wir schauen aufs Meer und Sie erzählen…Alles Liebe, Sunni
Wie lieb, Sunni 💗
P.S. “Zur See” hatte ich inständig erwartet, musste es aber nach ca. der Mitte des Buches weglegen. Das war gar nicht die Dörthe Hansen, die ich kannte aus den ersten beiden sehr geliebten Werken. Aber das empfindet eben jeder auch anders. GlG
Ja, es ist kein “feelgood”-Buch, das stimmt. Aber man spürt, dass es der Autorin ein Anliegen war, es zu schreiben/diese Geschichte zu erzählen. Ich finde es sehr intensiv und glaubhaft, und habe es nicht bereut, es zu Ende gelesen zu haben, auch wenn es kein “happy end” gibt, oder sagen wir, es ist ein “happy end” der anderen Art.
Kann ich verstehen. Aber “feel good” waren doch die ersten beiden wirklich auch nicht. Ich fand es blutrünstig und sehr auf den Effekt bedacht, aber das ist eben nur mein Eindruck. Ich vertrage solches Grauen einfach nicht, mag an der eigenen Situation liegen. Ganz liebe Grüße!
Hm. “Blutrünstig” und “Grauen” habe ich darin nicht gelesen, es ist vermutlich wirklich von der eigenen Situation abhängig, wie einen das Buch anspricht.
Ähm, wussten Sie, dass Lipari Verbannungsinsel unter Mussolini war? Habe ich aus “Varian Fry: Auslieferung auf Verlangen.”
Gruß!
Ähm,ja, das wusste ich tatsächlich, Emilio Lussu, linkspolitischer Gegner von Mussolini wurde dorthin verbannt, konnte aber entkommen (angeblich schwamm er zu einer anderen Insel) und gelangte bis nach Paris, er schrieb darüber sogar ein Buch. “La Chaîne” auf Französisch. Berühmter ist allerdings sein Buch “Marsch auf Rom und Umgebung”, ein Augenzeugenbericht zur faschistischen Machteroberung in Italien. Gruß zurück!
Boah Christiane 😉🤣. Wann kommt Teil 3? Bestimmt ist wieder Weihnachtsmarkt in C. und Du hast soooviel zu tun…
Oui, ma chère, genau so. Morgen ist der Markt und außerdem ist Schnee angesagt. Bis heute war bestes Wetter (kalt aber sonnig), jetzt dicke Wolkendecke… Einige andere Märkte der Region werden daher nicht stattfinden, ein paar Aussteller haben uns auch schon abgesagt… On verra…