Ein Unglück kommt selten allein

Anflug auf Berlin

Wir wollten nach Berlin mit der angeheirateten Enkelin, mein Geschenk zum bestandenen Abitur. Ich hatte Flüge gebucht, ein Häuschen gemietet, jede Menge Aktivitäten geplant und dafür auch Plätze oder zumindest Zeitfenster gebucht. Dann starb überraschend der (andere) Großvater. Ich möchte nicht ins Detail gehen – aber es war innerhalb von drei Wochen schon der zweite Todesfall in der französischen Familie. Die angeheiratete Enkelin (das “angeheiratete” lasse ich in der Folge weg, Sie wissen es ja nun) hängt sehr an den Großeltern, hier wird famille außerdem mit einem “großen F” geschrieben, wie man hier sagt, wenn etwas wichtig ist (famille avec un grand F) – nicht an der Beerdigung teilzunehmen ist quasi unmöglich. Wir buchen also Flüge um, wir werden direkt nach der Beerdigung losfliegen, der Aufenthalt wird kürzer; ich buche erneute Plätze und Zeitfenster für zumindest zwei Aktivitäten, die klassische Kunst auf der Museumsinsel (Nofretete und das Ischtar Tor) lassen wir jetzt großzügig unter den Tisch fallen.

Zwei Nächte vor der Beerdigung und unserem Abflug hat man bei der Familie der Tochter, die über uns wohnt, eingebrochen. Und: die bereits gepackte Tasche mit Geld und Dokumenten der Enkeltochter gestohlen, also unter anderem. Es fehlten auch sämtliche Mobiltelefone, Papiere, Schecks, Kreditkarten, Schmuck, Schlüssel, Autoschlüssel, und neu gekaufte Klamotten inklusive neuer Schuhe für die Beerdigung sind auch weg. Man weiß nicht so genau, was die Einbrecher sich dabei dachten. Oder der Einbrecher. Vielleicht war es nur einer. Der sich außerdem mit einem großen Küchenmesser bewaffnet hatte, falls ihm jemand um vier Uhr morgens in die Quere kommen sollte.

So etwas geht sehr schnell und sehr leise. Drei Personen schliefen in der Wohnung, während sie ausgeraubt wurden. Der Täter kam über die im zweiten Stock offen stehende Terrassentür. Kam durch die Küche, wo er sich ein Messer nahm, und schloss leise die Türen zu den Schlafzimmern. Erst als er die knarzenden Holzstufen zum ausgebauten Dachboden erklomm, wachten die Eltern auf. Der (oder die) Einbrecher floh(en) über den Balkon und über die niedrigen Dächer der angrenzenden Häuser. Falls sie knarzende Treppen oder quietschende Türen haben sollten, lassen Sie das so, das wäre in einem solchen Fall von Vorteil.

Immerhin ist der schon gepackte Koffer noch da, aber das einzige Ausweisdokument, das ihr bleibt, ist ein gerade abgelaufener Reisepass. Für den Fall, dass Sie das mal brauchen sollten: abgelaufene Reisepässe (NICHT der Personalausweis!) sind (zumindest) innerhalb des Schengen Abkommens, noch fünf Jahre gültig! Damit können Sie also innerhalb der Schengen-Staaten reisen. Diese Antwort verdanke ich der freundlichen Dame vom Honorarkonsulat in Nizza, die mir eigentlich keine Auskunft geben konnte, da die Enkelin Französin ist – mir aber trotzdem geholfen hat. Ich erspare Ihnen die anderen Anrufe, die ich getätigt habe – bei der Fluggesellschaft zum Beispiel, die haben als Transportunternehmen schlicht keine Ahnung, ist Ihnen auch egal – sie transportieren ja nur. Vor 9 Uhr morgens müssen Sie das noch auf englisch erfragen – ab 9 Uhr gibt es auch (nicht viel kundigere) AnsprechpartnerInnen, die der französischen Sprache mächtig sind.

Wir können also nach Berlin reisen: Ein bisschen Erleichterung an diesen traurig-traumatischen Tagen, an denen nicht nur die Beerdigungszeremonie geplant und weit angereiste Familie tagelang beherbergt und verköstigt werden muss, sondern nun zusätzlich Stunden bei der Polizei und der Versicherung verbracht werden. Alles ist logistisch schwierig ohne Telefone und Kreditkarten. Das Türschloss tauschen wir immerhin am selben Vormittag noch aus und es gibt neue Schlüssel für alle.

Ich überspringe hier die Trauerfeier und die Beisetzung, vormittags schon bei sengender Sonne auf dem baumlosen Friedhof. Nachmittags werden wir zum Flughafen gebracht und sind, soweit wir es vermögen, guter Dinge. Dann wird unser Flug nach München mit einer Dreiviertelstunde Verspätung angezeigt. Wir hätten in München eine Stunde Aufenthalt und nur Handgepäck, den Anschlussflug könnten wir gerade noch kriegen. Dann aber: anderthalb Stunden Verspätung. Ich rufe die Lufthansa-Hotline an – wie es für uns weitergehe, wenn wir den Anschlussflug verpassen, frage ich und bekomme meine Lieblingsantwort Ne vous inquiétez pas, Madame, wir würden umgebucht und bekämen notfalls ein Hotel. Ich sage der Enkelin, dass wir Chancen hätten, in München im Hotel zu übernachten. Ich rechne ihr hoch an, dass sie nicht jault und meckert, sondern nur gequält schaut.

Als der Schalter öffnet, frage ich auch hier noch einmal nach – ich müsse das in München klären, wird mir geantwortet. Immerhin erfahre ich, dass auch der Anschlussflug eine Dreiviertelstunde Verspätung hat. Wir hoffen ein bisschen.

Irgendwann sitzen wir im Flugzeug, leider ganz hinten – ich frage die Flugbegleiterin, ob sie uns schon etwas zu den Anschlussflügen sagen könne, und ob es möglich wäre, dass wir bei der Landung sofort nach vorne laufen dürften. Zu den Anschlussflügen sage sie uns kurz vor der Landung bescheid – die andere Frage beantwortet sie nicht – aus gutem Grund – wie ich später merke, ist das ganze Flugzeug voller Menschen, die einen Anschlussflug in irgendeine Richtung bekommen wollen. Die Liste der Anschlussflüge, die eventuell noch zu erreichen seien, die sie später herunterleiert, ist schier endlos. Sie denken es sich schon, Berlin wird nicht erwähnt. Es ist ein Drängen und Schubsen, alle wollen raus so schnell es geht. Was mit dem Anschlussflug nach Berlin sei, frage ich beim Aussteigen – sie schaut hilflos auf ihre Liste. Es gibt keinen.

“Wenden Sie sich an das Service Center”, rät sie mir. Und vermutlich seien wir schon umgebucht. Ja, wir sind umgebucht, auf den Folgetag um 7 Uhr morgens, entnehme ich einer SMS, die jetzt in meinem Telefon aufploppt. Jetzt aber ist es 22.00 Uhr, es ist dunkel und es regnet. Ich erfrage im Flughafen den Weg zum Service Center bei einer Dame des Bodenpersonals, die von unseren vermutlich müden und traurigen Mienen, angerührt ist und uns nicht nur die Bordkarten für den Folgetag ausdruckt, sondern uns auch rät, uns selbst um ein Hotelzimmer zu kümmern, am Service Schalter sei die Hölle los – viel zu viele Menschen haben aufgrund der Verspätung ihre Anschlussflüge verpasst. “Sie können auch am Flughafen schlafen”, schlägt sie uns vor und macht eine Geste in Richtung der Sitze. Ich möchte nicht am Flughafen schlafen und Angst haben, dass man mir meine Tasche unter dem Kopf wegzieht. Also suchen wir ein Hotelzimmer. Die großen Hotels in direkter Umgebung des Flughafens sind alle ausgebucht. Auch die großen Hotels weiter weg sind ausgebucht. Wir finden im Internet ein “Park Hotel” irgendwo in der Pampa, das noch Zimmer frei hat. Ich rufe an. Ja, bestätigt freundlich der Herr mit Migrationshintergrundakzent, er habe sogar ein Zimmer mit zwei Betten. Ich reserviere es. Dann suchen wir uns ein Taxi. Die Schlange ist lang, der Taxifahrer, der uns zugewiesen wird, ist schlechter Laune und bekommt noch schlechtere Laune, als er die Adresse erfährt. Es ist ihm nicht weit genug. “Da fährt auch ein Bus hin”, murrt er mich an. “Ich werde doch jetzt nicht mitten in der Nacht an einem mir unbekannten Flughafen einen Bus suchen, der mich ins Hotel bringt”, widerspreche ich. Nun, er versucht die Adresse über Spracherkennung in das Navigationsgerät einzugeben, auch er hat Migrationshintergrundakzent und die Spracherkennung versteht ihn nicht. Ich kenne solche Szenen nur aus Sketchen, sehr lustig in der Regel, die schimpfenden Menschen, die ums Verrecken nicht verstanden werden. Sehr unlustig, wenn man mit im Taxi sitzt, und der Fahrer abwechselnd das Spracherkennungssystem oder uns anschreit. Die Enkelin lernt ein neues deutsches Schimpfwort: Scheißdreck in allen Variationen. Letzten Endes gebe ich die Adresse in das Spracherkennungssystem ein – falls hier irgendjemand mitliest, der an der Enwicklung dieser Systeme mitarbeitet – bitte! machen Sie die Spracherkennung flexibler! Ich würde sagen 90% aller TaxifahrerInnen haben einen Akzent, vielleicht auch nur den der jeweiligen Region. Kann das nicht mitbedacht werden?

“Sie haben ihr Ziel erreicht” sagt die Navigationsstimme. Der Taxifahrer stoppt mitten in einem Wohngebiet. “Wir sind da!” “Ich sehe kein Hotel”, sage ich. Draußen ist es Nacht und es regnet. “Sie haben doch die Schei***adresse eingegeben”, herrscht er mich an. “Und das ist hier!” “Ich habe die Adresse eingegeben, es ist die Hoteladresse, aber ich sehe kein Hotel”, wiederhole ich, in der Zwischenzeit auch etwas pampig. Er flucht und fährt weiter in eine Seitenstraße. Da liegt tatsächlich zwischen reizenden Einfamilienhäusern ein schwach beleuchtetes Hotel. Der Taxifahrer will meine Kreditkarte nicht, aber auch nicht meinen großen Schein – es ist der Beginn des “wir-wollen-nur-Barzahlung-Dilemmas” in Deutschland. Irgendwann nimmt er doch die Karte, pfeffert unsere Koffer in den Regen und fährt fluchend davon. Wir stapfen zum Hotel, öffnen die Tür und stehen vor verschlossener Rezeption. Eine Telefonnummer klebt an der Tür. Die rufe ich an. “Ja”, sagt der freundliche Herr, er habe leider vergessen uns zu sagen, dass er uns auch hätte abholen können. Jetzt sei er gerade am Flughafen, um eine andere Dame abzuholen, er sei gleich da. “Gleich” ist etwas übertrieben, aber er kommt, unterstützt von einem indischen oder pakistanischen Assistenten. Und er ist, im Gegenzug zum Taxifahrer, und trotz der späten Stunde und unserem Wunsch, um halb fünf wieder an den Flughafen zu wollen, super freundlich, aber leider ist das ägyptisch-indische Palaver sehr zeitintensiv, er will mir aus Gründen, die nur er weiß, statt dem Zweibettzimmer lieber ein Zimmer mit einem französischen 160cm breiten Bett geben, das sei doch ausreichend für zwei Personen, findet er, billiger sei es auch, und sieht von mir zur Enkelin, die kein Wort versteht, nur hundemüde ist. Nun, wir möchten die wenigen Stunden, die uns bleiben, gerne jede in einem eigenen Bett liegen und ich möchte das nun auch nicht mehr diskutieren. Ich bleibe mühsam freundlich. Um Mitternacht machen wir erschöpft das Licht aus. Die Enkelin fällt sofort in einen Tiefschlaf. Ich sehe aus den Augenwinkeln, dass ich einen Anruf von der Freundin in Berlin bekomme – der ich den Festnetztelefon-Anrufbeantworter vollgequatscht habe, aber sie war unterwegs und hat die Nachrichten nicht bekommen, stattdessen Stunden am Flughafen in Berlin auf uns gewartet. (Sie hat nur ein uraltes Diensthandy, dessen Nummer ich nicht besaß).

Ich telefoniere leise flüsternd im Badezimmer. Nun, sie wird uns auch am nächsten Morgen wieder abholen, verspricht sie mir. Ich sinke ins Bett und habe das Gefühl, nicht zu schlafen, aber ich überhöre den Wecker ganze fünf Minuten lang. Punkt halb fünf stehen wir vor der Rezeption. Geschlossen. Ich rufe den freundlichen Herrn des Nachtdienstes wieder an. In einer Minute sei er da, versichert er mir. Es ist eine lange ägyptische Minute. Aber dann fährt er uns zum Flughafen, ist auch, trotz des wenigen Schlafs, weiterhin sehr freundlich, nimmt mir aber ungeniert noch einmal fünfzehn Euro für den Shuttle ab, die ich eigentlich gestern schon bezahlt habe, aber das sehe ich erst zuhause. Anyway. Überteuertes Frühstück am Flughafen beim einzig geöffneten Restaurant. Dann klappt alles. Ab 7.43Uhr scheint die Sonne über den Wolken. Die Enkelin schläft schon wieder.

Wir kommen in Berlin an, die Sonne scheint, wir werden abgeholt, checken in unser charmantes Häuschen ein – dazu gibt es einen gesonderten Post! Und dann hetzen wir zu unserer ersten Aktivität: Berlin per Boot! Zu Berlin kommt auch ein gesonderter Post. Dies wird eine Fortsetzungsgeschichte, merken Sie schon.

Und: Dieses Mal, um etwas vorzugreifen, lasse ich mich von den Worten der Customer Relation bei der Fluggesellschaft nicht mehr einlullen. Ich bin ziemlich grummelig. Gestern habe ich die Rechnungen eingereicht und wenn sie mir das Hotel nicht bezahlen wollen, gehe ich einen Schritt weiter.

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18 Responses to Ein Unglück kommt selten allein

  1. Pingback: 23-07-23 Bienenwolf an Gartentür (Galeria Sztucki) – iberty.de

  2. Croco sagt:

    Kann man einen Kriminalroman über eine Fluggesellschaft schreiben?
    Perdu en espace aérien?
    Zumindest im letzten Jahr war die Lufthansa Gruppensieger.

    https://www.rnd.de/reise/flugausfaelle-und-verspaetungen-2022-diese-airlines-liessen-ihre-fluggaeste-am-meisten-warten-UATOHNHZTNEKPAFLYXGGFOSCNQ.html

    Ich freu mich auf die Berlingeschichten.

    • dreher sagt:

      Danke für das erschütternde Ranking. Ich habe tatsächlich in letzter Zeit bei jedem Flug der LH Probleme 🙄

  3. Christiane H. sagt:

    Ohjeh, was für ein Abenteuer mit vielen Sorgen, Trauer und dann auch noch unnötigem Ärger. In einem Film würde man denken, oh was haben die da wieder übertrieben.
    Gut, dass der Aufenthalt in Berlin schön war
    LG

    • dreher sagt:

      Danke! Und ja, wenn ich noch die Tragik der zwei Todesfälle erzählen würde, wäre es nicht mehr zum Aushalten 😔

  4. Gabriele sagt:

    Ich bin sehr froh, dass Du es noch geschafft hast – Deine Enkelin wird sich noch als Großmutter an diese Geschichte erinnern und sie zum Amüsement aller bei Familienfesten weitererzählen können 😃 Liebe Grüße Gabi

    • dreher sagt:

      Ja, die besten Geschichten sind die tragischen, die in er Vergangenheit liegen und über die man dann lachen kann.
      Liebe Grüße!

  5. Marion sagt:

    Was für ein Scheißdreck, in der Tat… Ich würde das jetzt auch durchziehen mit der Beschwerde. In dem informativen Artikel von Croco steht am Ende ja, dass man den Anspruch sogar rückwirkend noch 3 Jahre geltend machen kann. Du könntest auch den 1. Fall gleich mit reklamieren, wenn Du schon dabei bist…🙄, würde ich so machen. Das wird vermutlich keine große bürokratische Sache sein, ist ja heutzutage der Normalfall 😩. Also dann: bonne chance! Und wie schön, dass Ihr endlich noch in Euer wohlverdientes Berlin-Abenteuer starten konntet 😍. Hoffe, der Rest des Aufenthaltes war erholsamer…

  6. Reiner Wadel sagt:

    Wenn ich den Bericht in einer Zeitung gelesen hätte, hätte ich gedacht: Frei erfunden und maßlos übetrieben. Aber wie man sieht: Die Realität schlägt jede. Fiktion.
    Ich wünsche gute Erholung!

  7. Wendy sagt:

    Das Hotel UND die 250 € Entschädigung pro Person für die Verspätung – “Die Airline ist zudem ab zwei Stunden Wartezeit am Flughafen dazu verpflichtet, die Reisenden mit kostenlosen Mahlzeiten und Getränken zu versorgen. Auch die Möglichkeit, E-Mails und Faxe zu versenden, muss gegeben sein. Verschiebt sich der Anschlussflug auf den nächsten Tag, muss die Fluggesellschaft auch für eine Übernachtungsmöglichkeit sorgen.
    Wichtige Voraussetzungen für Erstattungen
    Die Flüge waren Teil einer einzigen Buchung.”

    Ich weiß – ich bin penetrant – aber wenn Sie ihre Rechte nicht einfordern, profitiert nur die Fluggesellschaft.