La rentrée oder Die Kinder sind aus dem Haus

Sie kennen das schon, wenn Sie hier bereits ein Weilchen mitlesen, diese typisch französische und unübersetzbare Wiederanfangsphase im September nach einem langen und, dieses Mal nicht nur im Süden, sehr heißen Sommer: Wir sprechen von la rentrée.

Hier ein nettes kleines Video von arte, das sich anders nicht einbetten lassen will.

Dieses Jahr ist es, zumindest bei uns, ein bisschen anders. Die Kinder sind nämlich definitiv aus dem Haus. Es werden also dieses Jahr keine neuen Schulrucksäcke gekauft, keine neue fournitures scolaires, keine neuen Schulklamotten. Stattdessen wurden Zimmer in Wohnheimen und kleine Einzimmerwohnungen gesucht und zwar in Lyon. Die Kinder sind groß (es handelt sich um meine angeheirateten Enkelkinder, nicht um meine Kinder, das wissen Sie schon), siebzehn und neunzehn sind sie jetzt und sie sind beide, wenn auch auf einer jeweils anderen Hochschule, in Lyon gelandet.

Das französische Studiensystem ist anders als das deutsche, man studiert überwiegend an “Grandes Écoles”, also an (Hoch-) Schulen, und es ist auch deutlich verschulter. Es gibt zunächst eine in der Regel zweijährige “Prépa”, meint Classes préparatoires aux grandes Écoles, einen intensiven Vorbereitungskurs auf das Studium, mit Unterricht von morgens bis abends, manchmal sogar samstags und vielen Tests. Je nachdem, wie man diese Prépa absolviert, stehen einem danach Türen zu mehr oder weniger angesehenen Grandes Écoles offen. So war es für den Enkel. Es gibt aber auch Hochschulen, die zwei Jahre Prépa und das anschließende Ingenieursstudium am gleichen Ort anbieten. Sie sind vielleicht etwas weniger prestigeträchtig, das sage ich hier ohne Gewähr, so genau habe ich das System nicht durchschaut, es ist auf jeden Fall kompliziert; aber es gibt ja auch in Deutschland große Unis oder Technische Hochschulen, die für dies oder das berühmt sind, oder praxis- und anwendungsorientierte Fachhochschulen. Auf jeden Fall läuft es so (Prépa und Studium an derselben Schule) für die Enkelin. Wohnungssuch-und Umzugslogistisch ist es zumindest einfacher, dass beide in derselben Stadt sind. Ein bisschen erleichternd auch, zumindest für die Eltern und für die Enkelin, die aus dem Familienkokon schlüpft und in die große weite Welt zieht, dass der Bruder auch da ist. Der Enkel hat seine zweijährige Prépa und das erste Alleinleben in Nizza absolviert. Das war nicht zu weit weg, alle zwei, drei Wochen sah man ihn so wieder.

Jetzt aber werden die (Enkel-)Kinder nicht schon wieder am nächsten Wochenende mit ihrer Schmutzwäsche anreisen, sondern erst während der Novemberferien rund um Allerheiligen. Wäsche wird vor Ort gewaschen, im Wohnheim der Enkelin gibt es sechs riesige Waschmaschinen und Trockner, wie wir gestern per Whatsapp-Fotos sehen konnten. Gut, das kennen Sie vielleicht auch alles von Ihren Kindern oder EnkelInnen.

Was es aber meines Erachtens in Deutschland so nicht gibt, ist das sogenannte “bizutage”. Ich zitiere aus dem Larousse : “In Frankreich bezeichnet der Ausdruck ein traditionelles Aufnahmeritual an Schulen für die “classes préparatoires”, an den “Grandes Écoles” und an bestimmten Universitäten. Zu Beginn des Studienjahres treiben die Studenten der höheren Jahrgänge ihre Späße mit den neuen Mitschülern oder Kommilitonen und spielen ihnen (meist üble) Streiche.”

Das muss man sich ein bisschen wie die in Mode gekommenen Junggesellinnen-Abschiede vorstellen, wo die junge zukünftige Braut (oder der zukünftige Bräutigam), umgeben von besten FreundInnen, am Tag/Abend vor der Hochzeit, nicht nur alkohollastig feiert, sondern oft auch öffentlich irgendeinen albernen Mist machen muss.

In Frankreich, ich weiß ehrlich gesagt nicht mehr wo, habe ich vor vielen Jahren, um nicht zu sagen im letzten Jahrhundert, einmal verständnislos von zwei jungen Mädchen einzelne rosa Klopapierblättchen abgekauft; sie hatten noch eine ganze Rolle Klopapier (in Einzelblättchen) für damals noch ein paar französische Centimes zu verkaufen. Erst, wenn sie alle Blättchen verkauft hatten, waren sie erlöst, erklärten sie uns. Und damit sie nicht schummelten, wurden sie von älteren Studierenden begleitet, klar. Die ganze Innenstadt war voll mit jungen Menschen, die versuchten Klopapier an den Mann und an die Frau zu bringen. Das dabei eingenomme Geld diente dazu, abends die Fete zu organisieren.

Ein andermal, vor noch nicht allzulanger Zeit, wurde ich aufgefordert, gegen eine kleine finanzielle Gegenleistung, mit einer Dose Sprühsahne einen jungen Mann zu besprühen; “wohin ich wollte” bestätigten mir seine feixenden Begleiter – ich war nicht so sicher, ob ich das wirklich wollte und sah mir den Jungen an, ob ich in seinen Augen etwas von Qual und Leid sah, aber er grinste resigniert, ohnehin musste er da heute durch, also kleckste ich ihm gegen einen Euro zwei freundliche Sahnetupfer auf die Wangen.

Die Enkelin hatte ihren ersten Hochschultag schon am 1. September. Um 8 Uhr morgens begann er mit allerhand Informationen und danach waren “Spiele” angekündigt – man solle bequem angezogen sein und keine Absätze tragen, hieß es. Sie war ein bisschen bange und machte sich auf alles gefasst. Aber die (naturwissenschaftliche) Hochschule hat einen katholischen Träger (Lyon ist noch immer sehr bürgerlich und katholisch) und die Spiele blieben “bon enfant”, brav: die “Neuen” mussten nur stundenlang Treppauf- und Treppabrennen und ein paar Aufgaben erledigen, um so spielerisch den Campus kennenzulernen.

Zwei Beispiele für Bizutage in Lyon:

Offiziell ist bizutage bereits seit 1998 verboten, vor allem, weil es an manchen Hochschulen zu extremen Quälereien geführt hat, und die “Einführungs-Zeit” manchmal über Wochen ging.

Es gibt aber dennoch an einigen Schulen diese Mischung aus Karneval und Klamauk und ein bisschen Gemeinheit. Trotz des derzeit noch heißen sommerlichen Temperaturen in Lyon, bin ich erleichtert, dass die Enkelin nicht im Brunnen sitzen muss und mit Mehl beworfen wird. Ob der Enkel, der erst am Montag anfängt, Bizutage zu erleiden hat, erfahren wir später.

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8 Responses to La rentrée oder Die Kinder sind aus dem Haus

  1. Gabriele sagt:

    Herzliche Grüße an E. und ganz viel Erfolg, vor allem aber eine gute Studienzeit. Diese Bizutage ist großer Mist, ich würde so was an meiner Hochschule nie zulassen, da gäbe es echt Ärger 😝. Liebe Grüße

    • dreher sagt:

      Danke dir. Ich richte es gerne aus. Ja, ich bin auch froh, dass es das an ihrer Hochschule nicht gibt. Liebe Grüße!

  2. Marion sagt:

    “Période de transmission de valeurs” → LOL. Damit die zukünftige “Elite” gleich lernt, dass Machtmissbrauch nicht schlimm ist und auch keine Konsequenzen hat. Ich dachte immer, die “prépas” gäbe es nur für die “grandes écoles”? Für “normale Studiengänge” an “normalen Hochschulen” anscheinend auch? Da lobe ich mir doch das deutsche Hochschulsystem (um auch mal ein gutes Haar an D zu lassen). Ich weiß noch, wie irritiert wir deutschen “Selberdenker” im Austauschsemester in F von den biederen frz. Studenten waren, die immer nur brav mitgeschrieben haben, was ihnen diktiert wurde. Toi, toi, toi für den Enkel, dass es gut ausgeht.

    • dreher sagt:

      Danke dir!

      Vielleicht weil es der “lange” Ingenieurstudiengang ist, zwei Jahre prépa, drei Jahre Studium 🤷 ich glaube, es dient in diesem Fall eher dazu, alle aufs gleiche Niveau zu bringen.

      • Marion sagt:

        Gerade gelesen: Es gibt keinen NC in F, daher sehr großer Druck zu Beginn des Studiums, wodurch dann “gesiebt” wird. Aber so eine verschulte und lange “prépa” erscheint mir trotzdem anachronistisch, wenn man das Abi schon hat.

        • dreher sagt:

          Nun ja, das Abi *hüstel*…

          Die prépa, die der Enkel hinter sich gebracht hat, ist in der Tat eine, die aussiebt, je nachdem wie du die Abschlussprüfungen bestehst, werden dir “entsprechende” Grandes Écoles zugewiesen. Du kannst ein Jahr wiederholen, wenn du dir mit besserem Ergebnis eine bessere Hochschule versprichst.
          Es war aber spezielles Ingenieurwissen, das eingepaukt wurde: Mathe, Physik, Chemie… Das lernst du in der Tiefe so nicht in der Schule.

          Die prépa der Enkelin siebt nicht. Sie ist an dieser Schule angenommen.

  3. Caroline Bahri sagt:

    Mein Monsieur mußte in den 60igern den Sportplatz seiner Uni in Algier mit einem Zahnstocher ausmessen