Zwei Jahre

Ich bin nicht ganz pünktlich, aber Sie wissen es natürlich, vor zwei Jahren hat der aggressive Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine begonnen. Ich kann nicht nicht darüber schreiben, ich verliere diesen Krieg und die Ukraine nicht mehr aus den Augen, seitdem wir die kleine ukrainische Familie beherbergt haben. Ja, wir haben immer noch einen sehr lieben Kontakt, folgen uns gegenseitig auf und sehen uns über Instagram, es wurden an Weihnachten Pakete hin und hergeschickt und Briefe mit google translator verfasst. Der kleine M ist ein richtiges Schulkind geworden und der große M beinahe ein Teenager. Auf jeden Fall mag er nicht mehr fotografiert werden, und ich erhasche nur noch hin und wieder einen Blick auf ihn, wenn sein Vater ihn beim Fußballspielen von weitem filmt. Es geht der Familie soweit gut, sie sind zusammen und gesund, aber natürlich ist Krieg. Immer noch. Seit zwei Jahren.

Von meiner Buchhändlerfreundin Wiebke bekam ich schon vor längerer Zeit dieses Büchlein geschenkt. Czernowitz. Der Autor, Helmut Böttiger, der sich als junger Mann in die Gedichte von Paul Celan “schockverliebt” hat, wie man heute sagen würde, hat Czernowitz in den letzten dreißig Jahren dreimal bereist, kurz nach der sowjetischen Zeit, zur Zeit der Orangenen Revolution 2014 und noch einmal 2022 zu Beginn des aktuellen Krieges. Zunächst war er auf der Suche nach Spuren von Paul Celan und dem jüdischen Leben, das lange fast völlig ausgelöscht war, und nun langsam wiedererwacht ist, aber auch auf der Spur der alten und neuen Literatur.

Neugierig geworden auf diese Stadt suche ich nun Bilder vom aktuellen Czernowitz und finde immer nur Bilder, die das alte, das habsburgische Czernowitz zeigen. Und dann entdecke ich diesen Film, oder sagen wir diesen Trailer. Und siehe da, nicht nur Paul Celan, Rose Ausländer oder Selma Merbaum (häufiger, wenn auch fälschlicherweise Selma Meerbaum-Eisinger) stammen aus Czernowitz, nein auch Harvey Keitel, oder zumindest dessen Vater. Die DVD von “Dieses Jahr in Czernowitz” habe ich bestellt.

Von Volker Koepp gibt es auch noch diesen Film über die melancholischen und in deutscher Sprache geführten Gespräche von Herrn Zwilling und Frau Zuckermann.

Wie es so ist, wenn man auf etwas besonders achtet, vielleicht auch dank der Cookies, die meine Suche im Internet verfolgen, stolpere ich in Instagram über einen Account, der @forgottengalicia heißt und den dazugehörigen englischsprachigen Blog gleichen Namens, beides wird von Areta, einer ukrainischstämmigen Amerikanerin, die 2011 von Chicago “zurück” in die Stadt ihrer Großeltern, nämlich nach Lviv gezogen ist, geführt. Hier stellt sie sich und die Geschichte ihrer Familie vor (englischer Text). Sie zeigt auf Instagram überwiegend Bilder aus Lviv, ehemals Lemberg, heute übrigens mit Cannes verschwistert. Ich bin gerührt diese alten Häuser und Villen, die Kopfsteinpflasterstraßen, die schön gemusterten Fußbodenkacheln, dekorative schmiedeeisernen Tore und Zäune zu sehen. Die Ukraine, dieses fremde Land, zweitausend Kilometer entfernt, sieht zumindest in seinem Westen auch heute noch aus wie vertraut-verschlafenes Habsburg-Österreich.

Hier übrigens ein anscheinend nur in Lviv vorkommendes gleichzeitig dekoratives und nützliches “Alltags-Ding” – es diente (vielleicht) zum Blumen aufhängen und/oder (heutzutage) zum Kleider-Lüften. Hier der (englischsprachige) Blogartikel dazu. Ich liebe so etwas!

Der Westen der Ukraine gilt gemeinhin als “sicher” in diesem Krieg. Aber auch hier im schönen Lviv und im davon 120 Kilometer entfernten Ternopil, der Stadt, in der die kleine ukrainische Familie lebt, gibt es Sirenenalarm, Luftangriffe, werden Wohnhäuser und zivile Einrichtungen wie Schulen zerstört, immer wieder, das letzte Mal am 15. Februar diesen Jahres.

Jurko Prochasko, Germanist, Autor, Übersetzer und Psychoanalytiker, der in Lviv lebt und arbeitet, und zu einem Literaturfestival nach Czernowitz angereist ist, sagt in einem Gespräch mit Helmut Böttiger: “Keinen Augenblick verlässt mich das Bewusstsein dieses Krieges”. Der Krieg greift in seinen konkreten Alltag ein, okkupiert Gefühle und Gedanken. Seine Arbeit als Psychoanalytiker ist davon betroffen: Der Krieg […] macht die Möglichkeit zunichte, dass sich die Menschen in der Analysestunde “wertgeschätzt und geschützt” vorkommen können. Auch die Möglichkeit des “freien Einfalls”, das Herzstück seiner Therapieform, wurde durch den russischen Einfall in die Ukraine zunichtegemacht.

Prochasko arbeitete schon einige Zeit an einer Übersetzung von Hölderlins Hyperion. In den Tagen nach dem russischen Überfall habe er sich gesagt, das wolle er sich von diesem Krieg nicht nehmen lassen, er wollte die Hölderlin-Übersetzung als ein Aufrechterhalten von Strukturen weiterführen, aber, sagt er “dann konnte ich einfach nicht mehr”. Der Antrieb dazu fehlte, dringend notwendig wurden dagegen eine Unmenge von Tätigkeiten, um den Alltag im Krieg zu bewältigen.

(zitiert aus Helmut Böttiger: Czernowitz. Stadt der Zeitenwenden, Berenberg Verlag, Berlin 2023)

Ich lese nun hier und da und erneut über Paul Celan und Rose Ausländer, und denke irgendwann, dass ich jetzt wohl endlich reif bin für Josef Roth. Ich habe immer nur über ihn gelesen, aber nie eines seiner Bücher. Ich erwerbe dann aber doch nicht den Radetzkymarsch, obwohl ich einen begeisterten Text über seine Lektüre gelesen habe, aber ich fürchte, ich bräuchte auch ein gebrochenes Bein und viel Zeit, um mich lesend in andere Welten zu versenken, beides habe ich nicht, sodass ich den Radetzkymarsch aufgebe und stattdessen antiquarisch ein hübsch gemachtes Buch (die Neuauflage der “Anderen Bibliothek”) erwerbe, darin ein paar Texte über die Städte Südfrankreichs – ich hoffe, darin etwas zu finden, was mich ihm, der hier im Süden exiliert war, trank und schrieb, nahebringt. Aber so richtig finden wir nicht zueinander. Vielleicht muss es doch der Radetzkymarsch werden.

Und noch etwas Musik, nicht super aktuell, kennen Sie vielleicht schon, wenn Sie musikalisch weltoffen unterwegs sind. Borsh Divison. Future Sound of Ukraine. Compiled by Yuriy Gurzhy. Hier habe ich aktuell darüber gelesen.

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13 Responses to Zwei Jahre

  1. N. Aunyn sagt:

    Volker Koepp finde ich sehr beeindruckend. Ich habe ihn mit seinen Studierenden in einem Abschlußprojekt mit Demenzkranken erlebt.

    • dreher sagt:

      Danke! Ich kannte ihn gar nicht und habe ihn gerade erst gegoogelt. Bin jetzt auch beeindruck und werde mal nach anderen Filmen von ihm schauen. Das erwähnte Projekt suche ich mal. Interessiert mich auch!

  2. Reiner Wadel sagt:

    Joseph Roth gehört zu den Autoren, die ich seit den 70er Jahren immer wieder gerne lese. Aufmerksam wurde ich auf ihn durch Fernsehverfilmungen einiger seiner Romane, u.a. mit dem unvergessenen Helmut Qualtinger: Hiob, Das falsche Gewicht, Radetzkymarsch zeigten mir zum ersten Mal Osteuropa zur Zeit der Habsburger. Ich habe dann viel von ihm gelesen, auch eine umfangreiche Biographie von David Bronsen, und dass Joseph Roth im Exil mit Irmgard Kein verbandelt war, hat ihn mir noch sympathischer gemacht. Wenn man Joseph Roth liest, taucht man ein in eine herbe, nostalgische Welt, die vergangen ist und plötzlich in neuer Gestalt wieder auftaucht.

  3. Pingback: 24-02-27 La chute bedeutet Untergang oder Fall oder Sturz – iberty.de

  4. Marion sagt:

    Viele Anregungen, merci…

  5. Croco sagt:

    Hiob hat mir in schweren Zeiten geholfen, als ich dachte, es regne nur auf mich und Gott und die Welt hätten mich verlassen. Ein heilsames und und wunderbares Buch wie die anderen von Josef Roth auch. Lebensklug.

  6. Claudia Pollmann sagt:

    Josef Roth ist wohl eine meiner großen literarischen Lebenslieben. Und es gibt wunderbare Hörbücher um sich den Autor zu können. Das alte Österreich-Ungarn ist ein großer Teil meiner DNA und daher spricht mich auch der Autor so an. Eine Reise in seine Geburtsregion steht ganz oben auf meiner Wunschliste. Es gibt ein Bild von Josef Roth zusammen mit Stefan Zweig in Ostende aufgenommen. Es hängt über meinem Schreibtisch – er rührt mich jedes mal an an – die misstrauische Zerbrechlichkeit Roths und der Blick Stefan Zweigs im letzten Sommer ist Ostende … sonst kann ich dir nur Johannes Urzidil ans Herz legen der wie kein zweiter Tschechien als Vielvölkerstaat beschreibt. Vor allem auch die verlorene Geliebte das er im Exil in New York geschrieben hab.
    Liebe Grüße aus dem Allgäu

    • dreher sagt:

      Liebe Claudia, mich rührt, wie sehr Joseph Roth dir nah ist. Danke für deine persönlichen Zugang. 🙏💗
      Ich höre jetzt den *Radetzkymarsch*, gelesen von Michael Heltau, ein Österreicher musste es schon sein. Und die Melancholie des Textes passt gerade gut zu meiner Stimmung.