Glücklicherweise habe ich mir das Wort “Heiterkeit” als Wort des Jahres gewählt, sonst würde mich die Schwere dieses noch jungen Jahres schon in den Abgrund gezogen haben. Vieles von dem, was passiert und passiert ist, kann ich Ihnen hier nicht erzählen.
Erzählen kann ich Ihnen, dass Serge schöne und berührende Abschiedszeremonien hatte: unzählige Menschen hatten sich zunächst in einer katholischen Kirche im Stadtzentrum nahe des Palais des Festivals, versammelt, auch zur Zeremonie im Krematorium am anderen Ende von Cannes, waren erneut sehr viele Menschen erschienen. An beiden Orten ergriffen Menschen das Wort: Freunde, Weggefährten, der Bürgermeister, und sehr persönlich und liebevoll sein Sohn. Im Krematorium wurde Musik gespielt, die Serge geliebt hatte (Fleetwood Mac, Supertramp) und eine Diashow an die Wand projiziert: man entdeckte seine Eltern, die Großeltern, Serge als Kleinkind, als junger Mann, mit seiner ersten Frau, mit den Kindern, mit seiner heutigen und langjährigen Lebensgefährtin, auf Reisen, mit den Enkelkindern und immer wieder im Kino, vor einer Leinwand stehend, lachend, blitzende Augen, das Haar zerzaust, das Hemd leicht offen.
Anschließend gingen wir mit einem Teil der Familie in die Brasserie des neuen Kinokomplexes Cinéum zum Essen, und siehe da, die Mitglieder der erste Stunde von Cinécroisette hatten, unabgesprochen, ebenfalls einen Tisch dort reserviert. Man umarmte sich, weinte erneut ein bisschen, und wir tranken auf Serge. Ach.
Letzten Sonntagnachmittag blätterte ich durchs Kinoprogramm. Um 16.50 Uhr sollte es den zweiten Teil von Dune in einem Innenstadtkino geben. Ich schlug es Monsieur vor, er war nicht abgeneigt, kurzer Blick auf die Uhr: 16.30 Uhr. Könnten wir noch schaffen. Und los. Was ich nicht bedacht hatte, war die lange Schlange am Eingang, herrjeh, diese Kinobegeisterten Menschen in Cannes. Aber siehe da, sie stehen alle am Eingang für Besucher, die ihre Karte im Internet reserviert haben, an der normalen Kasse ist nichts los, wir bekommen unsere Tickets, jemand reißt sie ab und schickt uns zum Kino 4, ganz hinten, Treppe hinauf und oben links. Jetzt öffnet sich die Tür für die anstehenden Menschen, die hereinströmen, wir werden überspült und mitgeschwemmt, wir haben alle denselben Weg und eilen die Treppe hinauf und oben in den linken Saal. Wir finden gute Plätze und sehen zu, wie sich der Saal füllt. Alle scheinen sich zu kennen, es wird gegrüßt, gewinkt und gerufen. Rechts und links von der Leinwand stehen Plakate vom Rotary-Club. Ach je, ich seufze, wir sind in eine Veranstaltung vom Rotary Club Cannes geraten. Wir wollten nur einen Film sehen und keiner Wohltätigkeitsveranstaltung beiwohnen, aber nun ja, da müssen wir jetzt durch. Die Damen und Herren der verschiedenen Unterabteilungen des Rotary Club Cannes stellen sich vor und freuen sich, dass so viele Mitglieder gekommen sind, ein Teil der Einnahmen für diesen Film gehe an die Hirnforschung, erfahren wir. Es folgt ein Trailer für einen Spielfilm, in dem es um die Einführung des “obligatorischen, kostenlosen und laizistischen” Schulunterricht geht; die Schauspielerin Alexandra Lamy, lange Zeit im komödiantischen Bereich tätig, spielt die Lehrerin, die für diese Aufgabe in ein abgelegenes Bergdorf geschickt wird. Es folgt ein kurzen Film über den Rotary Club und das Zentrum für Hirnforschung, und erneut ein kurzer Film mit Alexandra Lamy, die dem Rotary Club dankt, ihren Film ausgewählt zu haben, und schon geht er los. Jetzt erst verstehen wir es: Wir sind im falschen Film! Ich stöhne genervt auf, und im Dunkeln des Kinosaals sehen wir uns fassungslos an. Was tun? Es ist zehn nach fünf, Dune läuft vermutlich seit zwanzig Minuten in einem anderen Saal. Wir bleiben also sitzen und schauen uns resigniert den Schulfilm an. Er heißt “Louise Violet”. Ich würde Ihnen gerne einen Trailer hier reinsetzen, aber siehe da, es gibt noch keinen, wir haben, dank des Rotary Clubs, eine echte Vorpremiere gesehen, der Film wird erst Ende des Jahres offiziell in den französischen Kinos zu sehen sein.
Möglicherweise wiederhole ich mich, das mögen Sie mir verzeihen, aber für den Kontext des Films ist es nicht unwichtig zu erwähnen, dass Monsieurs Großmutter, Josephine G., als sehr junge Frau zu Beginn des letzte Jahrhunderts ihren ersten Posten als Lehrerin in “unserem” Bergdorf angetreten hat, und zwar im oberen Bergdorf, das, damals wie heute, noch einmal sieben Kilometer vom unteren Dorf entfernt liegt. Für sie war es der erste Posten als Lehrerin, und gleichzeitig war sie die letzte Lehrerin des oberen Bergdorfes. Nach dem ersten Weltkrieg kam so gut wie kein Mann aus dem Krieg zurück, das Dorf wurde aufgegeben, die Frauen mit ihren Kindern wanderten ins untere Dorf ab, manche auch in andere Dörfer weiter unten, oder sie zogen ganz an die Küste.
Wir haben also beide ein sehr konkretes Bergdorf und seine schrulligen Bewohner im Sinn, während wir in die Geschichte eintauchen, und Monsieur kommt seiner Großmutter sehr nah, deren Leben sich von dem der Lehrerin im Film wahrscheinlich nur in Nuancen unterschied.
Zum Film: Die Lehrerin, Louise Violet mit Namen, wird im Dorf nicht freudig empfangen, niemand grüßt oder spricht mit der Fremden, und der Bürgermeister quartiert sie im Stall neben einer Kuh ein. Da kann sie wohnen und ihre Schule einrichten. Mal sehen, wie lange sie durchhält. Die Einführung der Schulplicht stößt in dem abgelegenen Dorf auf Widerstand. Selbst wenn der Unterricht kostenlos ist, die Kinder sind zum Arbeiten da, und nicht zum Faulenzen. Lesen und Schreiben kann in dem Dorf nur der Postbote, der dem Bürgermeister die Zeitung vorliest. Kein Kind kommt zur improvisierten Schule im Stall. Nach Monaten, im tiefsten Winter, erbarmt sich der Bürgermeister und macht mit ihr eine Tour zu den abgelegenen Höfen, damit sie bei den Bewohnern für ihre Schule werben kann. Aber die Bauern lehnen die Schule ab, wenn die Kinder erst mehr wissen als die Eltern, dann werden sie diesen nicht mehr gehorchen. Außerdem werden sie dann nicht mehr das bäuerliche Leben fortführen wollen, und was soll dann aus dem Dorf werden? Nur die Tatsache, dass sie bei dieser Tour zufällig bei der Geburt eines Kindes hilft, da der Arzt wegen des Schnees nicht kommen kann, bewirkt, dass man sie fürderhin im Dorf grüßt, und dass die ersten zwei Kinder in den Unterricht kommen dürfen. Beargwöhnt wird sie aber weiterhin, es wird getuschelt und getratscht, sie hat sich bestimmt etwas zu Schulden kommen lassen, sonst hätte man sie nicht in dieses abgelegene Dorf geschickt. Dass der Postbote ihre Briefe liest und den Dorfbewohnern daraus erzählt, tut ein übriges. Auch der Pfarrer mischt sich ein und rät ihr, sich einen Mann zu nehmen, damit man sie respektieren würde. Der Bürgermeister sei ihr doch durchaus zugetan … und tatsächlich lässt der ihr eine Schule bauen. Da sie aber sein Bett verschmäht, bleibt die Schule ohne Dach. Bis sie eines Nachts abbrennt …
Der Film hat uns beide sehr gerührt. Mir liefen immer mal wieder die Tränen runter. Einfach so, ganz leise. Meine Hof- und Dorflebenerfahrungen vermischen sich mit den Bildern des Films. Was für ein hartes und karges Leben in diesen Dörfern herrschte. In meinem Jahr auf dem Hof, und im Sommerhaus in den Bergen, der ehemaligen Schule, die, anders als die schick und mit viel Komfort um- oder ausgebauten Höfe der Zweitwohnsitzenden, in ihrer Einfachheit erhalten blieb, spürte ich noch etwas davon nach, aber auf Zeit und vor allem im Sommer ist das Leben zwar beschwerlich(er), aber immer auch irgendwie wohltuend einfach, still und in gewissem Sinn romantisch. Ich denke an das junge Mädchen, dass Monsieurs Großmutter damals gewesen ist. Sie kam aus Cannes, was für ein Schock musste das Dorfleben für sie gewesen sein. Ein Plumpsklo im Schulhof. Wie mühselig das Waschen der Wäsche am Lavoir. Wie kalt und unwirtlich war es dort im Winter. Die Kinder mussten damals jeweils einen Scheit Holz zum Unterricht mitbringen, um den Klassenraum zu heizen. Waren die Bewohner damals auch so abweisend zu ihr, dem jungen Mädchen aus der Stadt? Vielleicht war sie in den Großvater auch nicht wirklich verliebt gewesen, denke ich jetzt, sondern hat ihn aus Vernunftsgründen genommen, weil er ihr zugetan war, und damit man sie respektierte. Das würde ihr “sachliches” und wenig inniges Eheleben erklären; sie hätten sich erst am Ende ihres Lebens friedlich zusammengefunden, erzählt Monsieur immer. Wer hat damals schon aus Liebe geheiratet? Monsieur zuckt die Schultern. Auch er verliert sich in Erinnerungen an die Großeltern und an das Bergdorf zu seiner Kindheit.
Ein sehr gelungener Film, den ich Ihnen empfehle, falls er je in deutschen Kinos oder auf arte laufen sollte (wie gesagt, er kommt in Frankreich erst im November in die Kinos). Glücklicherweise hatten wir uns im Saal geirrt (Dune lief in einem kleinen Saal direkt nebenan, haben wir beim Rauskommem gesehen), denn vermutlich hätten wir uns den Film nicht aus freien Stücken angeschaut.
Noch etwas anderes: Ich mache immer noch mit beim Aufräumen der diesjährigen Fastenchallenge, wenn ich da auch aus Gründen ein bisschen hinterherhinke. Aber “etwas ist besser als nichts” wie Alexandra immer sagt, sodass ich heute die CDs geordnet habe, die seit ewigen Zeiten chaotisch herumliegen, oder teilweise ohne oder in falschen Hüllen stecken. Das habe ich letztes Jahr (!) bereits in Angriff nehmen wollen und damals nicht geschafft.
Ich höre ja kaum noch Musik, es ist mir meistens zu viel Geräusch, und in meinem Kopf ist genug los. Ich suche eher Stille. Das herumliegende Chaos hat also der Gatte im Lauf der Zeit produziert, aber das Aufräumen ist nicht so seine Sache. Heute also mache ich es und ganz ohne Grummeln, einfach so. Ich höre dazu eine CD von Dota Kehr mit der Vertonung von Gedichten Mascha Kalekos, die ich zum Geburtstag bekommen und bislang noch nicht gehört habe. Sie gefällt mir überraschend gut und nach anderthalb CDs war ich fertig mit Räumen! Der Kabelsalat ist zwar noch da, aber sonst haben 95% der CDs ihre richtige Hülle gefunden, entstaubt und geordnet ist es auch.
Dann nahm ich mich noch den herumliegenden Landkarten an (der Gatte suchte kürzlich eine, räumte sie dann aber nicht mehr weg), die haben teilweise schon historischen Wert, gehören auch nicht mir, ich habe also nur wirklich Überflüssiges entsorgt und dabei 5 Euro gefunden , verdient würde ich sagen!
Gefunden habe ich dabei auch wieder eine CD von Stacey Kent, sie singt mit einem sehr charmanten, kaum hörbaren amerikanischen Akzent jazzige französische Kompositionen. Les Eaux de Mars, (kennen Sie vielleicht von Georges Moustaki) gefällt mir wegen seiner Federleichtigkeit gerade am besten.
So viel für heute. Passen Sie auf sich auf, bleiben Sie so gesund wie möglich, und Carpe diem!
Was machst du eigentlich mit all deinen gelesenen Büchern?? Das müssen doch riesige Stapel sein!
In der Tat, Stapel haben wir überall. Ich habe aber bei Weitem nicht so viele Bücher, wie die, die Monsieur anschleppt und liest … ich trenne mich in der Zwischenzeit recht pragmatisch von vielen meiner Bücher, zumindest von denen, die ich weniger mochte. Vieles wandert auch ins Haus in den Bergen, was dazu führt, dass man das, was man gerade für irgendetwas braucht, nicht zur Hand hat …
Heiterkeit – was für ein gut gewähltes Wort als Jahreslosung, ich werde mich diesem Gedanken unverzüglich anschließen. Er kommt mir sehr entgegen.
Mit guten Vorsätzen, wie zum neuen Jahr, habe ich es nicht so sehr, aber vor vielen, vielen Jahren hatte ich mal aus guten Gründen ein Motto gewählt, dessen bewusste Umsetzung mir sehr geholfen hat: “wage es, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen”. Das machte mich freier, selbstbewusster und endlich erwachsen.
Ihre großartige Rezension des “falschen” Films hat mich neugierig gemacht. Hoffentlich werde ich irgendwann die Gelegenheit haben, diesen sehen zu können.
Dankeschön, liebe Trulla! Ja, Heiterkeit ist das Gegenteil von Schwermut, und dazu neige ich allzu leicht. Dass ich also “verstandesmäßig” eine Gegenbewegung ausführe, einen bewussten Schritt Richtung Heiterkeit mache, mich nicht (unter-)gehenlasse, sondern versuche, eine ruhige und heitere Grundstimmung zu bewahren, bisweilen auch nur den den Kopf über Wasser zu halten und zu schwimmen, das hilft mir in diesem düsteren Jahr(esanfang).
Wir haben gestern Abend aber eine gute Nachricht bekommen, sodass eine Sorge schon einmal leichter wiegt!
Der Film ist wirklich sehenswert! Ich bin nicht sicher, ob er in die deutschen Kinos kommen wird, aber vielleicht eines Tages auf arte.
Die Geschichte mit der jungen Lehrerin berührt mich sehr.
Naja, ich bin ja eine und mein Urgroßvater war ein Dorfschullehrer in einem kleinen Dorf am Bodensee, ein anderer Urgroßvater war in einem Schloss der Lehrer für das Grafenkind. Und viele der Nachkommen sind auch Lehrer geworden, und Lehrerinnen.
So gibt es die Geschichten, dass die Lehrer reihum bei den Bauern gegessen haben und wenn ein Kind schlechte Noten hatte, bekam der Lehrer eben kein Stück Rauchfleisch mehr. Und die vielen Aufgaben, die er dazu noch machen musste: Kirchenchor, Organist und was was ich noch alles, nur um über die Runden zu kommen. Und man war immer der Fremde im Dorf.
So eine schön aufgeräumte Ecke. An das rosa Bild erinnere ich mich gut. Ich sehe immer noch ein Männchen mit Blumen auf dem Kopf statt eines Tisches.
Vielleicht liegt es daran, dass ich die Bilder von Giovanni Vetere sehr mag.
Ich kann mir nicht vorstellen, dass der Film einen kalt lässt, aber wenn man dazu noch einen Bezug zum Lehrerberuf und zum Dorf hat, dann berührt er einen zutiefst.
Dass die Einführung der kostenlosen Schulpflicht so schwierig und nicht allen eine Freude sein könnte, habe ich vorher nie gesehen.
Und wie schwierig es für den/die Lehrer/in in so einem abgelegenen Dorf sein würde, denn ja, sie blieb die Fremde, und sie war auch Sekretärin des Bürgermeisters, Küsterin und und und … herrjeh!
Danke! Das Männchen mit Blumenhut sehe ich jetzt auch immer