Vom Verschwinden der Regenschirme

Haben Sie einen Regenschirm? Wirklich? Schauen Sie mal nach, ob er noch da ist. Schirme sind sehr freiheitsliebende Wesen und sehr flüchtig. Und meistens sind sie weg. Es regnet. Ich will meinen orangefarbenen gute-Laune-trotz-Regen-Schirm nehmen und er ist nicht da. So viele Aufbewahrungsorte für Regenschirme gibt es in unserer Wohnung nicht. Es hat keinen Sinn Monsieur danach zu fragen, ich habe keine Lust wieder eine Tirade über verschusselte Gegenstände über mich ergehen zu lassen. Mein orangefarbener Schirm ist weg. Ich besaß ihn nur einen Nachmittag lang. Stattdessen finde ich ein komisches schwarzes Gerippe, das aussieht wie eine riesige traurige Fledermaus, und in den Tiefen einer Reisetasche finde ich einen weinroten Automatik-Faltschirm mit großem schwarzen Kugelschreiberfleck, dessen Automatik sich verweigert. Warum ist der einzige Schirm, den ich dauerhaft besitze, immer ein sperriger Stockschirm mit verbogener Spitze, grottenhässlich und mindesten an einer Stelle abgeknickt? Er und ich, wir sind uns treu, und ihn schleppe ich immer wieder mit nach Hause. Alle schönen Schirme, die ich im Laufe meines Lebens besessen habe, haben mich früher oder später verlassen. Ich glaube nicht, dass ich jemals einen Schirm durch jahrelanges Laufen durch den Regen abgenutzt habe. Ich erinnere mich an einen tief heruntergezogenen durchsichtigen Plastikschirm, einen mohnroten Blütenschirm, an grasgrüne und rotweißgestreifte Werbeschirme mit Aufdrucken für Banken oder Leihwagen, an schottenkaromusterstrenge schwere Stoffschirme mit Horngriff, große regenbogenfarbige Schirme, Taschenschirme in hellen, dunklen oder Signalfarben, klitzekleine Minifaltschirme mit Blümchenmuster oder Streifen mit einfacher oder doppelter Falttechnik: mal billig, die sich schon beim Öffnen verheddern und beim ersten Windstoß umstülpen; mal markenbewusst teuer und etwas stabiler, und immer wieder hatte ich klassische schwarze Herrenschirme. Vergessen habe ich sie alle irgendwo. In der Straßenbahn, in der Stadtbücherei, beim Tierarzt, auf der Kaufhaustoilette, an der Supermarktkasse, in der Kneipe – das vermute ich, denn, wenn ich es wüsste, hätte ich sie wahrscheinlich noch. Niemals habe ich einen meiner schönen Schirme wiedergefunden. Niemals habe ich bei Regen irgendwo einen herrenlosen Schirm gefunden, der mir hätte aushelfen können. Ich kaufe also einen neuen Schirm, diesmal einen billigen, denn ich vergesse ihn sowieso – oder einen so teuren, dass ich an nichts anderes als an meinen Schirm denken kann. Hab ich ihn noch? Schirm? Aber irgendwann ist er auch weg. Aus der Hand geklaut? Ich weiß es nicht. Weg.

Manchmal glaube ich, dass Schirme eine Seele haben, und es kränkt sie, dass wir ihnen nur so wenig und unregelmäßig Wertschätzung entgegenbringen, so dass sie uns unbemerkt und leise verlassen und zu ihren Brüdern und Schwestern ins Regenschirmland gehen, wo es immer leicht nieselt und sie das Gefühl haben, geliebt und gebraucht zu werden. Vielleicht sollte ich meinem nächsten Regenschirm einen Namen geben.

Dieser Text ist eine leicht veränderte Fassung meiner Kolumne “Das Leben eben”, die in der Zeitschrift Avanti erschienen ist, lang ist es her, ich vermute irgendwann im Herbst 2010. Durch den gestrigen Kommentar von Gundula, dass mein blauer Regenschirm vielleicht lieber Sonnenschirm geworden wäre, ist er mir wieder eingefallen.

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14 Responses to Vom Verschwinden der Regenschirme

  1. Gabriele sagt:

    Das ist ein universelles Problem, das dazu führt, dass ich persönlich seit vielen Jahren ausschließlich Schirme bei dm oder Rossmann für 2,50€ kaufe, dann gibt es nie Abschiedsschmerz ☺️. Liebe Grüße Gabi

  2. Marion sagt:

    Haha, ja die armen Regenschirme, haben soviel Desinteresse eigentlich nicht verdient. Mir wurde mal ein Lieblingsschirm, stabil UND schön, aus dem Schirmständer am Eingang eines Geschäfts geklaut (da dachte sich jemand, wie praktisch, bei dem Sauwetter ☹) , seitdem nehme ich die Schirme immer mit, egal wieviel sie tropfen. Teure kaufe ich auch nicht mehr.

    • dreher sagt:

      Uns wurde neulich beim Notar auch der Schirm “versehentlich” mitgenommen :-( es war Monsieurs Lieblingsschirm. Wir werden vermutlich Gelegenheit haben, den Straßenverkäufern neue Schirme abzukaufen – es sind acht Tage Regen angesagt!

  3. Reiner Wadel sagt:

    Man braucht in Cannes Regenschirme? Da kann ich ja gleich im Odenwald bleiben. (Wieder eine Welt zusammengebrochen.)

    • dreher sagt:

      Es tut mir wirklich leid, Sie so zu enttäuschen… ;-) — In den nächsten Tagen wird man um den Regenschirm nicht herumkommen, acht Tage Regen sind angesagt, aber man kann sich auf die afrikanischen Straßenhändler verlassen, die mit Regenschirmen die besten Geschäfte machen!

      Sehe gerade, dass ich mich wiederhole, steht im Kommentar an Marion auch schon, daran sehen Sie, dass es wahr ist! :D
      Beste Grüße in den schönen grünen Odenwald!

  4. Claudia Pollmann sagt:

    Was für ein bezaubernder Text … danke dafür
    Claudia

  5. Maria sagt:

    Wir mussten vor einigen Jahren bei diesem schlimmen Unwetter in Cannes einen Schirm kaufen. Schon am Parkplatz standen die afrikanischen Händler und wir haben einen blauen Stockschirm günstig gekauft. Er sieht relativ edel aus und begleitet mich oft. Auf der Rückfahrt dieser Reise haben wir in Turin übernachtet. Auf dem Weg zum Zentrum wurden uns laufend Schirme von afrikanischen Händlern angeboten bei anscheinend gutem Wetter. Aus heiterem Himmel regnete es ziemlich heftig und wir haben diesmal einen kleinen Taschenschirm gekauft. Resümee: die Schirmhändler achten mehr auf Wetterbericht, schon aus Geschäftsgründen. Die Schirme sind für uns Souvenirs an eine schöne Reise.

    Der schöne aus Cannes lag im Auto. Unser Resümee: Wenn Schirme

    • dreher sagt:

      Vielen Dank für Ihre schöne Regenschirmgeschichte!
      Mir wurden in Italien auch bei strahlendem Sonnenschein Regenschirme angeboten, mit dem Argument, dass sie auch gegen zu viel Sonne schützen würden :D Ich habe aber trotzdem keinen gekauft. Unsere Stockschirme sind aber auch vom Cannoiser chinesisch-afrikanischen Straßen-Markt, sie sind recht stabil und halten relativ lange!
      Und ja, die senegalesischen Straßenverkäufer sind über alle Events (Kongresse, Konzerte, ankommenden Kreuzfahrtschiffe informiert, auch über wichtige Märkte irgendwo anders im Land (Marseille etwa), und sie informieren sich detailliert übers Wetter. Sie machen eine richtig gut organisierte Arbeit, auch wenn sie in unseren Augen vielleicht willkürlich und banal aussieht.

  6. Croco sagt:

    Das erklärt vieles. Sie wollen wandern und mögen ab und an in anderen Schirmständern stehen. So kommen sie rum und sehen die Welt, ohne dass es einer bemerkt.
    Im Auto habe ich gerade einen großen orangen Schirm. Er war ausnahmsweise ohne Werbeaufdruck, stabil und fröhlich im Gemüt.
    Neulich benötigte ich ihn und spannte ihn auf. Was seh ich da? Da steht dick und breit Ikea Family drauf. Der fehlt jetzt in einer Familie, die sich nun wundert, wo die Aufschrift hin ist. Sie tauschen also auch noch unbemerkt die Plätze, diese wilden Dinger.

  7. Gundula Mehlfeld sagt:

    Was für eine schöne Kurzgeschichte – wie schön, daß ich dazu beigetragen habe, daß du sie hier mit uns teilst! Ich vergesse meine Schirme meist zu Hause, auch wenn es nach Regen aussieht! So gehen sie nicht verloren, aber ich werde oft nass 🙄.
    LG Gundula

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