Anora – La Palme d’or 2024

Nun, ich reiche es hier noch nach, falls Sie es noch nicht anderweitig gelesen haben, “Anora” hat die Goldene Palme 2024 in Cannes bekommen. Anora ist der Vorname der Sexarbeiterin, die in einem Nachtclub, vielleicht ist Stripclub das bessere Wort, arbeitet. Einer ihrer Kunden ist der sehr junge Ivan, der Sohn einer ultrareichen russischen Oligarchenfamilie, der sich ein paar schöne Tage in New York macht, wo die Familie ein protziges Anwesen besitzt. Er bezahlt Anora dafür, dass sie eine Woche mit ihm verbringt, es erinnert hier leicht an “Pretty Woman”, in dieser Woche wird gefeiert getrunken und gekokst, was das Zeug hält, Ivan ist begeistert von Anora, die alles mitmacht und sich nebenbei von ihm vögeln lässt. Er macht ihr einen Heiratsantrag und sie heiraten spontan in Las Vegas. Großer Schock als das bis nach Russland durchsickert, die armenischen Aufpasser des jungen Ivan sind in Schwierigkeiten, wie konnte das passieren? brüllen die russischen Eltern durchs Telefon, und reisen unverzüglich im Privatjet an, damit diese Ehe mit allen Mitteln annuliert wird.

Die Zuschauer werden kurz vor Filmbeginn noch einmal auf die kommenden Sex- und Gewaltszenen hingewiesen, ich erwarte das Schlimmste, aber die Sexszenen sind nicht verstörend, später kämpft die kleine Anora tapfer gegen die bulligen Armenier, während ihr frisch angetrauter Ehemann sich aus dem Staub macht. Das alles ist auch komisch. Selten habe ich bei einer Goldenen Palme so viel gelacht. Ob es unbedingt der richtige Film für diese große Auszeichnung ist, das sei dahingestellt. Katja Nicodemus von der ZEIT ist auf jeden Fall enttäuscht, man hätte die Palme, so findet sie, dem aus dem Iran geflohenen iranischen Regisseur Mohammad Rasoulof für den heimlich gedrehten Film “The seeds of the sacred fig” geben und damit auch ein politisches Statement abgeben sollen, hier ein link zu arte und einem Interview mit ihm, anstatt ihn mit einem eigens geschaffenenen Preis “abzuspeisen”. Ihren Rückblick und ihre Enttäuschung über ein Festival das unpolitisch in seiner “Blase” geblieben ist, könnten Sie sich hier anhören.

Ich hatte mich am Samstag früh für Karten angestellt, Sie wissen, dass es für die Einwohner von Cannes, die sich mit Wohnsitznachweis in Form etwa einer Telefonrechung bei der Stadt einfinden (derzeit im Gebäude der Hafenmeisterei), pro Haushalt jeweils zwei Karten für die Goldene Palme, die einen Tag nach dem Festival gezeigt wird, gibt. Was ich nicht wusste, ist, dass dieses Kartenkontingent endlich ist. Bislang wurde mir immer erzählt, es gäbe so viele Vorstellungen wie es Interessenten gäbe. Njet. Es gibt drei Vorstellungen, ein Großteil der Karten geht vermutlich vorab an die Vereine und ich weiß nicht wohin, und der Rest ist “so lange Vorrat reicht” unter den erwähnten Bedingungen erhältlich. Man muss rechtzeitig da sein, das Büro öffnet um 9 Uhr. Ich war um 10 Uhr da und stand so weit hinten am Kai, wie nie zuvor.

Angeblich waren Menschen schon um 7 Uhr da. Das Besondere in französischen Gruppen, auch wenn sie sich wie hier in einer Schlange formieren, ist, dass immer sofort mit den Umstehenden gequatscht wird. Ich bin ein bisschen müde, vormittags bin ich nicht die Gesprächigste, ich tausche ein paar lustlose Sätze mit der Dame hinter mir aus. Vor uns steht eine weißblonde Dame russischer Herkunft und man diskutiert den Ukrainekrieg. Man ist pro Putin, es macht mich fertig, diesen Mist anhören zu müssen, aber ich habe weder Energie noch Lust, mit einer Russin und ein paar selbsternannten Spezialisten zu diskutieren. Es reicht mir, dass ich das am Dienstag wieder mit meiner weltpolitisch ebenso bewanderten Friseurin durchkauen muss. Die Russin ist außerdem Influencerin und hauptberuflich auf Kreuzfahrtschiffen unterwegs. Sie zeigt ein paar Videos von sich auf irgendeinem Schiff. Das beeindruckt die Umstehenden, man diskutiert Kreuzfahrten, die Russin hat Kontakte und kann Kreuzfahrten verbilligt anbieten, sie liest die zehn Namen der Unternehmen vor, für die sie arbeitet. Das interessiert die Dame hinter mir und zum Austausch der Telefonnummern rückt sie ein paar Plätze nach vorne und bleibt so plaudernd neben der Russin stehen. Ich lasse es zu, denn so finden die spannenden Gespräche vor mir statt und ich stehe nicht mehr mittendrin, während wir schrittchenweise vorrücken. Ich betrachte den Yacht-Alltag, ein junger Mann reinigt und weißelt per Hand zentimerterweise ein Schlauchboot, ich mache Fotos und schweige.

Plötzlich geht das “Gerücht” durch die Reihe, dass die 18 Uhr Vorstellung complet sei. Es gäbe nur noch Karten für die 14 Uhr Vorstellung. Ist mir egal, ich wollte sowieso Karten für die 14 Uhr Vorstellung. Wir kommen der Hafenmeisterei näher. Es gäbe nur noch 48 Karten heißt es plötzlich. 48?! Ich zähle die Köpfe vor mir. Etwa hundert. Aufregung in der Reihe. Ich werde auch aufgeregt, dass ich keine Karten bekommen könnte, hatte ich nicht bedacht. Wie soll ich das der Freundin sagen, die extra deswegen anreist, und der ich vollmundig Karten versprochen habe?

Exakt eine Stunde später stehe ich endllich auf den Stufen zur Hafenmeisterei.

Vor mir noch etwa fünfzehn bis zwanzig Personen. Schluss. Aus. Keine Karten mehr, heißt es jetzt. Es beginnt ein lautes Diskutieren an der Tür, die irgendwann mit Hilfe der Security geschlossen wird. Sofort stehen fünf Security Männer in schwarzen Anzügen vor der geschlossenen Tür. Es ist zwecklos. Ich bin fassungslos und so enttäuscht. Wäre es nur um mich gegangen, dann hätte ich gesagt, tant pis, na gut, dann eben nicht. Aber die Freundin! Wie soll ich ihr das sagen? Ich gehe zur Nervenstärkung erstmal ein Eis essen. Dann rufe ich die Freundin an, sie sitzt im Zug zum Flughafen. Sie IST enttäuscht. Sehr.

Wieder zuhause, rät mir die Familie, es anderntags mit einem Zettel “Suche Karten” zu versuchen. Der Rat, den ich ja auch immer gerne gebe, wenn man mich fragt, wie man hier an Karten kommen könnte. Das mache ich auch. Anderntags um 13 Uhr komme ich zum Palais des Festivals und die Schlange für den Einlass, der noch nicht begonnen hat, ist schon lang. Ich ziehe meinen Zettel aus der Tasche, atme einmal kurz durch und laufe freundlich lächelnd an der Schlang entlang. Bedauerndes Kopfschütteln hier, abweisende Blicke da. Aber dann zieht eine Dame eine Karte aus einem Umschlag. Eine hätte sie übrig! Super! Ich bin so froh, wenigstens die Freundin hätte ihre Karte! Und dann bekomme ich die zweite Karte zugesteckt! Boah! So schnell! Beide Karten im Balkon, wir werden nicht getrennt sein! Es gibt keine reservierten Plätze, aber wir können uns zwei Plätze zusammen suchen.

Vorausgesetzt die Freundin ist rechtzeitig da, denn sie sitzt in einem Vorort fest und es kommt kein Bus. Ich warte am Security-Check und sehe, wie hier noch manche(r) versucht, Karten loszuwerden. Denn ja, man nimmt samstags früh natürlich immer zwei Karten, aber dann erfährt man am Samstag Abend, welcher Film die Goldene Palme bekommen hat, auf den manch eine(r) dann keine Lust hat. Oder die Begleitperson hat keine Lust oder Zahnweh oder weiß der Kuckuck. Ich kann jetzt also aus eigener Erfahrung sagen, dass man, wenn man sich traut, nach Karten zu fragen, man mit ziemlicher Sicherheit auch eine bekommt oder gar zwei.

Und ja, die Freundin schafft es, wir liegen uns kurz in den Armen, dann stürmen wir die roten Stufen hinauf, genießen kurz den Blick, machen ein Selfie (nicht dokumentiert) und suchen uns einen Platz.

Der Film bekam wenig Applaus, auch mich hat er nicht komplett hingerissen. Er ist sehr laut, sehr schnell, “bodenständig” und linear erzählt, und die Dialoge bestehen fast nur aus dem Wort “fu**” in allen denkbaren Variationen. Aber ich finde ihn dennoch gut. Der Blick auf die Welt der Sexarbeit im amerikanischen Kino ist ein Verdienst. Die junge Schauspielerin Mikey Madison ist beeindruckend. Und bei allem Elend ist der Film auch komisch. Sean Baker hat seinen Film in seiner Dankesrede allen Sexarbeiterinnen früher, heute und zukünftig gewidmet. Das hat es in Cannes auch noch nicht gegeben.

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8 Responses to Anora – La Palme d’or 2024

  1. Anna sagt:

    Was für ein mitreißender Bericht über die Erfahrung, die begehrten Tickets für die Vorstellung von “Anora” zu ergattern! Trotz der Herausforderungen und der Spannung in der Warteschlange hast du am Ende erfolgreich Karten für dich und deine Freundin bekommen – das ist wirklich großartig! Deine Beschreibung des Films, der trotz seiner Kontroversen und ungewöhnlichen Handlung Momente der Komik und tiefgründige Einblicke bietet, macht mich neugierig darauf, ihn selbst zu sehen.

  2. Miriam sagt:

    Es hat wie immer Spass gemacht, Ihrem Bericht zu folgen. Danke!

  3. Marion sagt:

    Ich finde Deine persönlichen Geschichten der “normalen” Leute am Rande des Festivals fast interessanter als die gelackten, immer gleichen “Specials” in den Medien.
    Ich habe mal auf ähnliche Art eine Karte für ein Konzert von ZAZ ergattert, zu dem ich sehr spontan wollte. Ich habe einfach die Leute in der Schlange direkt gefragt (auch mit Überwindung) und tatsächlich eine (stark verbilligte) Karte ergattert. Mit der Frau, deren Freundin ausgefallen war, habe ich das Konzert genossen, das einfach umwerfend war 🥰.

    • dreher sagt:

      Vielen Dank Marion!
      Früher habe ich das viel öfter gemacht, zur Oper gefahren und geschaut, ob jemand günstige Tickets abzugeben hatte, oder auch an der Abendkasse gefragt, ob irgendwelche Karten nicht abgeholt worden seien – irgendwie verliert man diese Spontanität, ist so bequem auf dem Sofa … seufz …

  4. Claudia Pollmann sagt:

    Danke für den tollen Bericht – sehr befremdlich finde ich all die Influencer und
    No Name Promis aus dem Stall einer Heidi Klum die in der Berichterstattung über die Filmfestspiele in Deutschland auftauchen. Hat für mich nichts mit Film zu tun. Erinnert mich eher an Coachella 2024 als an ein Filmfestival.

    • dreher sagt:

      Danke dir Claudia! Ich krieg ja nicht mit, was in Deutschland von wem berichtet wird, kann sein, dass ich da ein wenig hinterm Mond bin – Coachella musste ich nämlich erst googeln *augenroll*