Über Männerliteratur, Buchmesse in Nizza und ein Restaurant

Bei Herrn B. habe ich heute morgen in aller Frühe über Austers letzten Roman “Baumgartner” gelesen und mir die kürzlich schon bei ihm verlinkte Literatursendung angesehen, in der sich vor allem Elke Heidenreich über das sentimentale Gejammer über das Älterwerden der Hauptfigur (Seymour Baumgartner) und vor allem über dessen pornographische Briefe, die er an seine verstorbene Frau schreibt, aufregt. Darf man Milde walten lassen bei einem letzten Roman eines gerade verstorbenen Autors? Nein, da sind sich zumindest drei der vier KritikerInnen einig. Drei Frauen und nur ein Mann übrigens, der den Roman aber auch nicht gut findet. Ich habe “Baumgartner” nicht gelesen und ich werde ihn, nachdem, was ich darüber gehört habe, sicherlich auch nicht lesen. Aber vielleicht wird man Auster auch nicht gerecht, wenn man nicht selbst ein gewisses Alter erreicht hat und unter den gleichen Zipperlein leidet und die gleichen Sehnsüchte hat. Aber wir müssen ja in der hohen Schule der Literaturkritik Autor und Werk trennen, und ein alter männlicher Autor muss doch ein frisches Werk über das Alter schreiben, wenn er ernst genommen werden will. Ein frisches Werk, das auch Mittvierziger und Frauen gerne lesen. Kann das funktionieren? Ich fürchte nein.

Es sei an dieser Stelle angemerkt, dass ich nach einigen (eher unglücklich verbrachten) Semestern Komparatistik, einem Studiengang, der sich mit den Gemeinsamkeiten und gegenseitigen Einflüssen der Literaturen der Welt beschäftigt, auch die (vielleicht sehr banale) Theorie vertrete, dass in jedem Kunstwerk (Buch, Film, darstellende Kunst) immer etwas vom Autor (oder der Autorin) steckt, selbst wenn es sich nicht explizit um Autofiktion handelt, wie zum Beispiel bei Annie Ernaux.

Das Älterwerden (vor allem) der anderen nervt einen, solange man jung ist. Ich habe seinerzeit aufgehört die Krimis von Henning Mankell zu lesen, weil er seinem alternden Helden Kurt Wallander, sowieso kein richtiger Sympathieträger, eine Diabetes verpasste, der dann immer pinkeln muss, auch im entscheidenden Moment den Täter nicht fassen kann, weil er, anstelle ihm hinterherzurennen, schon wieder so dringend hinter ein Auto pinkeln muss. Ich habs gehasst. Alte pinkelnde Männer, ich bitte Sie. Damals glaubte ich, Henning Mankell habe Diabetes bekommen und sie ebenso seinem Helden mitgegeben. Anscheinend war das nicht der Fall, wie ich eben in einem Interview gelesen habe, tut mir leid, ihn fälschlicherweise verdächtigt zu haben, Autor und Werk sind nicht immer eins, aber für mich war der Fall Wallander damit erledigt.

Georges Simenon hat ein Alterswerk verfasst, “Mes dictées”, das etwa zwanzig Bände umfasst; er hat in ein Diktiergerät gesprochen, was ihm so durch den Kopf ging: Alltag, seine Krankheiten und Operationen und unter anderem seine nachlassende Libido. Man muss wissen, dass Simenon zeitlebens ein sexuell sehr aktiver Mann war, 100.000 Frauen soll er gehabt haben, jeden Tag nicht nur eine, und seine Sekretärinnen waren auch alle zu diesem Zweck eingestellt worden. Monsieur, großer Fan von Simenon, hatte diese Bände erstanden und sie als jüngerer Mann (quer-)gelesen und für schlecht befunden. Keine Literatur, überhaupt nicht, aber auch sonst enttäuschend banal. Altmännergejammer. Belanglosigkeiten. Die Bände wurden in der Presse schlecht besprochen und vermutlich hat sie niemand jemals gelesen. Mit Mitte siebzig greift Monsieur noch einmal nach einem der Bände, und siehe da, die Altersweisheiten Simenons “haben jetzt was”. Plötzlich versteht man den alten Simenon, nickt mit Nachsicht, vielleicht fühlt man sich auch an der einen oder anderen Stelle getröstet. Aber banal ist es immer noch, findet Monsieur.

Heute waren wir auf der Buchmesse in Nizza. Festival du Livre, wie es richtig heißt. Courage, also Mut ist diesmal das Thema. Mut brauchte es auch von meiner Seite, um etwas, das Monsieur geschrieben hat, an die AutorInnen zu verteilen. Das war eigentlich der Grund, warum wir dort waren.

Es war schönstes Wetter und die Buchmesse findet in Nizza draußen statt, am Ende der sogenannten “coulée verte”, einem innerstädtischen Park, der sich über dem Flüsschen Paillon durch die Stadt schlängelt. Das haben sie gut hingekriegt in Nizza, das muss man sagen, dieser Park ist toll und wird so gut besucht, dass man sich fragt, wo all die Leute eigentlich vorher hingegangen sind. Die Buchmessestände stehen auf der anderen Seite der Place Massena, im Park Albert I, der bis zum Meer reicht.

Was für ein schöner Ort! Ich bin entzückt von dem wilden Durcheinander von Gräsern, Blumen und Bäumen.

Genauso entzückt bin ich von den schönen kleinen versteckten Plätzen, an denen später Interviews und Gespräche stattfinden werden.

Autorinnen und Autoren sitzen hinter einem Stapel ihrer Bücher und versuchen, diese an den Mann oder die Frau zu bringen. Manche der AutorInnen sind bekannter, andere weniger. Gleich am ersten Stand fragt mich ein Autor, ob ich mich für Krimis interessiere, ich lächle leicht und er fühlt sich ermutigt, mir seinen sechsten Krimi anzupreisen. Er sei Hochschullehrer gewesen und erst mit Mitte sechzig als Pensionär zum Schreiben gekommen, erzählt er mir in einem Atemzug mit dem Inhalt. Ich lese den Klappentext: Eine Serienmörderin, die ihre männlichen Opfer beim Liebesakt entmannt und erwürgt. Vorsichtig lege ich das Buch weg. Die Phantasien alter Männer dominieren heute.

Mit einem anderen (ebenfalls älteren) Krimiautor aber sympathisiere ich: Er schreibt historische Krimis, die im Mittelalter in Nizza und im Hinterland spielen, damals das Herzogtum Savoyen. Er ist erstaunt, dass ich die Orte und ihre Besonderheiten kenne (in Roure, einem kleinen Bergdorf, wo ich vor langer Zeit in einem Hotel als Zimmermädchen gearbeitet habe, gibt es zum Beispiel eine kleine Kapelle mit Fresken, die den Teufel darstellen). Dann kaufe ich ihm einen Krimi über die mittelalterliche Malerfamilie Bréa ab (in meinem Bergdorf hängt so ein Bréa in der Kirche!).

Später gehen Monsieur und ich Mittagessen in ein klitzekleines Restaurant, dass Anja und Aila von @rivierago kürzlich in einem ihrer Videos vorgestellt haben: La Merenda. Zwanzig Plätze gibt es. Keine Reservierung, keine Kreditkarten. Eine kleine Speisekarte mit typischen regionalen und saisonalen Gerichten: frittierte Zucchiniblüten als Vorspeise oder gefüllte Sardinen, Stockfisch, Daube (Rindfleischeintopf) oder Tripes (das sind Kutteln) als Hauptgericht. Zum Dessert tarte au citron, Mousse au chocolat oder Erdbeeren mit Rosé. Wir sind, neben dem Koch und Besitzer Dominique le Stanc, Ex-Sterne Koch des Negresco, und seinem Team, die einzigen Franzosen im Restaurant. Das ist ein bisschen bizarr, aber wundert auch nicht, denn, wenn das kleine Restaurant überall als Geheimtipp angepriesen wird, dann ist es irgendwann einfach keiner mehr. Weshalb ich mit meinen Tipps immer sehr zurückhaltend bin. Das Essen (Pissaladière, frittierte Zucchiniblüten, Pates Pistou, Tripes) ist sehr fein!

hier schon beim Nachtisch: tarte au citron

Die Teller hat ein Künstler für das Merenda geschaffen

und auf dem Klo hängt ein Kunstwerk von Schlote, der wie ich gegoogelt habe, früher in Nizza gelebt hat. Den kennen vermutlich nur noch so alte Boomer wie ich.

Wir sprechen beim Essen über Männer und Frauen und das Älterwerden. Vielleicht kann der letzte Roman von Paul Auster nur von einem älteren Mann gelesen und geschätzt werden. Und vielleicht sollte er auch konsequenterweise von einem älteren Mann übersetzt werden. Männerliteratur eben. :D

Schönes Wochenende!

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17 Responses to Über Männerliteratur, Buchmesse in Nizza und ein Restaurant

  1. Gabriele sagt:

    Wir haben kommenden Donnerstag um 18 Uhr eine Reservierung im La Merenda, wir freuen uns schon drauf und zu Recht, wie ich lese 😃. Gibt es die historischen Krimis auch in deutsch? Ich liebe solche Bücher 🤩. Liebe Grüße Gabi

    • dreher sagt:

      Absolut! Wart ihr nicht letztes Jahr schon einmal dort? Echt jetzt mit Reservierung?! Ich dachte, das ginge nicht. 18Uhr? So früh? Bist du sicher? Verwirrung total. Aber echt nett und lecker dort! Bon appétit !

      Nee, diese Krimis gibt es nicht in deutscher Sprache 🤷

      Liebe Grüße!

      • Gabriele sagt:

        Die Reservierung ist 19 Uhr, aber es ging. B. hat mir einen Screenshot geschickt ☺️. Ich frag sie mal, wie sie es gemacht hat und geb dir Bescheid ☺️☺️

        • dreher sagt:

          Merci ! Ist aber auch nicht so wichtig, wir sind einfach immer Punkt zwölf da, dann geht sicherlich noch was :D

  2. Pingback: Andere Jahre, später - Buddenbohm & Söhne

  3. Marion sagt:

    Elke Heidenreich, die ja jetzt auch schon 80 ist, hat gerade ein überhaupt nicht larmoyantes, geradezu erfrischendes Buch über das Älterwerden herausgebracht (“Altern”), das ich mir auf jeden Fall noch zulegen werde (aber ich liege mit meinen Buchtipps bei Dir ja leider nicht immer richtig 🙁). Simenon mag ich auch (das bisschen, was ich kenne), trotz dieser krassen Sexsucht, von der ich erst später beim Recherchieren erfuhr. Schlote, Mensch das ist echt lange her, seufz. Viel Spaß mit dem Krimi aus Deiner Region, hört sich interessant an.

    • dreher sagt:

      Naja, Elke Heidenreich hat es bei mir so ein bisschen verk*** als sie über die “Kopftuchmädchen” sprach, die nicht lesen (oder so ähnlich, aus dem Kopf zitiert, aber ich fand sie ziemlich unsäglich). Da dachte ich, da redet eine “alte weiße Frau”.
      Bin nicht sicher, ob ich über ihr Altern was wissen will.

      Dennoch danke für den Hinweis. Immer gut auf dem laufenden zu sein 😁

  4. Kathrin sagt:

    Bonjour, das mit den Büchern von alten Männern unterschreibe ich( 62 ) sofort. Den oftmals sehr sehr sehr bedächtigen Schreibstil gespickt mit Sexinfos und detailverliebten Beschreibungen junger Frauen finde ich schrecklich, fast widerlich.Brrrrr…
    So lustig, dass ich mit meiner Meinung nicht alleine bin. Die stets sehr forsche Elke Heidenreich ist auch nicht meins bis auf ihr niedlich illustriertes Buch über Pinguine , die im ewigen Eis ein Opernhaus besuchen.

    • dreher sagt:

      Danke Karin!
      Ich (61), und dank des Gatten (70+) zeitweise von vielen älteren Herren umgeben, glaube wirklich, dass das Nachlassen der Libido die Herren verstört, insbesondere die ehemals sehr sexuell aktiven Männer, weshalb sie sich in diesen Themen und dem Betrachten junger Frauen verlieren. Das können wir als Frauen nicht wirklich verstehen, denke ich.

      “Am Südpol denkt man ist es heiß” ist in der Tat nett!

  5. Claudia Pollmann sagt:

    Was für ein wunderbarer Artikel. Du sprichst mir aus der Seele. Eigentlich mag ich Elke Heidenreich und ihre Bücher ganz gern aber je älter ich werden lese ich wirklich nur noch Bücher die mich interessieren. Und das sind eher selten Werk von Bestsellerlisten. Da merke ich mein Alter – ich muss mich literarisch nicht mehr verbiegen. Da merke ich das ich dieses Jahr 55 werde. Ich verbiege mich immer weniger. Bleibe höfflich – muss aber privat nicht mehr allen und jedem gefallen. Das finde ich ziemlich gut.
    Ich komme noch aus einer Generation so man sich als junge Frau gegen genau diese frustrierten alten Männer wehren musste. Welche Übergriffe da stattgefunden haben wird mir erst jetzt wirklich bewusst. Ich hab da anscheinend wirklich viel verdrängt.
    Grüße Claudia

    • dreher sagt:

      Danke liebe Claudia!
      Mir öffnet gerade das Buch von Nicole Seifert “Die Schriftstellerinnen der Gruppe 47” sehr die Augen über die männliche Dominanz der “frühen” und weniger frühen Bundesrepublik, die wir als “normal” verinnerlicht haben. Und das war die sogenannte “junge” Generation der “Stunde Null”. Über die alten Männer zu dieser Zeit wollen wir gar nicht reden.

      • Claudia Pollmann sagt:

        Oh das Buch muss ich unbedingt lesen. Da die Gruppe 47 ja ihr ersten Treffen im Allgäu bei Ilse Aichinger hatten und in Günter Grass das erste mal in Grossholzleute aus der Blechtrommel laß und hier auch Marcel Reich-Ranicki kennenlernte. Der Saal wo die Veranstaltung statt fand ist noch komplett im Original erhalten.
        Aber das ich gewisse übergriffe erlebt und als normal verinnerlicht habe schockiert mich immer mehr. Und auch meine Freundinnen reflektieren das immer mehr.
        Meine Mutter 1935 geboren hat mir erzählt das es in den 50er Jahre normal war einfach angefasst zu werden. Ob in der Bahn oder im Kino. Wenn man sich wehrte galt man als zickig. Daher haben Frauen oft früh geheiratet – der Ehering schreckte da ab.
        Grüße Claudia

        • dreher sagt:

          Ja, an diesem Thema habe ich mich auch schon abgearbeitet! Vieles wird einem erst viel später klar… 😔

  6. Reiner Wadel sagt:

    Mir läuft immer wieder das Wasser im Mund zusammen, wenn ich ihre Restaurant-Berichte lese. Aber was mache ich in Frankreich, wenn ich mit einer Vegetarierin als Lebensgefährtin essen gehen will? Nur Crêperie bzw.Pizzeria? :-(

    • dreher sagt:

      Ach nein, in der Zwischenzeit gibt es doch (zumindest in touristischeren Orten) immer etwas Vegetarisches auf der Speisekarte. Vegan ist schon schwieriger. In besagtem Restaurant waren mir die Fleischgerichte zu deftig, also aß ich frittierte Zucchinblüten als Entrée und einen Teller frische grüne Nudeln mit frischem Pesto! Und als Dessert Zitronentarte.
      Man muss einfach vorher auf die Karte schauen, in meinem Fall habe ich zwei Vorspeisen kombiniert.
      Viel Erfolg!

  7. Ulla sagt:

    Genau weiß ich es gar nicht mehr, aber wir haben den Geheimtipp schon vor 10 oder 15 Jahren besucht.Essen war gut, man saß aber wahnsinnig eng.