Oktober

Das Wetter heute: heiter bis Hagel

Ich bin umzingelt vom Oktoberfest. War das schon immer so und fällt es mir nur dieses Jahr verstärkt auf? Als ich 1999 für ein knappes Jahr in München lebte und arbeitete, galt das Oktoberfest (zumindest in meinen Kreisen) noch als spießig-reaktionäres Riesenbesäufnis älterer Herrschaften. Ich habe damals die Theresienwiese weiträumig gemieden und über das Gedränge der folkloristisch gekleideten Touristen in der U-Bahn gestöhnt. In diesem Jahr sehe ich auf Instagram viele junge Leute, die sich stolz in Dirndl und Lederhosen werfen und mit Freunden gleich mehrfach die Wiesn besuchen. Ich war bis heute noch nicht dort. Vielleicht habe ich etwas verpasst?

Herbstzeitlose vor dem Cime de Pal

Heute ist der Tag der Deutschen Einheit, passend zum Thema habe ich “Adam und Evelyn” (von Ingo Schulze) zu Ende gelesen – es ist mir ein Rätsel, wie man aus diesem dialoglastigen Buch einen so stillen Film machen konnte. Es ist zunächst ein leichtes Buch, es erinnerte mich anfangs stellenweise an Tucholskys Sommerliebesroman “Schloss Gripsholm”, und doch bekommt es einen schwereren Ton, denn die Paare aus West und Ost, die sich da im Sommer 1989 in Ungarn scheinbar leicht und unbeschwert verlieben, trennen und wiederfinden, wollen nicht nur Urlaub machen, sondern vielleicht auch in den Westen, es gibt das Gerücht, dass Ungarn die Grenzen nach Österreich öffnet; Für Adam, Evelyn, Katja und Mona aus dem Osten geht es bei dieser Entscheidung um ihre Existenz. Deshalb überlegt Evelyn länger und lässt ihren Westler schließlich allein in den Westen fahren. Der versteht das nicht, was gibt es da noch zu überlegen, das bessere und freie Leben ist im Westen, hallo, da kann man nach New York! Und nach Rio, da kann man sogar im Winter baden! Und da sein Urlaub zu Ende ist, er wieder arbeiten MUSS (“aber das versteht ihr nicht, dass man arbeiten muss”), rauscht er beleidigt ab. Mona dagegen fährt zurück in die DDR, und Adam will auch nicht weg, er hat im Osten alles, was er will und braucht, sein Elternhaus, seinen Garten, sein Atelier und jede Menge Kundinnen, die ihn anhimmeln. Aber Evelyn hat sich nun entschieden, und für Evelyn fährt Adam überall hin, auch in den Westen, und dort wohnen sie zunächst bei seinen etwas spießigen Westverwandten. Kompliziert wird es, als Evelyn merkt, dass sie schwanger ist. Von Adam oder doch von dem Westler? Adam ist wütend und fährt zurück in den Osten, findet aber sein Elternhaus verwüstet vor, alles Wertvolle ist gestohlen, sogar die Mischbatterie in der Küche, und sein Fahrrad findet er beim Nachbarn. Ein Weiterleben dort ist unmöglich geworden, er kehrt in den Westen und zu Evelyn zurück, aber er ist deprimiert, und die Forderung seiner Westverwandten, er solle sich jetzt nicht hängen lassen, sondern bitte mal richtig arbeiten, wie zum Beispiel Flaschen im Supermarkt annehmen, stößt ihm bitter auf. Auch ein Praktikum bei einem persischen Änderungsschneider ist nicht nach seinem Geschmack. Er ist Mitte dreißig, hat im Osten alles gehabt, und jetzt soll er im Westen wieder ganz unten anfangen? Für die erst einundzwanzigjährige Evelyn erweist sich der Weg in den Westen als die richtige Entscheidung, sie wird Kunstgeschichte und Romanistik studieren, sie freut sich auf das Studium und darauf, von nun an Geld zu haben, mit dem man sich alles leisten kann, sogar teure Schweizer Schokolade, und bald werden sie in einer schicken WG zusammenwohnen: “Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie ich das alles hier genieße”, sagt Evelyn zu ihrer zukünftigen Mitbewohnerin, während Adam im Garten Fotos von früher verbrennt.

In der Ausnahmesituation jenes Spätsommers 1989, dem Schwebezustand plötzlicher Wahlfreiheit, entdeckt Ingo Schulze die menschliche Urgeschichte von Verbot und Verlockung, Liebe und Erkenntnis und nicht zuletzt der Sehnsucht nach dem Paradies. Doch wo ist das zu finden? In der Verheißung des Westens, der Ungebundenheit eines endlosen Feriensommers am Plattensee oder doch im vertrauten Amtsstubenduft einer frisch geöffneten Brotkapsel und dem eigenen Garten?

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Eine lesenswerte Lektüre, wenn man ein Gefühl für die Ost-Seite (nicht nur) in diesem Sommer 1989 bekommen will.

Wir sind immer noch in den Bergen, heute waren zwei Handwerker da (hier ist ja kein Feiertag) und morgen kommen sie wieder, andere Handwerker kommen, so ist es zumindest geplant, nächste Woche. Oh, wie schön, wenn all die Arbeiten, die schon vor Monaten begonnen wurden, endlich zu Ende gehen!

Gestern waren wir im Oberdorf, auch da wurde (mit schwerem Gerät) gearbeitet, denn die Stromleitungen im Dorf werden jetzt unterirdisch verlegt, und dafür reißen sie die gepflasterte Dorfstraße auf, und um an den schwer zugänglichen oberen Teil zu kommen, haben sie Trassen über die steile Wiese gezogen. Im Moment sieht es etwas verwüstet aus. Aber all die Stromleitungen, die bei jedem Foto immer im Bild waren, werden verschwinden, ich habe sie ein letztes Mal dokumentiert.

Dort oben waren die Hirsche auch am hellichten Tag zu hören. Es ist so laut und beeindruckend! Zu sehen allerdings gab es nichts. Die Tiere verstecken sich in den kleinen Wäldchen auf der gegenübenliegenden Bergseite und kommen erst gegen Abend auf die freien Flächen, um sich dort mit den anderen Hirschen zu messen und unter Umständen zu kämpfen. Um sie zu sehen, braucht man ein sehr starkes Fernglas oder eine Kamera mit riesigem Zoom, so etwa wie hier in dem Film.

Die Jagdsaison hat im Übrigen auch begonnen, es empfiehlt sich, vor allem am Wochenende und mittwochs (die hier genehmigten Jagdtage) nicht nur wegen der Hirsche nicht im Wald spazieren zu gehen, oder wenn, dann unbedingt mit einer bunten Jacke bekleidet und machen Sie ruhig etwas Lärm, damit man Sie nicht für ein im Unterholz herumwühlendes Wildschwein hält, nur weil Sie sich gerade nach einem Pilz bücken. Lachen Sie nicht, es gibt jedes Jahr Jagdunfälle. Ich hab Sie gewarnt!

Auf den Wiesen blühen die Herbstzeitlosen und im Garten des Sommerhauses verausgaben sich die letzten Stockrosen, während sie von eifrigen Hummeln besucht werden. Dazwischen brummte ein schwarzblau schimmerndes Fluginsekt, das ich erst googeln musste – fast so groß wie ein Maikäfer, nein, keine Hornisse, die Blauschwarze Holzbiene ist es, eine solitär lebende Biene, sie wurde 2024 zur Wildbiene des Jahres gekürt. Und wir haben eine im Garten!

Ein Lied zum Oktober von Francis Cabrel, zu dem ich durch Hilke Maunders Newsletter inspiriert wurde. Merci Hilke!

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18 Responses to Oktober

  1. sunni sagt:

    Danke für den Text zum Tag der deutschen Einheit/Buch! Schwierig, immer. Aber ich habe gestern zum 35. Mal mit meinem befreundeten Ehepaar in Hessen telefoniert und wir haben uns so gefreut über 35 Jahre, in denen wir uns nie fremd waren und uns immer an diesem Tag gesprochen oder getroffen haben…Leider fehlt nun einer von uns vier Personen.
    Ihr Bericht aus den Bergen tröstet mich etwas. Hier ist es grau, nasskalt, traurig und einsam und kein kleines Stückchen besser. Vielleicht erwarte ich zu viel nach 5 Monaten. Liebe Grüße in die französischen Berge! Sunni

    • dreher sagt:

      Ach, liebe Sunni – was soll ich sagen, fünf Monate sind ja gar nichts, gemessen an den langen Jahren des gemeinsamen Lebens. Mein Trauerjahr war ein reines Überleben und Funktionieren, viele Tränen, viel Einsamkeit. Es wird leichter nach dem ersten Jahr, wenn man einmal all die besonders schweren Tage (Geburtstag, Hochzeitstag, Weihnachten …) alleine überstanden hat. Aber natürlich fehlt der geliebte Mensch trotzdem weiterhin. Diesen Schmerz kann einem auch niemand abnehmen. Wir haben in diesem und dem vergangenen Jahr viele Todesfälle im Freundes- und Familienkreis erlebt – immer blieben die Frauen zurück. Es ist sehr traurig. Von Herzen alles Liebe zu Ihnen!

  2. Pingback: Oktober, fortschreitend - Buddenbohm & Söhne

  3. Karin Penteker sagt:

    Hallo liebe Christiane, danke für die schönen Bilder! Nur kurz etwas zum Oktoberfest. Ich habe ja selbst lange Jahre in München gelebt bevor ich nach Genf kam. Erst kurz vor meinem Weggang wurde es nach und nach beliebter bei der Jugend auf die Wiesn zu gehen. Heutzutage ist es scheint mir ein Muss. Dirndl und Lederhose bekommt man bei jedem Fast Fashion Shop (Gott sei Dank ist die Zeit der schreiend grünen und roten Minidirndl mit Riesendecolleté vorbei, mittlerweile trägt man gedecktere Farben und tatsächlich auch mehr Stoff, das sieht fast traditionell aus) und die Touristen kaufen eine Polyesterversion zum vermutlich danach wegwerfen. Ich war das letzte Wochenende wegen einer Familienfeier in München und war echt erschlagen von den Menschenmassen. Gefühlt waren mindestens Dreiviertel der Wiesnbesucher in irgendeiner Art von Tracht und sie kamen aus aller Welt. Das später auch am Flughafen zu merken. Ich hab mir den “Spass” im Vorbeigehen und von aussen angesehen, es gibt ja sehr strenge Zutrittskontrollen und meine Umhängetasche war zu gross, andernfalls wäre ich schon ganz gern nachmittags bei strahlendem Sonnenschein gemütlich über die Wiesn gebummelt. Obwohl, bei den Abertausenden von Besuchern wäre es nicht ganz so gemütlich geworden. Mir hat’s früher besser gefallen, als es noch nicht so überlaufen war. Aber für die Stadt ist das Oktoberfest natürlich ein ganz wichtiger wirtschaftlicher Faktor.

    • dreher sagt:

      Liebe Karin, danke für deinen Eindruck aus München! Und klar ist es ein wirtschaftlicher Faktor für die Stadt. Ich fand es allerdings schon vor 25 Jahren wahnsinnig voll in der Stadt zu Oktoberfestzeiten – wie muss es heute erst sein?

  4. Marion sagt:

    Oktoberfeste grassieren deutschlandweit gefühlt in jedem Dorf. Es nervt, aber ich geh’ eh nicht hin. Gestern kam im TV eine Miniserie über das Wirken und Sterben von A. Herrhausen, dem Banker. Deshalb am 3.10. wegen seines Mitwirkens am Fall des eisernen Vorhangs (durch die Zusammenarbeit mit Gorbatschow und Kohl, vor allem durch die Vergabe von Krediten). Wusste ich so auch noch nicht. An den Anschlag auf ihn im Nov. ’89 konnte ich mich aber sehr gut erinnern. Um Deine Naturerlebnisse beneide ich Dich. Hoffe, Du kannst die Zeit ein bisschen nutzen, um an die frische Luft zu kommen. Die Hirsche sind einfach toll. Und schön, dass es F. Cabrel immer noch gibt (gehört zum Soundtrack meiner erwachenden Frankreich-Liebe damals).

    • dreher sagt:

      Die Miniserie über A. Herrhausen hört sich interessant an. welcher Sender? Arte?
      Danke, wir waren schon wieder Pilze sammeln, das ist echt nett, dass man einfach von der Haustür ab ins Grüne kann. Jetzt regnet es aber.
      Ich habe lange gebraucht, bis ich Cabrel wirklich mochte, ich finde seine Stimme nicht so toll und die Songs nicht so eingängig, aber jetzt mag ich genau das und auch seine gewisse Schüchternheit und Bescheidenheit.

  5. Marion sagt:

    ARD Mediathek!
    Ich finde Cabrel schon eingängig und auch kitschig, aber ich verbinde viele Erinnerungen mit dieser Musik und sie berührt mich. Ich finde es auch gut, dass er so bodenständig geblieben ist.

  6. Marion sagt:

    Ach so, noch was ganz anderes: es kommt gerade ein Film ins Kino über Element of Crime! Ich dachte gleich an Dich 😊.

    • dreher sagt:

      Merci! Ich habe irgendwo was davon zu sehen gekriegt, und war auch schon ganz begeistert, aber ich fürchte, EOC ist so deutsch, der Film kommt sicherlich nicht in die französischen Kinos ‘schnüff’

  7. Croco sagt:

    Diese Menschenmassen machen mir Angst, sei es auf dem Oktoberfest, sei es beim rheinischen Karneval. Als Kind war ich auf dem Cannstatter Wasen und der zugehörigen landwirtschaftlichen Ausstellung. Die war schön, frisch geschlüpfte Küken, Aquarien mit Rheinfischen, große Schlepper und kleine Schweinchen. Ich war entzückt.
    Auf dem Wasen gab es halt Rummel, gebrannte Mandeln und einen Platz auf einer Bierbank mit ziemlich lauter Musik. Ich habe mich da sehr unwohl gefühlt. Seither bin ich nie wieder auf einem großen Volksfest gewesen.

    • dreher sagt:

      Menschenmassen, insbesondere alkoholisierte, kann ich auch nicht gut ab, und Volksfeste dieser Art meide ich generell. Zum Kölner Karneval habe ich seinerzeit aber hingefunden, könnte ich heute auch nicht mehr, fürchte ich.

      • Croco sagt:

        Wenn Du mal wieder hinkommst: der Geisterzug und der Vedeelszoch der Schulklassen sind noch nett, Rosenmontag und Altweiber die Hölle.

        • dreher sagt:

          Werde ich beherzigen, so ich jemals zu Karnevalszeiten wieder dort sein sollte! Zu meiner Zeit war Weiberfastnacht in der Südstadt noch ziemlich toll!