Fast gleichzeitig mit der Buchmesse in Frankfurt findet seit 25 Jahren in Mouans-Sartoux während drei Tagen ein Salon du Livre statt, eine kleine, für die Region aber bedeutende Buchmesse. Vor drei Jahren war ich dort zum ersten Mal, nachdem ich fünf Jahre fern von jedem literarischen Schaulaufen gelebt hatte…
Ich war begeistert. Zunächst auch enttäuscht. Alles war so klein, so überschaubar. Gemessen an der Frankfurter Messe, mit der ich groß geworden bin, passte das ganze Geschehen in einen Fingerhut: Zwei klitzekleine Hallen, zwei Zelte, ein paar Bouquinisten. Aber auch ein begleitendes Kulturprogramm mit Lesungen, Diskussionen und Filmen. Buchmesse in Frankreich ist anders als in Deutschland. Hier darf und soll gekauft werden. Die Autoren sitzen dazu quasi zum Anfassen an kleinen Tischen hinter Stapeln ihrer Büchern und warten auf das Gespräch mit den Lesern. Manchmal warten sie auch nicht, sondern sprechen den vorbeieilenden potenziellen Leser an. Mir war das fremd, dass man hier so direkt mit den Autoren sprechen darf, soll geradezu. Im ersten Jahr kam ich so zu einem spannenden Cannes-Krimi.
Die Autoren signieren ihre Bücher im Akkord, die Zeichner der BD’s/Comics zeichnen schwungvolle Widmungen und die Bilderbuchautoren malen liebevollst Bildchen für ihre kleinen Leser in die Bilderbücher. Berühmte Menschen sitzen neben weniger berühmten oder auch ganz unbekannten. Bei manchen Autoren ist die Schlange lang, bei manchen steht gar niemand. Das alles bei schönstem Spätsommerwetter flanierend zu entdecken hat mir gefallen.
Die Buchmesse in Mouans-Sartoux gehört für mich nun zum Pflichtprogramm. Aber schon letztes Jahr war ich weniger begeistert, dieses Jahr ein bisschen angestrengt. Die Messe in Mouans-Sartoux würde in Deutschland vielleicht als “alternative” Buchmesse bezeichnet werden. Die Themen, denen die Messe alljährlich unterliegt, sind allesamt “links”: Ökologie, Gleichberechtigung, Umgang mit Migranten… was an der durchweg rechts-konservativen Cote d’Azur nicht ganz so gut kommt. Mouans-Sartoux ist eine links-grüne Enklave im rechten Südfrankreich und wird dementsprechend verehrt oder abgelehnt, je nachdem… Damit kommen automatisch immer die gleichen Menschen, und es bleiben immer die gleichen (konservativen und vermutlich kaufkräftigeren) Menschen weg. Die ausstellenden Verlage sind auch alljährlich fast identisch: kleine Verlage der Region, die in der Regel immer ihr gesamtes Programm anpreisen: Regionalia, provencalische Kochbücher, zum x-ten Mal Lavendel, selbst verlegte Erinnerungen, ein bisschen Kunst, ein paar Poeten. Am spannendsten finde ich immer noch die Stände der Bouquinisten.
Dieses Jahr war das Thema der Messe: Algerien. Es sei “ein weniger düsteres Thema” als die vergangenen Jahre steht dazu in der begleitenden Broschüre, das finde ich ja nun nicht gerade. Die Wunden der Algerier, der vertriebenen Pied-Noirs und der Harkis im Krieg um die Unabhängigkeit der ehemaligen französischen Kolonie sind noch immer nicht verheilt. In Mouans-Sartoux wird den Harkis (arabische Militärs, die im Algerienkrieg für die Französische Republik gekämpft haben) und ihrem Schicksal viel Raum gegeben. Eine Fotoausstellung zeigt in welchen zusammengezimmerten Elendsvierteln die Familien der Harkis lange als “unerwünschte” Menschen in Frankreich hausten. Natürlich ist ein Maximum an Literatur zu diesem Thema aufgefahren worden. Harkis erinnern sich. Pied noirs erinnern sich. Militärs erinnern sich. Fotobildbände von Algerien, wie es mal war. Es war so schön. War es so? In dieser Geschichte, die noch lange nicht aufgearbeitet ist, gibt es (aus meiner Sicht) keine nur Guten oder nur Bösen. Dennoch warten beide Seiten beharrlich darauf, dass sich die jeweils andere entschuldigt…
Nun, mit der nicht aufgearbeiteten Kolonialgeschichte Frankreichs massiv konfrontiert zu werden, ist wenig amüsant. Ich bin absolut der Ansicht, dass da noch verdammt viel zu leisten ist, aber es ist eben nicht meine Geschichte. Aber auch die war vertreten, keine Sorge, vor allem die Bouquinisten haben alles aufgeboten, was es zum Ersten oder zum Zweite Weltkrieg noch gibt, und ich konnte meine Sammlung an düsteren BD’s zum Thema Judenverfolgung noch ergänzen…
Ein bisschen anstrengend ist es auch, dass die Vorträge und Diskussionen zu allen Themen über Lautsprecher auf die Straße übertragen werden. Das mag prima sein, für die, die es interessiert, und die drin keinen Platz mehr bekommen haben, aber alle anderen bekommen die langen Tiraden der sich erinnernden Pieds-noirs auch aufgedrückt, ebenso wie den strengen Vortrag einer militanten Vegetarierin.
Gefallen hat mir jedoch wiederholt die Produktion des Verlages édition images plurielles aus Marseille, über die ich an anderer Stelle bereits geschrieben habe. Hängen geblieben bin ich an dem kleinen schlichten Stand des Verlages wegen der beeindruckenden schwarz-weiß Photographien, die mich magisch angezogen haben. Auch wenn der Hauptteil der Veröffentlichungen dieses Verlags (natürlich auch) schwierige Themen anspricht: Photo-Reportagen über Industrie-Ruinen, vergessene Menschen, soziale Randgruppen, das Schicksal von Kindern. Der Schwerpunkt des Blicks liegt dabei in und um Marseille.
Den Photo-Bildbänden gingen in der Regel Ausstellungen voraus, was die hohe Qualität der Abbildungen erklärt. Die Bücher sind geschmackvoll und ansprechend gestaltet, schönes Papier, schöne Typographie, schlichtes Design.
Besonders mochte ich den schmalen Photo-Band Comme un Vol des Moineaux (“Wie ein Spatzenschwarm”), der aus einem Projekt mit Kindern der Cité Montgrand (einem Elendsviertel) in Marseille entstanden ist : ein Jahr lang photographierten, zeichneten und beschrieben Kinder ihre Umgebung und das, was Ihnen in ihrem Viertel und in ihrem Leben wichtig ist. Kinderblicke, Blicke im wahrsten Sinn des Wortes von unten auf Lieblingsorte, Lieblingsspiele und Lieblingsmenschen: ein Hinterhof, ein Hund, eine Maus, ein Ball, stillende Mütter, stolze große Brüder und kleine Freunde.
Daneben stehen Texte, Liebeserklärungen der Kinder, die genau so berühren: sie lieben den Blick aus dem Fenster, die kleine Mauer, die singenden Vögel und sie träumen sich in den Himmel, der voller Schildkröten und Kaninchen ist. Das Buch wird ergänzt von kleinen Kinderzeichungen, verlorene Kritzeleien, die man schon genau betrachten muss, um Blumen, Vögel, Segelschiffe oder einen fabulierenden Onkel zu erkennen. Mich hat besonders berührt, dass eines der Kinder als Lieblingsort ein Stück Mauer des Fußballstadions genannt hat. Ein Stück triste graue Betonmauer ist ein Lieblingsort. Weil die Mauer Schutz gibt? Weil man raufklettern kann und von dort den Blick auf das Stadion hat?
Mir gefällt das Projekt, Kinder frei erzählen und photographieren zu lassen, ich hoffe, es gibt Nachfolgeprojekte dieser Art für die Kinder und langfristig – vielleicht – auch Veränderung in den Cités.
Dieses Jahr habe ich dort einen Bildband zweier italienischer Fotografen erstanden, die seit 1994 Menschen an diversen Stränden porträtiert haben. Sie waren in Rimini und in Nizza, aber auch in Rumänien oder in Finnland. Kein Glamour, aber intensive, ungewöhnliche Blicke in Schwarz und Weiss. Magnifique!
Algerien ist dieses Jahr ganz groß “dran”, weil die Unabhängigkeit 50 Jahre alt wird. Daß die Aufarbeitung schon zu Lebzeiten der Beteiligten beginnt, ist – gerade für Frankreich – eigentlich ein sehr hoffnungsvolles Zeichen. Auch wenn es für uns Unbeteiligte und Nachgeborene ziemlich nervig ist.
richtig! hatte ich gar nicht so auf dem Schirm das 50jährige, obwohl ich (ehemals mit einem pied noir verheiratet) mich ja auch seit ein paar Jahren mit dem Algerien-Krieg etc. beschäftige. Ich bin (als Außenstehende) immer nur erschüttert, wie wenig Bewegung bei den Betroffenen zu spüren ist, da ist nur so viel Hass und Verhärtung, oder Indifferenz bei den Kontinentalfranzosen. Aber stimmt schon, es wird immerhin schon darüber geredet, ganz vorsichtig kommt da was in Gang – die Aufarbeitung der Geschichte des 2. WK’s lässt ja noch auf sich warten. Waren ja alle im Widerstand, die Franzosen…
Pascaline, meine Pariser Kommilitonin, sagte mal so treffend: “Les Collabos étaient tous impuissants ou infertiles – car la France entière descend des Résistants…”
Ich kann mir vorstellen, daß in Südfrankreich der Algerienkrieg auch – gerade wegen der Präsenz der Pieds-Noirs – noch mal ganz anders bedacht wird als in Lothringen, wo ich die letzten Jahre ansässig war. Die Saintonge entdecke ich diesbezüglich gerade erst. Umgekehrt hat Lothringen natürlcih ein paar Monate Vorsprung, was die Erfahrung der Besatzung angeht.
Hier gibts übrigens bzgl. 2. Weltkrieg noch ein besonderes Paradoxon: die Saintongeais waren nie besondere Freunde der Engländer (heißt es), und das seit den Zeiten der Eleonore von Aquitanien. Und 1945 haben die Engländer Royan und Umland in Schutt und Asche gelegt, um die deutschen Soldaten aus den Bunkern zu treiben, die die Gironde-Mündung kontrollierten. Hat seinen Zweck verfehlt. Aber die Einheimischen sind hin- und hergerissen, wem sie die Zerstörung ihrer Heimat nun anlasten, den Deutschen oder den Engländern… deshalb wurde neulich ein riesiges Fest veranstaltet zu Ehren einer britischen Flugzeugbesatzung (die waren halb so alt wie ich…), die ihren angeschossenen Vogel nicht mitten im Ortskern, sondern etwas abseits auf einem Acker zur Bruchlandung gebracht haben – weshalb sie nicht mehr aussteigen konnten und elend verbrannten. Ja, es ist eine Art Heldentum, aber muß dafür gleich ein Minister und ein Botschafter anreisen, 68 Jahre nach dem Ereignis? Antwort: muß. Es geht ja um Engländer.
Ups, ich schweife ab.