Ich wollte den Eintrag eigentlich “Der Müll, die Stadt und das Festival” nennen, frei nach Fassbinder, aber ich habe weder Stadt noch Festival zu bieten. Ich komme einfach nicht hin. Auf der Mülldeponie war ich immerhin gestern. Ich musste das Auto vom Müll befreien, weil wir heute jemanden am Flughafen abgeholt haben und drei Sitze brauchten.
Ich bettelte Monsieur also gestern um eine Prokuration an, er amüsierte sich prächtig, dass er seiner Frau eine Vollmacht zum Müll wegbringen schreiben durfte. In der Zwischenzeit hatte ich die Zugangskarte aktualisiert, man musste im Prinzip nur nachweisen, dass man noch dort wohnte, wo man vor Jahren bei der Ausstellung der Karte angegeben hatte.
Gestern Nachmittag fuhr ich also wieder ans andere Ende der Stadt, bewaffnet mit Zugangskarte, Prokuration und meiner eigenen Carte d’identité. Und was passierte? Nichts! Ich drückte die Zugangskarte auf das entsprechende Feld und die Schranke öffnete sich wie von Zauberhand, niemand wollte etwas von mir wissen. Ich war kurz davor, auszusteigen und die Herren am Eingang aufzufordern, dass sie meine Vollmacht gefälligst scannen, damit ich sie nicht jedes Mal mitnehmen muss. Aber dann habe ich es gelassen und bin einfach zu den Containern hochgefahren. Die Herren dort waren wie immer freundlich und haben mir die richtigen Container gezeigt, aber getragen und entsorgt habe ich alles selbst. Und das war’s!
Ich habe auf dem Rückweg noch in einem Supermarkt eingekauft, der dort in der Nähe liegt, denn bis dahin kommen die wenigsten Festivaliers. In der Innenstadt, und das ist einzige, was ich derzeit über die Stadt zu Zeiten des Festivals sage kann: in der Stadt sind die kleinen Supermärkte leergekauft. Gähnende Leere in den Regalen: Kaffee, Klopapier, Mineralwasser – weg.
Am Montag, als wir unterwegs waren, erblickte ich die Nachricht, dass Alice Munro gestorben war, aber ich war voll mit dem Unterwegssein, und dann hatten wir knapp zwei Tage lang kein Internet und somit auch kein Fernsehen und auch nur ein schwaches Mobilfunknetz, da verliert man schnell den Anschluss an die Tagesaktualität. Wir sind dann abends in ein kleines Stadtteilkino gegangen und haben ein Kino für uns alleine gehabt und “L’homme aux mille visages” gesehen.
Ein Dokumentarfilm über einen Mann, der unter vielen Identitäten und mit vielen Frauen gleichzeitig lebt(e). Interessant und verstörend. Als wir zurück kamen, gab es in unserem Viertel keine Straßenbeleuchtung mehr. Auch verstörend, wie finster unser Viertel ist. Alice Munro war mir bei alledem wieder entfallen. Herr Buddenbohm erwähnte sie heute, vor allem erwähnte er, wie wenige Menschen sich zu ihrem Tod geäußert hätten, im Vergleich zu Paul Auster. Das trifft mich, denn obwohl ich spät zu ihren Kurzgeschichten gefunden und bei weitem nicht alles von ihr gelesen habe, ist sie meine Heldin!
Als sie den Nobelpreis bekommen hat, habe ich ein bisschen über sie gelesen und bin dabei auf dieses Interview gestoßen, das lange vor dem Nobelpreis geführt wurde. Ich habe es gerade noch einmal gelesen und fand und finde sie darin immer noch so sympathisch! Das war auch der Grund, warum ich mir ihre Kurzgeschichten gekauft habe! Ich bin dann nicht sehr weit gekommen, weil ich die Personen in ihren Kurzgeschichten so spannend fand, dass ich gerne mehr über sie und ihre Geschichte erfahren hätte und sie nicht schon nach zwanzig Seiten wieder verlassen wollte.
ZEIT: Woher rührt Ihre Liebe zur kurzen Form?
Munro: Als ich zu schreiben begann, in den Fünfzigern, war ich wie alle Frauen damals eine Hausfrau, ich hatte kleine Kinder, mein Mann arbeitete außer Haus. Ich hatte schlicht zu wenig Zeit für das Schreiben, keine Zeit für große Würfe. Zur Kurzgeschichte fand ich also aus sehr praktischen Gründen. Und ich glaube, es ging den meisten schreibenden Frauen meiner Generation so: Sie mussten sich ihre Zeit fürs Schreiben zusammenstehlen.
ZEIT: Wie muss man sich diesen Alltag vorstellen?
Munro: Nun, als die Kinder klein waren, mussten sie immer einen Mittagsschlaf halten, und zwar alle zur gleichen Zeit, ob sie wollten oder nicht – denn das gab mir eine oder zwei ungestörte Stunden für mein Schreiben. Als sie dann zur Schule gingen, wurde es etwas besser, da hatte ich pro Tag etwa drei Stunden für mich. War ich einmal richtig drin in einer Geschichte, ging im Haushalt alles drunter und drüber. Ich schälte die Kartoffeln, dachte mir dabei die nächsten paar Sätze aus, setzte die Kartoffeln auf, und während diese kochten, rannte ich ins Wohnzimmer und schrieb wieder ein paar Zeilen. Dann schnell wieder in die Küche – mehr als einmal waren die Kartoffeln dann verkocht. Ich hatte damals kein eigenes Arbeitszimmer – und bis heute habe ich keines. Ich schreibe an einem kleinen Sekretär in einer Ecke des Wohnzimmers.
ZEIT: Warum tun Sie das?
Munro: Heute ist es bloß noch eine Marotte, aber es kommt natürlich daher, dass ich in einer Zeit zur Schriftstellerin wurde, als dies für Frauen kein Beruf war. Männer waren Schriftsteller. Und sie waren es mit Leib und Seele, sie fühlten sich berufen, taten nichts anderes. Männer hatten deshalb auch ein Büro zum Schreiben. Frauen nicht. Frauen schrieben nebenbei, heimlich. Ich glaube, dass ich bis heute ganz anders arbeite als ein schreibender Mann.
ZEIT: Nämlich wie?
Munro: Noch heute schreibe ich in relativ kurzen Konzentrationsphasen, um dazwischen irgendetwas anderes zu machen im Haus. Nach wie vor trage ich die Verantwortung für den Haushalt. Oder fühle mich zumindest verantwortlich dafür. Verstehen Sie mich nicht falsch, mein zweiter Mann und ich, wir teilen uns die Hausarbeit, er ist ein wunderbarer Koch, aber ich weiß, an welchem Tag der Müll raus muss, und ich überlege, was wir einkaufen müssen. Bei männlichen Schriftstellern ist das anders. Kürzlich las ich ein Interview mit dem irischen Autor William Trevor, den ich sehr schätze. Das Gespräch findet bei Trevor zu Hause im Wohnzimmer statt, und während er mit dem Journalisten spricht, kommt irgendwann Mrs. Trevor in den Raum und bringt Sandwiches und Tee. Verstehen Sie: Ich bin gleichzeitig Mr. und Mrs. Trevor.
Das ganze lesenwerte Interview ist hier zu finden.
Ich fühlte mich so verstanden! Damals habe ich auch einen Text über das Schreiben verfasst, oder vielmehr über die Unmöglichkeit zu schreiben, wenn man in den Ferien von der Familie umgeben ist. Ich habe ihn vorhin mit etwas Wehmut gelesen, die Enkel, die damals noch so klein waren, sind jetzt schon junge Erwachsene, das geht so schnell, und im Nachhinein denke ich, dass ich wohl nicht genug Federball und Tischtennis mit ihnen gespielt habe.
Die Kurzgeschichten von Alice Munro aber habe ich gerade wieder aus dem Regal gezogen.
Und wenn Ihnen das bei mir verlinkte Interview nicht literarisch genug war, dann schauen Sie gerne bei Herrn Buddenbohm vorbei, da wird im heutigen ersten Absatz viel verlinkt, insbesondere dieser Blog.
Puh, da bin ich ja froh, dass Monsieur Dir gnädigerweise die Vollmacht ausgestellt hat 😁. Pack’ sie doch ins Handschuhfach, dann bist Du für alle Eventualitäten gerüstet.
Ich bin auch traurig über den Tod von Alice Munro und möchte sie auch wieder lesen. Beim Lesen über ihr Leben und Schreiben musste ich auch an Dich denken – immerhin hattest Du wenigstens teilweise eine eigene Schreibstube. Frohe und erholsame Pfingsttage nach Cannes!
Danke dir, Marion! Frohe und sonnige Tage zu dir!
Danke für das tolle Interview mit Aice Munro. Dass sie trotz des Nobelpreises wenig bekannt ist, hat mit Sicherheit damit zu tun, dass sie eine Frau ist. Auch gerade in ihrer Generation kam die Familie immer zuerst und alle Haushaltspflichten waren wichtiger als die eigene Kreativität. Und leider ist das heute in manchen Kreisen immernoch so.
Bitte gerne, freue mich, wenn es Ihnen auch gefallen hat!
Ich weiß nicht, warum sie nicht bekannter geworden ist, viele andere NobelpreisträgerInnen kennt man ebensowenig, aber vermutlich haben Sie Recht, seit ich das Buch von Nicole Seifert über die vergessenen Autorinnen der Gruppe 47 zu lesen begonnen habe, sehe ich das mit den Männern und Frauen (nicht nur) in der Literatur viel klarer.
Es gibt in irgendeinem Interview mit ihr, das ich kürzlich gelesen habe, eine Erinnerung an Günter Grass, der bei einem literarischen Event “Hof hielt” – so etwas machen Frauen einfach nicht. Und insbesondere Alice Munro war dazu viel zu bescheiden.
Wie schön, dass Sie sich an dieses alte, sehr gute Interview erinnert haben. Danke dafür. Ich habe es mit Vergnügen gelesen und sogleich nach ihrem Buch “Tricks” in meinem Kindle (ja, ich gestehe…Arthrose, längere Reisen) gesucht, um es erneut zu lesen. Das erste Mal ist immerhin schon einige Jährchen her und die Geschichten wieder wie neu für mich, aber genau so gut wie eh und je.
Ziemlich sicher bin ich, dass die erwachsenen Enkel im Nachhinein sehr zu schätzen wissen und eher stolz sind, dass Sie ihnen neben allen anderen wichtigen Tätigkeiten überhaupt Zeit gewidmet haben.
Ach danke! Freue mich, wenn Sie das Interview mochten!
Ich habe keine Vorurteile gegen Kindle und Co. Dass man die Schrift vergrößern kann, ist zum Beispiel ein absoluter Vorteil!
An was die Kinder sich erinnern und ob sie es schätzen, das sei dahingestellt. Meine “Arbeit” wird hier nicht so richtig verstanden und anerkannt. Ich war und bin keine kochende und kümmernde “Großmutter” im klassischen Sinn, wie man sich das hier wünschen würde. Auch wenn ich für meine Verhältnisse viel getan habe und immer noch tue.
Ich finde mich leider im Interview genau wieder – 2 Kinder und voll berufstätig war Zeit für mich und für das Schreiben absolute Mangelware. Die Lebensentwürfe und Ziel meines Mannes hatten immer andere Prioriät als meine – und das habe ich immer akzeptiert. Und eigentlich halte ich mich für einen emanzipierte Frau .
Liebe Grüße Claudia
Danke liebe Claudia! Ich kann das gut verstehen. Aber man/frau macht immer Kompromisse. Und “unsere” Generation ist noch ganz anders geprägt (ich bin gar nicht sicher, ob du wirklich meine Generation bist?). Ich habe mich allerdings auch mit Freundinnen zerstritten, bzw sie sich mit mir, die mein/e konservatives französisches Leben/Beziehung nicht gutheißen.
Liebe Grüße ins Allgäu!