Erschöpfung

Ich bin erschöpft. Lange schon und viel tiefer, als ich es selbst glaubte. Ich dachte anfangs, ich bräuchte nur mal ein paar ruhige Tage. Aber nach ein paar ruhigen Tagen spürte ich die Erschöpfung noch viel mehr. Es ging nichts mehr. Oder nur noch sehr wenig. Der Alltag gerade so. Alles andere hätte ich zwar gerne getan, ging aber nicht. Ich schob alles vor mir her und schubste es immerwährend in ein undefiniertes “Später”. Auf Mails antworten, etwa. Das Projekt “Weihnachtskarten schreiben” wechselte in “Ich werde zum neuen Jahr schreiben”, das darf man in Frankreich den ganzen Januar lang. Aber der Januar verging, ohne dass ich auch nur eine Mail geschweige denn Briefpost geschrieben hätte. Ich habe niemandem geschrieben. Auch Ihnen allen nicht, die mich zunehmend dringlicher und überall (Kommentare, Mail, Briefpost, Instagram und Facebook) fragen, ob es mir gut gehe, ob ich grundsätzlich nicht mehr schriebe oder was denn nur los sei. Ich danke Ihnen sehr. Es ist schön, schmeichelhaft und tröstlich, dass Sie mich und meine Texte vermissen und ich danke Ihnen allen für Ihre Nachrichten. Aber schreiben ging erstmals nicht. Wirklich gar nicht.

Lesen, also richtiges Lesen, ging auch nicht. Ich huschte über einen Blogtext hier und da, und über ein paar Einträge bei Instagram. Ich las erstaunlich oft von Erschöpfung, was mich aber nur wenig tröstete, denn immerhin konnten die Menschen schon oder noch von ihrer Erschöpfung schreiben. Ich war so erschöpft, ich konnte es nicht mehr.

Wieviel Energie es kostet, ständig Fotos zu machen und sie etwa bei Instagram einzustellen, ein paar launige Worte zu schreiben und alles mit den sogenannten Hashtags zu versehen und in die Welt zu schicken, merkt man erst, wenn die Energie dafür nicht mehr da ist. Und damit ist es ja nicht getan. Denn man will ja gelikt werden, Herzchen kriegen, nette Worte im besten Fall, auf die man dann ebenso nett zurückschreibt, selbst Herzchen verteilt und anderer Leute Fotos anschaut. Never ending Story. War und ist mir alles zu viel.

Ich habe es schon ein paar Mal ansatzweise gesagt, zitiere mich hier auch gerne nochmal selbst, die vielen Kontakte, überhaupt das viele nach Außen gehen, virtuell oder reell, erschöpft mich viel schneller als andere. Das letzte Jahr war anstrengend und ich bin rückblickend schon monatelang über meine Kräfte gegangen. Ich hätte letztes Jahr eine Pause machen sollen, aber man ist eben so drin im Rhythmus, es geht immer alles so weiter und selbst, als mir beide Knie quasi zeitgleich “wegbrachen”, machte ich trotzdem weiter. Wäre ja auch noch schöner. Die Knie schmerzten sehr und das Leben wurde noch anstrengender. Dann bekam ich das Hermann-Kesten-Stipendium und damit eine Einladung nach Nürnberg. Vierzehn Tage Kunst, Kultur und Begegnungen. Großartig, wollte ich nach anderthalb Jahren ereignisloser Pandemie unbedingt machen. Etwas anderes sehen und erleben. Es wurde auch großartig, aber am ersten Tag dachte ich, ich schaffe es gerade mal zur Apotheke um die Ecke, um mir Schmerztabletten zu besorgen. Wenn der Treffpunkt für einen Ausflug die U-Bahnhaltestelle war, war ich, bis ich dort ankam, schon am Ende. Man kümmerte sich aber lieb um mich, ich durfte mit dem Taxi fahren. Es gab tolle Begegnungen, Kontakte zu anderen AutorInnen, ÜbersetzerInnen. Nürnberg als Stadt war eine echte Entdeckung. Das alles euphorisierte mich einerseits, andererseits ermüdete es mich körperlich und geistig. Den als Gegenleistung erwarteten Text über meinen Aufenthalt dort, habe ich aber bis eben nicht geschrieben. Kaum zurück, musste der Krimi fertig werden und spätesten seit diesem Moment hechelte ich allem hinterher.

Ich hatte nämlich zusätzlich eine Ausbildung als Intueat-Coach begonnen; Anfang letzten Jahres, als man auf mich zukam, schien mir diese Ausbildung absolut das Richtige zu sein und ich meldete mich spontan und begeistert an. Los gings dann zu der Zeit, in der ich schon außer Atem war. Ich mache es kurz, ich habe die Ausbildung vor zwei Wochen abgebrochen, obwohl ich in den letzten Monaten viel gelernt und tolle Menschen kennengelernt habe. Ich mache aber nicht weiter, weil ich spüre, ich würde als zukünftiger Coach erneut zu viel “nach Außen” gehen, zu viel für mich, ich habe dauerhaft einfach keine Energie, mich wirklich auf andere Menschen und ihre (Ess-)Probleme einzulassen und ihnen dabei herauszuhelfen. Vielleicht wäre ich ein guter Coach geworden, wenn ich diesen Weg früher, nicht Monate, sondern Jahrzehnte früher, gegangen wäre.

Immerhin ist bei so einer Ausbildung der Weg das Ziel – man lernt dabei nicht nur andere, sondern eben auch sich selbst zu coachen. Was würde ich jemandem raten, der/die so erschöpft, wie ich es bin, vor mir stünde?

Lass es los. Kümmere dich um dich. Atme.

Ich lasse also vieles los und mache Medien-Detox. Gar nicht so leicht. Im Kopf ist immer dieser Drang zum “Foto machen” und “dokumentieren”. Hin und wieder mache ich sogar Fotos. Der Januar war hier dieses Jahr so schön (und so trocken), dass es beinahe wehtat. Diese Sonne, diese Wärme. Die Mimosen wiegen ihre zarten gelben Puschel im leichten Wind, im Vorgarten blühen Narzissen üppig in Weiß und Gelb wie noch nie zuvor, und die ersten Kapmargeriten mischen sich magentafarbig dazwischen. In der Nebenstraße haben sich wie jedes Jahr quasi über Nacht die Mandelbäume in zarte weiße und rosafarbene Wolken verwandelt. Es ist Frühlingsstimmung. Das will ich doch zeigen. Aber die Fotos vom blauen Meer und den gelben Mimosen bleiben ungezeigt. Mal eben schnell was tippen und hochladen ist plötzlich unendlich schwer und ich mache es nicht. Dann entscheide ich, es bewusst sein zu lassen, aber wie lange es dauert, bis ich etwas Schönes, das ich erlebe (tolles Essen im Strandrestaurant, Füße in den Wellen) nicht mehr dokumentiere und es einfach nur lebe, ohne überhaupt daran zu denken, es zu teilen, ist erstaunlich. Dass ich Instagram und Facebook vorübergehen hätte deaktivieren können, habe ich erst kürzlich erfahren; das wäre vielleicht hilfreich gewesen. Tiktok habe ich immerhin deinstalliert. Diese Plattform, wo alle tanzen und ansonsten ultrabescheuerte, mit hysterischem Lachen unterlegte Mann-Frau Videos machen (Eifersucht, idiotische Scherze, Schadenfreude, Anmache, Geld, Betrug, Klauen) wie weit sind wir von einem gleichberechtigten Leben entfernt, denk ich jedes Mal, wenn die Menschheit sich diesen Mist anschaut?

Muss ich da überall noch mitrennen? Ich werde dieses Jahr sechzig. 60. Kurz vor der Rente, sozusagen. So fühle ich mich zwar trotz der Erschöpfung und der körperlichen Beschwerden nicht, aber dennoch. Sechzig, hallo! Seniorin sozusagen, zumindest für die Bahn, da bekomme ich jetzt schicke SeniorInnenangebote. Da darf ich vielleicht ein bisschen müder sein, etwas weniger energiegeladen als noch mit vierzig. Pause machen. Ausruhen. Ausatmen. Einatmen.

Es geht mir dezent besser, wie Sie der Tatsache entnehmen können, dass ich heute hier schreibe. Die Knie aber sind immer noch malade, die diversen Spritzen mit Hyaluronsäure in verschiedenen Viskositäten haben bislang nur bedingt geholfen. Ich gehe am Stock und meide Treppen und weite Wege und kann dezidierte Aussagen zu Schmerzmitteln machen, die helfen oder auch nicht. Der Heimtrainer, der immerhin angeschafft wurde, damit ich mich überhaupt ein bisschen bewege, hat zumindest nicht geschadet. Ein Termin bei einem Orthopäden (sprich Chirurgen), der mir anempfohlen wurde, wurde jetzt immerhin ausgemacht. Und nein, vorher habe ich es nicht geschafft; außerdem wurde ja auch immer von der langfristigen Wirkung der Spritzen geredet, die es abzuwarten gälte.

Ausatmen
Einatmen

Ein paar Neuigkeiten aus Frankreich kriegen Sie heute auch: Das Wichtigste zuerst: Wir nähern uns der Präsidentschaftswahl! In zwei Monaten ist es soweit. Erstmals darf ich den Präsidenten mitwählen und informiere mich. Wir haben (in etwa) die “üblichen Verdächtigen”, die Sie vielleicht noch vom letzten Mal kennen, (mein Gott, was habe ich da nicht alles geschrieben!) zusätzlich aber noch einen Kandidaten aus der extrem rechten Ecke, der Marine Le Pen das Wasser abgräbt: Eric Zemmour. Für die Konservativen, die vor fünf Jahren von François Fillon repräsentiert wurden, geht Valérie Pécresse ins Rennen. Für die Sozialisten haben sich Anne Hidalgo (Bürgermeisterin von Paris) und Christiane Taubira (ehemalige Justizministerin) aufstellen lassen, und Yannick Jadot repräsentiert die Ökologische Partei. Der amtierende Präsident Emmanuel Macron hat seine Kandidatur offiziell noch nicht bekannt gegeben. Frankreichs Wahlkampf spiele sich eher rechts ab, zitiere ich den Deutschlandfunk, der die wichtigsten Kandidaten ebenfalls vorstellt.

Wir sind derzeit noch in der Phase, in der die Kandidaten 500 sie unterstützende Bürgermeister (aus mindestens 30 Départements) finden müssen; dies wird zwar jedes Mal von den “kleinen” Kandidaten lautstark kritisiert, soll aber Spaßkandidaturen vermeiden und Kandidaturen von nationaler Bedeutung absichern. Im Fernsehen gab es aber gestern Abend schon einen zweieinhalbstündigen Schlagabtausch mit einem Präsidentschaftskandidaten: Mehrere Journalisten befragten Jean-Luc Mélenchon zu seiner Einstellung zu Klima, Energie, Gesundheit, Sicherheit und pouvoir d’achat, also wieviel Geld die Franzosen zur Verfügung haben (wenn Strom, Benzin, Lebensmittel immer teurer werden). Was würde er tun, wenn er morgen Präsident sei? Bis zur Wahl am 10. April wird jeden Donnerstag ein anderer Kandidat/Kandidatin so vorgestellt.

Ich habe mir spaßeshalber Elyze aufs Handy geladen, eine App, (die sich an junge Wähler wendet und) mit deren Hilfe man spielerisch erfahren soll, welche/r Kandidat/Kandidatin seinen politischen Überzeugungen am ehesten entspricht: Man kann Aussagen der Kandidaten zustimmen oder ablehnen und sich auch zusätzliche Informationen holen. Ob es den jungen WählerInnen weiterhilft? Ich fand zumindest das Ergebnis, das die App mir ausspuckte, recht zweifelhaft.

Anderes Thema zum Wochenende: Wir haben Les jeunes amants gesehen, ein wundervoller Film mit Fanny Ardant. Eine Liebesgeschichte zwischen der siebzigjährigen Shauna (Fanny Ardant) und einem sehr viel jüngeren Mann. Es wird nicht einfacher dadurch, dass er verheiratet ist und Kinder hat. Der Film ist nach einer wahren Geschichte entstanden, die die Eltern der bereits verstorbenen ersten Regisseurin so erlebt haben. Die Regisseurin, die den Film letztlich drehte, wollte für die Rolle der Shauna eine Schauspielerin haben, die an sich keinerlei Schönheitschirurgie hat machen lassen. So viele gibt es da wohl gar nicht. Fanny Ardant sieht toll aus und sie ist hinreißend. Und nein, nichts ist peinlich und der Film endet nicht kitschig. Falls Sie können, unbedingt ansehen!

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48 Responses to Erschöpfung

  1. Beate sagt:

    Liebe Christiane,
    ich bin einfach nur froh, dass du wieder da bist. Ich schließe mich den guten Wünschen meiner zahlreichen Vor-Schreiberinnen an und würde mich freuen, wenn ich ab und zu (!) von dir lesen würde. Immer mit der Ruhe – einen Schritt nach dem andern.
    Mit viel Geduld wird alles wieder gut.
    Herzlichst
    BEATE

  2. Sunni sagt:

    Liebe Christiane,
    genau so hatte ich es mir gedacht. Gleiches hier. Gerade heute habe ich beide Knie mit Zweikammerhyaloron spritzen lassen. Alles andere desaströs. Ich fühle so sehr, wie man sich dann fühlt! Danke für den Text! Liebste Grüße, beste Wünsche. Möge das Frühjahr helfen! Herzlich, Sunni

  3. FrauC sagt:

    Schön, dass Sie wieder da sind. Alles Gute!

  4. Wendy sagt:

    Liebe Christiane

    ich dachte mir schon so etwas – und habe ganz bewußt nicht nachgefragt – denn auch die Frage löst schon wieder das ungute Gefühl aus – als ob man den Lesern etwas schuldig sein und sie enttäuscht.

    Die aktuelle Zeit zehrt an der Substanz – weil so viele Dinge weggefallen sind, die die Ressourcen wieder auffüllen. Man hangelt sich nur noch von Pflicht zu Pflicht – während soviel Kür nicht mehr erlaubt ist.

    Gute Besserung weiterhin – und schützen Sie Ihre Ressourcen!

    • dreher sagt:

      Dankeschön! Stimmt, dieses Gefühl, meinen LeserInnen etwas schuldig zu sein, hatte ich unterschwellig die ganze Zeit. Als ich das erste Mal wieder mit etwas Energie aus den Tiefen aufgetaucht bin, dachte ich sofort daran, einen Blogartikel zu schreiben. Musste mich selbst ermahnen, erst den dringend zu erledigenden Papierkram für mich abzuarbeiten UND mich um die Knie zu kümmern.
      Ja, die aktuelle Situation zehrt, aber wenn man erschöpft ist, wird leider auch die Kür zur Pflicht.
      Liebe Grüße!