Think positive

Heute ist Frühling. Die letzten Tage waren, wie fast überall, kalt, stürmisch und nass, aber heute ist es windstill und sonnig. Gerade trank ich meinen Nachmittagsespresso auf dem wackeligen Drehhocker, war dabei, der Stabilität halber, an die geöffnete Balkontür gelehnt, saß so halb drinnen, halb draußen auf dem etwas zu schmalen Balkon, der vermutlich schon zur Zeit der Konstruktion nur dekorativen Charakter haben sollte. Wann begann man Balkone so tief zu bauen, dass man darauf herumsitzen konnte? Wurde das absichtslose Herumsitzen auf Balkonen erfunden? Wann und vom wem? Die Katze döst in dem Blumentopf, aus dem sie die Palme erfolgreich vertrieben hat. Manchmal sieht sie dabei so konzentriert aus, als brüte sie auf Ostereiern. Das im Vorgarten heimische Turteltäubchen, das immer gerne über das Balkongeländer balanciert und mir dabei vertrauliche Blicke zuwirft, hat sie beim Heranflattern gerade noch so entdeckt, macht eine Kehrtwendung und landet dann etwas verwirrt am Fuße des Balkons, auf Augenhöhe der Katze, allerdings an der Außenseite des Geländers.

Die Katze, die zwar seit ein paar Monaten mit einer Spritze gegen ihre Arthrose geboostert wird, was sie rebellischer und mindestens fünf Jahre jünger macht, sie vor allem aber wieder spielerisch auf Tische und Stühle und Mauern hüpfen lässt (glauben Sie mir, ich bettelte den Tierarzt an, mir das auch zu spritzen!), die Katze blinzelte nur angelegentlich in die Sonne und reagierte nicht. Das Turteltäubchen fliegt auf eine Mauer, ordnet seine Federn und schaut von dort freundlich zu uns. Ich brate in der Sonne und nippe am Espresso, und schlage die Zeitung auf: Die Meldungen sind erschütternd, ich starre auf die Bilder, die ich gestern schon im Fernsehen sehen musste, ich lese den einen oder anderen Augenzeugenbericht. Es ist Krieg im 21. Jahrhundert. Es ist alles so widerwärtig. Ich denke an den Film Donbass, den ich gesehen habe. Ich wollte ihn damals nicht verlinken, weil ich die Bilder so unerträglich fand. Jetzt sieht man diese Bilder und noch viel schlimmere jeden Tag überall. Die Haustür geht auf, der kleine M. und seine Mama erscheinen, sie sind auf dem Weg in den Park und zum Spielplatz nebenan. “Madame Christjann!” ruft der kleine M. und winkt mir fröhlich zu. Sag bonjour” höre ich seine Mama leise sagen. “Bonjour!”, ruft er brav. “Bonjour”, rufe ich zurück und frage “Ça va?”. “Ça va” antwortet er lässig, wie ein französisches Kind und hüpft vor dem Gartentor auf und ab. Tetiana winkt auch. Wir gehen in den Park, sagt sie. Danach holen sie den großen Jungen von der Schule ab. Ich nicke und winke. Sie hat sich selbstständig für einen Französischkurs angemeldet und ihr Französisch wird jeden Tag besser. Sie trägt ein pinkfarbenes Sweatshirt. Think positive steht darauf. Ich schlage die Zeitung zu.

Gestern war ich erstmals wieder draußen. Erstmals nach Covid, Sie erinnern sich. Bekommen jetzt alle, scheint es. Hier hat sich die Tendenz durchgesetzt, es als “kleine Grippe” abzutun. Sogar Monsieur, der vier Tage kein Wort sprach und nur dumpf hustend im Bett lag, findet rückblickend, dass es nicht besonders schlimm war. Ich hatte Fieber und war ordentlich krank. Ja, es fühlte sich wie eine Grippe an, aber es ist etwa zwanzig Jahre her, dass ich das letzte Mal so krank war. Damals hatte ich mir beim Kölner Karneval beim Knutschen in gnadenlos überfüllten Kneipen irgendeinen Virus eingefangen, aus heutiger Sicht auch vollkommen sinnlos, was man da alljährlich tut. Damals auf jeden Fall war ich auch so fiebrig und krank, dass ich es nicht mal zum Arzt schaffte. Nun gut. Jetzt bin ich also für zwei Monate immunisiert. Man könnte glatt in einer vollen Kneipe knutschen gehen.

Die Lehrerin des kleinen M. hatte mir am Wochenende eine Nachricht übermittelt, dass am Montag (also gestern) in der Schule ein Frühlingsfest stattfinden würde und die Kinder dürften verkleidet zur Schule kommen. Es wäre schön, wenn die beiden Jungs mitmachten, schrieb sie. Am späten Sonntagnachmittag bespreche ich das mit Tetiana und den Jungs. Für den Kleinen, ein großer Fan von Spiderman, gar kein Problem. Er erobert als Spiderman die Schule und weint an diesem Morgen auch fast gar nicht am Schultor, so viel Kraft hat er! Der große M. ist schon zögerlicher. Eigentlich hat er nichts gegen das Verkleiden. Tetiana ist Schauspielerin und sie leitete ein Theater in ihrer Stadt; es gab auch ein Kindertheater, bei dem M. schon bei Aufführungen mitgespielt hat. Ich habe Bilder davon gesehen. Pirat schlage ich vor, oder Clown. Das geht auch mit wenigen Mitteln und ist klassisch. Aber so richtig traut er sich nicht. Was, wenn in seiner Klasse niemand wirklich verkleidet ist? Keinesfalls will er sich lächerlich machen, das verstehe ich. Letzten Endes finde ich ihm einen klassischen kreisrunden Strohhut und eine schwarz-weiße Krawatte mit einem Motiv von Magritte aus einer aussortierten Sammlung von Monsieur. Das ist ein bisschen verkleidet und sieht auch noch schick aus. Nachmittags begleite ich Tetiana zur Schule, um ihn abzuholen (und um mit einer Lehrerin etwas zu besprechen). In Frankreichs Grundschulen werden die Kinder einzeln von den LehrerInnen zu den abholenden Eltern oder Großeltern gebracht, die brav vor den verschlossenen Toren warten. Während wir also warten, dass zunächst die Kleineren, heute waren viele zerzauste Prinzessinnen dabei, zu ihren Mamas geführt werden, sehen wir den großen M., der auf der Terrasse im ersten Stock der Schule erscheint, er ist umringt von anderen Kindern, hat den Hut auf und lacht und winkt. Ich bin ein bisschen gerührt. Sehr aufgeregt erzählt er später, dass ein Mädchen als Batman verkleidet war. Ein Mädchen! Batwoman rennt gerade mit wehendem Cape vor uns über die Straße, die von einem ehrenamtlichen älteren “Papy Traffic”, einem “Schülerlotsen-Opa” für uns gesichert wird. Ich erkläre das mit dem Schülerlotsen und wir testen es gleich zweimal, nur um sicherzugehen. Schule war nicht nur “so-so” heute, erfahre ich. Es war ein bisschen besser. Er überlegt. Ça va”, sagt er dann sehr ernsthaft.

Es folgt Werbung in eigener Sache: Es ist tatsächlich sehr weit weg, gemessen an dem, was gerade in der Welt passiert, aber am Donnerstag, 7.4.2022, erscheint mein neuer Kriminalroman “Verhängnisvolle Lügen an der Côte d’Azur”, den ich hier noch nicht ins Bild halten kann, weil ich ihn noch nicht habe, heul, auch wenn treue LeserInnen ihn sogar schon ausgelesen haben, wie mir zugetragen wurde. Am kommenden Donnerstag werde ich via Zoom daraus vorlesen (und wenn es aus der Fahne ist!). Es ist eine Veranstaltung in Zusammenarbeit dem Amt für Internationale Beziehungen der Stadt Nürnberg. Noch ist meine Stimme etwas rau, aber ich lutsche fleißig Honigbonbons und trinke Ingwertee. Wenn Sie am Donnerstag dabei sein wollen, 19 Uhr, kostenlos, und noch einmal im sicheren Zoom-Raum, bevor gleich alle Masken fallen, dann klicken Sie hier.

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17 Responses to Think positive

  1. Marion sagt:

    Hab’ dein Buch heute bestellt. Ehrensache 📖📚…

  2. Gabriele sagt:

    Ich freue mich sehr, dass es dir wieder besser geht, liebe Christiane, in meiner Umgebung haben es auch immer mehr – es hört nicht auf. Und ich freue mich auch, dass deine Gäste sich so gut zurechtfinden, es ist so furchtbar, was in der Ukraine passiert, unfassbar und schrecklich und irgendwie kein Weg sichtbar, wie alles unter den derzeitigen Umständen enden kann. Ich freue mich auf deinen neuen Krimi, Lektüre für die bevorstehende Nizzareise 😊 🤩☀️Liebe Grüße Gabi

    • dreher sagt:

      Danke liebe Gabi!
      Das Sommerfest des deutsch-französischen Vereins findet diesmal aus paritätischen Gründen in Nizza statt! Passt doch, oder?
      Liebe Grüße!

  3. roswitha sagt:

    bin ich froh über diesen bericht. so viel dinge habe ich gerne mit freude gelesen. ich drücke die daumen dass es so weitergeht. und morgen bestelle ich den krimi.
    gute wünsche in den frühling sendet roswitha

    • dreher sagt:

      Danke, liebe Roswitha! Fürs Freuen und Lesen und Krimi bestellen! Viel Frühling zurückgewünscht!

  4. Sunni sagt:

    Salut nach Frankreich! Wie schön, dass es besser geht nach dem hässlichen Covid! Viel Kraft für alles und auch Freude an dem Lernen der Gäste! Natürlich sehe ich mir die Lesung an, wenn es irgend geht. Herzlich, Sunni

  5. Karin sagt:

    Buch wird gekauft, wenn ich über Ostern in Deutschland bin, inshallah. War schon versucht zu bestellen, damit es bei meiner Ankunft da ist, aber schliesslich will man den Buchhändler unseres Vertrauens unterstützen, n’est-ce pas? Ich freue mich schon darauf und kann mir nicht vorstellen, dass es bis zu meiner Rückfahrt per Zug (juhu, endlos Zeit für’s Lesen und Schauen!) “hält”. A propos Buchhandel: In Genf gab es “Solidaritäts-Bons” zur Unterstützung des leidenden Einzelhandels. Der Buchhändler, dem ich den Bon ohne etwas dafür zu kaufen übergab wäre mir fast um den Hals gefallen vor lauter Freude. Ich habe erst einmal bei ihm eingekauft (er hat vor allem französische Literatur, und da fremdle ich eindeutig :(), aber ich mag das Ambiente: ein alter Laden mit riesigen Fenstern und hohen Decken (schwer zu heizen) und Monsieur lädt ab und an zu Lesungen und dergleichen ein. Seit dem Bon bekomme ich regelmässig die Einladungen. :)
    Bis heute Abend und alles Gute!
    Karin

  6. Eleonore Braun-Folta sagt:

    Liebe Christiane, schön dass es dir wieder besser geht. Danke für die tolle Lesung. Habe mich leider erst 10 Minuten später zuschalten können. Unser Internet auf dem Dorf ist nicht das Beste. Freue mich schon auf das Buch, kam heute auf mein Kindl. Alles gute auch für die ukrainische Familie. Hoffentlich geht es dem Mann gut. Hier in Neustadt sind auch einige hundert angekommen. Ich helfe regelmäßig bei der Tafel Ausgabe. Das ist sehr traurig. Liebe Grüße nach Cannes. Im Juni sind wir ( 2 ehemalige Kolleginnen und ihre Männer in Allemagne en Provence. Meine Freundin in Lorgues hatte mir beim letzten Besuch von dem Staudamm Bruch erzählt, als wir in Frejus waren .Elli

  7. Birgit sagt:

    Danke für die schöne Lesung eben. Es hat Spass gemacht Ihnen zuzuhören.
    Alles Gute für Sie mit herzlichen Grüßen aus Hamburg

  8. Rita sagt:

    Die Lesung war sehr schön. Ich hätte noch Stunden zuhören können! Dankeschön

  9. Pingback: Währenddessen in den Blogs, Ausgabe 8.4.2022 – Buddenbohm & Söhne