Seit Tagen möchte ich etwas zum Israel-Krieg sagen und kann nicht. Ich bin nicht allein damit. Der Publizist Christian Nürnberger schrieb gestern auf Facebook, er sei zunächst “sprachlos” gewesen angesichts des Grauens, dann voller Hass auf die Hamas, und die Worte, die in ihm brodelten nicht druckbar, und nur das Mitgefühl für jüdische Freunde und Mitbürger auszudrücken wäre ihm “zu klein” gewesen, angesichts dessen, was passiert. Für all das gibt es kaum richtige Worte. Ratlos sei er und ohnmächtig fühle er sich. Es tröstet mich und ich bin dankbar für den Text des besonnenen Mannes.
Ich war ebenso sprachlos, zutiefst schockiert und heartbroken. Es half mir erstmals nicht, “Liebe” ins Netz zu senden, Friedensbotschaften, Gedichtzeilen, Herzen oder was auch immer. Ich wusste lange nicht, wo ich mich positionieren sollte. Auf welcher Seite stehe ich? Ich bin nicht Jüdin, nicht Palästinenserin, ich lebe nicht dort, was weiß ich schon vom Leben in Israel und Palästina? Aufgrund unserer Geschichte stehe ich zu Israel. Immer. Aber ich lehne die israelische Siedlungspolitik ab. Und ich bin entschieden gegen das Massaker, das die Hamas angerichtet hat und gegen den Terrorismus. Dass ich beides sein kann, für Israel, aber gegen die Siedlungspolitik, gegen die Hamas, aber für den Schutz unschuldiger palästinensischer Kinder, muss ich mir erst innerlich erarbeiten.
Ich kenne eine israelisch-amerikanische Malerin, von der ich schon das eine oder andere Bild erworben habe, sie lebt mit ihrer Familie in Israel. Ihr habe ich immerhin geschrieben, um zu hören, ob es ihnen gut geht. Sie sind alle zusammen und in Sicherheit. Aber sie hat Freunde und Nachbarn, die jemanden verloren haben oder vermissen. Susie hat über das Shiva-Sitzen bei Freunden geschrieben, die ihren Sohn am ersten Tag des Krieges verloren haben: an sieben Tagen kommen alle zusammen, Nachbarn, Freunde, Familie, selbst Fremde, um den oder die Toten zu betrauern, des es in der Familie gibt. Ich habe es übersetzt.
Sieben Tage. Die Familie bleibt zu Hause, und die Gemeinschaft ist Tag und Nacht bei ihnen und bringt ihnen Essen, kocht, putzt, erzählt, kümmert sich um ihre Bedürfnisse, weint, manchmal lacht sie. Hunderte von Menschen sind in der letzten Woche jeden Tag durch das Haus unserer Freunde gegangen. Familie, Freunde, Kollegen, Soldaten, Gemeindevertreter, Nachbarn, Fremde, die gerade erst von der Tragödie erfahren hatten. Unsere Kinder waren mit ihren Kindern da. Zig Jugendliche saßen im Hof im Kreis und redeten einfach nur. Jeden Tag. Während der Shiva weinte ich. Ich hörte zu. Ich habe abgewaschen. Ich habe Eier gemacht. Ich habe grüne Bohnen angebrannt. Ich habe ein paar Mal den Kühlschrank aufgeräumt. [[…]] Ich weinte mehr. Ich habe meine Freunde umarmt. Ihre Kinder. Ich habe neue Freunde gefunden. Menschen, die ich seit Jahren kenne, aber nie gekannt habe. Jetzt sind wir uns nahe. Wir sind eine Familie.
In der letzten Woche gab es 1300 dieser Treffen. Viele Leute gingen zu mehr als einem. Mehr als zehn. Jeder kennt jemanden. Und dann gibt es noch diejenigen, die noch keine Schiwa halten können, was ein Segen und ein Fluch ist. Sie warten darauf, das Schicksal ihrer Angehörigen zu erfahren, die als Geiseln in Gaza sind. Ich wache jeden Morgen auf und weine um sie und ihre Familien.Susie Lubell
Seit Tagen habe ich Lust auf Hummus. Hummus habe ich zum ersten Mal in Israel gegessen; ich war siebzehn oder achtzehn, als ich mit einer Gruppe der evangelischen Kirche nach Israel gereist bin. Es war meine erste Reise außerhalb Europas, sie hat mich nachhaltig beeindruckt. Aber darüber muss ich vielleicht ein andermal erzählen (ich war im übrigen fest davon überzeugt, es schon getan zu haben, aber ich habe überraschenderweise nichts gefunden) – auf jeden Fall wollte ich Hummus essen. Aber kein fertig gekauftes, ich wollte es selbst machen – und habe dafür gestern im Supermarkt bewusst israelisches Tahin (Sesampaste) erstanden und statt irgendwelcher Kichererbsen im Glas, bereits püriertes Kichererbsenmus gewählt, und das, ich gebe es zu, nur, weil es libanesischer Herkunft war. Zumindest in meinem Einkaufswagen und in meiner Küche sollte es möglich sein, Israel und in diesem Fall den Libanon friedlich zusammenzuführen. Gut, das Hummus ist nicht so lecker wie sonst geworden – frisch mit dem Mixer zerkleinerte Kichererbsen schmecken einfach besser, aber es ist ok.
Am Sonntag wollten wir zu einer Vorpremiere des Films über das Leben von Abbé Pierre. gehen. Ich hatte zwar schon beim Anschauen des Trailers Tränen in den Augen, aber ich war und bin überzeugt, dass es ein sehenswerter Film ist; er ist beim diesjährigen Filmfestival gelaufen und hatte gute Kritiken bekommen. Wir fuhren extra in den großen neuen Kinokomplex am Rande der Stadt, wir waren ein bisschen spät, aber wir hofften, dass die Einführung unseres Kinovereinspräsidenten sich noch ein bisschen hinzöge. Die Schlange an der Kasse war lang, es dauerte ewig, bis wir dran kamen, und dann, siehe da, stellten wir fest, dass wir im völlig falschen Kino waren! Abbé Pierre lief gerade in der Innenstadt. Das schafften wir zeitlich nicht mehr. Ich war soo wütend auf mich selbst, weil ich zwei Mails des Kinoclubs durcheinandergebracht habe. “Je m’en veux”, zischte ich und stampfte mit dem Fuß auf. Monsieur entschied, dass wir, wo wir jetzt schonmal da sind, kurzfristig “Bernadette” ansehen werden. Der neue Film mit Catherine Deneuve, die die Gattin von Jacques Chirac spielt. Eine Komödie. Hätte ich mir nie im Leben angesehen. Auch dieser Film hat schon begonnen, also schnell, schnell, wir schlichen uns auf unsere Plätze und kaum saßen wir, musste ich schon lachen. Der Film ist wirklich komisch. Sogar Monsieur lachte laut an der einen oder anderen Stelle. Ok, es ist kein Film, der bleibt, aber er ist wirklich amüsant. Und Catherine Deneuve hatte sichtlich Spaß, die Rolle der Bernadette Chirac zu spielen. Die Familie Chirac hingegen ist weniger amused, aber nun gut.
Darf man lachen, angesichts all dessen, was passiert? Am letzten Freitag, fast auf den Tag genau drei Jahre nachdem der Lehrer Samuel Paty enthauptet worden ist, hat ein fanatischer junger Mann, schon wieder einen Lehrer ermordet, diesmal in der Stadt Arras. “Messerangriff” heißt es dezent in der Presse. Er wurde an der Kehle “getroffen”. Man hat ihm die Kehle durchgeschnitten. Darf man also im Kino lachen? Ich habe gemischte Gefühle.
Dankbar sehe ich abends beim Scrollen im Handy ein kurzes Statement eines amerikanischen Stand-up-Comedien, Pete Davidson, den @dragos (den ich Ihnen vor ein paar Monaten vorgestellt habe) bei Instagram verlinkt hat – und ich jetzt hier. Ok, man muss ein bisschen scrollen und es ist ein englischer Text: Pete Davidson erzählt, dass er sieben Jahre alt war, als er seinen Vater bei einem Terrorangriff verloren hat [[am 11. September 2001, beim Angriff auf das World Trade Center]], und dass seine Mutter monatelang alles versucht habe, um ihn aufzuheitern; versehentlich lässt sie ihn ein Eddy Murphy Video anschauen, sie glaubte es sei ein Disney-Film. Als sie sich bewusst wurde, welchen Quatsch Eddy Murphy erzählte, wollte sie es ausschalten, merkte dann aber, dass ihr Sohn zum ersten Mal seit Monaten wieder lachte. Warum das so ist, sei ihm nicht klar, sagt Pete Davidson, aber manchmal sei die Komödie das einzige Mittel gegen Tragödie. Und deswegen würde er, wie jeden Abend, auf der Bühne stehen und versuchen witzig zu sein und andere zum Lachen zu bringen.
Bevor ich diesen Text schreiben konnte, suchte ich natürlich auch ein Gedicht, das viel eleganter Schmerz und Verzweiflung ausdrücken würde, als ich es könnte. Um aber nicht schon wieder auf Hilde Domins “Auch an blauen Tagen bricht das Herz” zurückzugreifen, das ich schon so oft verwendet habe (hier nachzulesen), suchte ich dieses Mal bei Rose Ausländer. Von ihr habe ich mir die Überschrift geliehen, gefunden im Text des Freitag, in dem es über den Sinn von Anti-Kriegs-Lyrik geht (nicht ganz aktuell, aber immer noch passend).
Indem sie Worte für das Unfassbare finden, tragen sie dazu bei, die aus dem Lot geratene Welt besser zu erfassen. Ohne sich auf einen Trostcharakter reduzieren zu lassen, bieten sie eine Grammatik in Zeiten des Chaos. Metaphern, Vergleiche, Assoziationen sind Gegenmittel zur Sprachlosigkeit. Mit ihnen gelingt Literatur ein Stück weit die Selbstermächtigung. Nicht im Sinne einer verbalisierten letzten Wahrheit, aber in einem steten Ringen um den passenden Ausdruck. Allein dieses fortwährende Suchen offenbart eine kaum zu unterschätzende Signalwirkung. Sie zeugt vom bewussten Willen, das Feld nicht dem Schweigen, man könnte auch sagen: dem Tod zu überlassen.
Björn Hayer in: Freitag 10/22
Das ist doch ein schönes Schlusswort für heute.
Salam. Shalom.
Es fehlen die Worte ob der täglichen Horrormeldungen und es fällt schwer, dabei im Gleichgewicht zu bleiben. Bei den Politrunden im Fernsehen kommt mittlerweile immer der Zeitpunkt, wo ich innerlich abschalte und weitere Infos nicht mehr aufnehmen kann – wenn ich sie überhaupt noch schaue. Von dem Attentat in Arras hatte ich noch gar nichts mitbekommen, da passiert schon das Attentat in Brüssel. Von den derzeitigen Zuständen in Israel natürlich ganz zu schweigen. Aber ja, Gemeinschaft, Solidarität und auch Lyrik können tröstlich sein. War es früher auch schon so schlimm mit all den Krisen und Kriegen, oder hat man es nur verdrängt, oder wird man mit der Zeit dünnhäutiger?
Ich denke, man muss auch eine gewisse Selbstfürsorge anwenden, wenn man all die schlechten und grauenvollen Nachrichten nicht mehr aufnehmen kann und will, dann ist es auch gut, den Fernseher auszuschalten. Wir sind gerade wieder in den Bergen ohne TV, es ist eine Wohltat! Nachrichten erreichen uns natürlich dennoch, aber weniger direkt.
Und ich denke Krisen, Kriege, Geiselnahmen hat es immer schon gegeben, aber vielleicht sind wir nicht nur dünnhäutiger, sondern auch bewusster (weil älter), dass es uns etwas angeht. Früher (jünger) konnte man das besser ausblenden, denke ich. Ich sehe das an den “Enkeln”, die das für sich überhaupt nicht auf dem Schirm haben. Auch gut für sie.
Bei mir kommt eine neue Wachheit hinzu, seitdem ich als “Ausländerin” in einem anderen Land mit einer anderen Problematik (Ex-Kolonien) lebe.
Mir fällt es schwer, einen Schuldigen zu benennen. Dieser Konflikt schwelt seit der Staatsgründung Israels, kocht sozusagen auf kleiner oder grösserer Flamme, je nachdem was gerade geschieht, und mit jeder Ungerechtigkeit und Siedlungsgründung auf palästinensischem Gebiet wurde der Druck im Topf höher und jetzt scheint es zur Explosion gekommen zu sein. Die Hamas sind nicht DIE Palästinenser und die Erzkonservativen sind nicht DIE Israelis und die Situation scheint so ausweglos wie nie zuvor. Was mich so traurig macht ist, dass sie doch sozusagen Brüdervölker sind und auch die Frage, wie es weitergehen soll falls es einen Gewinner geben sollte. In diesem Krieg kann es doch nur Verlierer geben und wir kennen sie auch schon, es ist die unschuldige Zivilbevölkerung auf beiden Seiten. Wie soll danach je wieder Vertrauen wachsen?
Ich bin auch ratlos, Karin, und gerade mal wieder ohne Worte. Danke für deinen Kommentar.
Ich glaube, ratlos sind wir alle, denn es hätte früher schon einige Möglichkeiten gegeben für eine friedliche Koexistenz.
Hoffnung auf Lösung kennt keiner.
Noch ist es aber zum Glück kein Krieg, sondern es hat ein abscheuliches, barbarisches Verbrechen, einen mörderischen Überfall auf jüdische, unschuldige Kinder, junge und alte Menschen, Zivilisten, die ihren Alltag lebten, gegeben. Ausgeübt von der Terrororganisation Hamas, nicht d e n Palästinensern (sie sind nicht gleichzusetzen), die an einem Frieden überhaupt nicht interessiert ist, sondern einzig das erklärte Ziel hat, alles Jüdische zu vernichten.
Deshalb bin ich der Meinung, dass bei aller berechtigten Kritik an der fehlgeleiteten Politik Israels (wobei die unrühmliche Rolle der arabischen Staaten total ausgeblendet wird) eine Relativierung im Augenblick nicht angebracht ist.
Es schüttelt mich, Jubelfeiern für feige, hinterhältige Morde erleben zu müssen, jüdische Mitbürger wieder in Angst zu wissen. Wer einen Terroristen bejubelt, kein Mitleid zeigt mit Opfern, sich für deren grausamen Tod begeistern kann, ist nicht interessiert am Frieden, sondern ist im Unrecht.
DANKE!
Exakt das!
Ich sehe beide Seiten im Recht und beide Seite in tiefem Unrecht. Die Situation dort ist so verfahren, ich glaube nicht, daß – auch schon vor den Terrorakten der Hamas jetzt – eine Lösung zu finden ist. Das ist der Geschichte geschuldet – letztlich hat man seinerzeit ein Land geteilt und “zugeteilt”, in dem schon Menschen lebten und Anspruch darauf erhoben haben. So sieht sich jeder Bewohner als rechtmäßiger Bewohner. Und fühlt sich im Recht mit seinen angemeldeten Ansprüchen – die der andere rundheraus ablehnt. Ich glaube nicht, daß ein Außenstehender die Situation vor Ort wirklich verstehen kann. Und beim meinem Besuch in Israel konnten wir lernen, daß es auch unter den Juden durchaus unterschiedliche Auffassungen gibt. Und auch die Interessen der Regierung nicht unbedingt “im Besten der Bürger” liegt (und auch das wiederum auf beiden Seiten).
Im Grunde eint die jeweiligen Bevölkerung nur die Bedrohung von außen. Israel war tief zerrissen – bis man jetzt geeint zusammensteht. Und beileibe nicht jeder Palästinenser unterstützt die Hamas – aber natürlich rücken die Menschen (sowohl mental als auch ganz real) jetzt zusammen – der Not geschuldet.
Es zerreißt einen hier, das Leid auf beiden Seiten zu sehen – und zu wissen, daß nach Ende des Krieges (und machen wir uns nichts vor, genau das ist es) ganz sicher kein Frieden beginnen wird. Es gibt niemanden – auf keiner Seite – der das “verdient” hat, was passiert.
Vielen Dank Wendy für deinen Kommentar! Verzeihung für die verspätete Reaktion!