Ich habe eine kleine Einzimmerwohnung im Erdgeschoss unseres Hauses. Sie ist eigentlich mein Büro, gleichzeitig mein privates Zimmer und dient hin und wieder als Gästezimmer. Weil in unserer Wohnung kein Zimmer mehr frei war für mich, ein Büro oder Gäste. Man hat ziemlich oft Gäste, wenn man in Cannes an der Côte d’Azur lebt. Zum Beispiel auch während des Filmfestivals. Seit drei Jahren überlasse ich die Wohnung in dieser Zeit einem deutschen Paar, das aus beruflichen Gründen kommt. Wir kennen uns jetzt schon ein bisschen, mögen uns auch, aber ich würde nicht sagen, dass wir Freunde sind. Unser Kontakt ist auf Ihr Hiersein während des Filmfestivals beschränkt.
Sie beabsichtigen, mittwochs abends zu kommen, erfahre ich aus einer Mail. Dienstags fange ich an, meine Dinge, die ich für die nächsten zehn Tage brauchen könnte, aus dem Büro nach oben in unsere Wohnung zu befördern. So viel ist es nicht, aber man weiß ja nie. Ich überlege, räume und ordne. Sauber machen werde ich mittwochs. Da habe ich ja noch den ganzen Tag Zeit. Mittwochs vormittags beginne ich eine große Putzaktion: ich reiße das Fenster auf, staube die Regale ab, beziehe Kopfkissen, entkalke den Wasserkocher, putze das Klo, ziehe das Ausziehsofa von der Wand, um auch dahinter sauber zu machen … wirbele also an allen Stellen gleichzeitig. Kurz vor Zwölf kommt Monsieur nach unten und sagt „Sie haben gerade angerufen, sie sind in einer Stunde da!“ Ich bekomme fast einen Herzschlag. „Ich bin noch nicht fertig!“, schreie ich hysterisch und lasse Wasser in den Eimer laufen, um den Boden zu wischen.
„Mais, arrête ça!“, schimpft Monsieur. „Das ist doch jetzt alles nicht wichtig. Was machst du zu Essen?“
Ich verstehe nicht, wie er jetzt ans Essen denken kann. Außerdem gibt es noch Reste von gestern, die kann er sich warmmachen, wenn er jetzt schon Hunger hat. Aber nein, es geht nicht um seinen Hunger, er sorgt sich um unsere in einer Stunde ankommenden Gäste. „Aber die kommen doch nicht zum Essen“, sage ich, „die kommen wegen der Wohnung.“
„Écoute“, sagt Monsieur, „die haben extra angerufen, um zu sagen, dass sie in einer Stunde da sind!“ Für ihn, den Franzosen, bedeutet das unausgesprochen, dass sie zum Mittagessen kommen. So macht man das hier. „Ach was“, versuche ich zu erklären „das sind Deutsche, die würden das niemals wagen, sich bei uns improvisiert zum Essen einzuladen. Bei uns macht man das nicht. Und die wissen von dieser französischen Sitte nichts. Die haben angerufen, weil sie ursprünglich für abends angesagt waren, jetzt kommen sie schon mittags. Das ist alles.“
Aber ich kann sagen, was ich will, Monsieur ist sicher, das deutsche Paar will bei uns zu Mittag essen. Nach einer langen Fahrt aus Deutschland werden sie ausgehungert sein. „Tu ne comprends pas? Ils ont faim!“ sagt er empört. „DU hast vielleicht Hunger!“, gebe ich zurück. Ein Wort gibt das andere. Ich sehe nicht ein, dass ich alles Stehen und Liegen lasse, um improvisiert ein aufwändiges Essen zu kochen und putze unverdrossen, aber etwas schneller weiter. Monsieur ist verärgert und verzweifelt. Selbst, wenn ich Recht hätte, sagt er, „in Frankreich ist es jetzt meine Pflicht, sie wenigstens zum Essen einzuladen. So macht man das in Frankreich, hast du das immer noch nicht verstanden?” Er sieht mich wütend an. “Sie können dann immer noch ‚nein‘ sagen“, räumt er gnädig ein. Aber damit die deutschen Gäste die Essenseinladung ablehnen können, muss ich erstmal ein Essen gemacht haben. Ich weigere mich. Letzten Endes geht er zum Traiteur und kauft dort für alle un plat préparé, „au moins on a fait façe!“ „On a fait façe à quoi?“, brülle ich ihm hinterher. Später deckt er in der Küche den Tisch. Als ich mit der Putzerei fertig bin, mache ich nun doch noch schnell etwas Karottensalat zum Entrée und putze ein paar Radieschen, um meinerseits gegenüber Monsieur mein Gesicht gewahrt zu haben. Dann warten wir. Denn keinesfalls können wir ohne die Gäste anfangen zu essen. Auch wenn wir jetzt wirklich Hunger haben.
„Tu verras, die kommen nicht zum Essen!“, sage ich zum wiederholten Mal und kaue hungrig ein Radieschen, da fällt nicht auf, wenn es eines weniger ist. Monsieur hat jetzt vielleicht leise Zweifel, was er aber nie zugeben würde. „Die werden mit uns essen“, beharrt er. „Ja“, sage ich, „jetzt vermutlich aus Höflichkeit. Weil sie sich nicht trauen zu sagen, dass sie das nicht wollen.“ „Höflichkeit!“, Monsieur schnaubt. „Man isst doch nicht aus Höflichkeit!“
Um Viertel vor Zwei klingelt es an der Tür. Monsieur öffnet erwartungsvoll die Tür. Es ist nur ein Teil des deutschen Paares, der Mann nämlich, vollbepackt, er will nur schon mal etwas abladen, den Schlüssel entgegennehmen und dann in gleich in die Stadt. „Und deine Frau?“, fragt Monsieur. „Ach, die ist schon ins Festival eingetaucht und ich werde auch gleich …“, antwortet der Mann. „Aber hast du keinen Hunger?“, fragt Monsieur fassungslos und sieht auf die Uhr. „Nein, nein, wir haben vor der Abfahrt was gegessen“, sagt der Mann mit einer wegwerfenden Handbewegung. „Wir haben in Orange übernachtet und sind dort kurz nach Zwölf weggefahren. Da haben wir vorher schnell was gegessen.“
„Siehst du“, sage ich süffisant zu Monsieur.
Der Mann spürt etwas. „Habt ihr etwa Essen gemacht?“, fragt er erschrocken. „Ja“, sage ich, „denn wenn man in Frankreich mittags anruft und sagt ‚in einer Stunde sind wir da‘, dann heißt das, wir kommen zum Essen.“ Der Mann wird rot vor Scham: Niemals hätte er das … er hatte schon Angst, überhaupt mittags anzurufen, weil er uns nicht beim Mittagessen stören wollte, und das Ankommen um halb zwei war ihm auch unangenehm, weil er doch weiß, wir machen immer eine kleine Sieste nach dem Essen. „Muss ich jetzt nochmal was essen?“, fragt er mich leise. „Mach, was du willst“, antworte ich, „Essen ist ja jetzt da. Du kannst es ablehnen, ohne dass ich mein Gesicht verliere.”
„T’as pas un petit creux?“, fragt Monsieur jetzt drängend und entkorkt schon mal den Wein. Nach einer Stunde Fahrt kann man doch sicher schon wieder was vertragen? „Na, gut, ich will ja jetzt nicht unhöflich sein!“, murmelt der Mann. Leider kann Monsieur es nicht verstehen, weil es auf Deutsch gesagt wurde. Beim Essen erklärt der Mann noch einmal lang und breit, dass es niemals seine Absicht war, sich zum Essen einzuladen und so weiter. Monsieur nimmt es schweigend zu Kenntnis. Um kurz vor halb drei, noch vor dem Käse, springt der Mann dann auf, er hat nämlich wirklich eine Verabredung mit seiner Frau in der Stadt. Da muss er jetzt aber doch hin … oder muss er das jetzt absagen, weil er unsere Essenseinladung nicht unterbrechen kann? Er schaut mich hilfesuchend an. „Nur zu“, fordere ich ihn auf.
„Siehst du!“, kann ich es mir erneut nicht verkneifen, nachdem der Gast gegangen ist.
„Vielleicht hast du Recht, was das Verhalten deutscher Gäste angeht“, sagt Monsieur, „aber ich bin doch froh, dass wir ihn eingeladen haben. Und er hat ja gegessen.“
„Ja, aus Höflichkeit“, sage ich.
„Höflichkeit, pah“, macht Monsieur. „Es hat ihm gefallen. Und deutsch hin, deutsch her. Wir sind in Frankreich. So gehört sich das hier. Und ich bin stolz auf diese Tradition.“