Rechtzeitig zum letzten Parlaments-Wahlabend, der zwar erst vier Wochen, gefühlt jedoch schon Ewigkeiten her ist, gab mein Laptop seinen Geist auf, was mich zumindest enthob, das wenig erfreuliche Wahlergebnis zu kommentieren und all die Katastrophenszenarien, die in den Medien diskutiert wurden, weiterzugeben. Falls Sie es nicht wissen sollten, Macrons Bewegung hat keine absolute Mehrheit im Parlament, dort sitzen jetzt auch eine große Anzahl des (extrem-)linken Bündnisses NUPES und fast ebenso viele aus dem (extrem-)rechten Lager um Marine Le Pen. Im Prinzip sollte man darüber froh sein, das wird hier auch immer wieder gesagt, weil so Demokratie aussieht, nicht wahr, und dass der erste Gesetzentwurf von beiden Oppositionsparteien abgeschmettert wurde, ist zwar nicht schön, aber eben das Ergebnis der angewandten Demokratie. “Kompromiss wagen” lautete auch die Botschaft der Premierministerin in ihrer ersten Rede im Parlament, bei der sie kaum zu Wort kam, so sehr unterbrachen, buhten und riefen die Parlamentsabgeordneten von NUPES dazwischen. Juchuh, wir sind da und machen Krach und Opposition.
Nun, als die Grünen seinerzeit in den Deutschen Bundestag einzogen und insbesondere Joschka Fischer dort den Laden aufmischte (“Mit Verlaub Herr Präsident, Sie sind ein Arschloch”), fand ich das klasse und richtig. Vermutlich ist die jüngere französische Bevölkerung ähnlich zufrieden, dass es im Parlament jetzt rund geht. Ich aber bin älter geworden und finde das Herumkrakeelen und das Blockieren, um des Blockierens willen, jetzt ziemlich sinnlos. Der erste Gesetzentwurf, der vorsah, dass im Falle des Auftauchens eines neuen gefährlichen Virus’, bei der Einreise an den Grenzen Frankreichs ein Gesundheitspass gefordert werden sollte, wurde jetzt nicht nur von NUPES, sondern auch von den Rechten abgelehnt, obwohl Marine Le Pen während der Covid-Welle immer forderte, dass die Grenzen geschlossen werden und man nicht alle unkontrolliert ins Land lassen sollte. Jetzt hat sie, völlig unlogisch, dagegen gestimmt und alle ihre Abgeordneten auch, und das vermutlich nur, damit sie sich und NUPES beweisen konnten, dass sie fürderhin die Macht haben, das zu tun. Danach applaudierten sie sich begeistert selbst. Sie hören mich seufzen.
Das Laptop also war tot, und ich wagte mich mittels eines Youtube-Videos an eine Operation am offenen Herzen. Ich schraubte das Laptop, das auf den ersten Blick keine, auf den zweiten dann etwa zwanzig Schräubchen hat, auf und stemmte es auseinander, und siehe da, kaum hatte ich die Tastatur herausgehoben, sprang es wieder an. Zusammengeschraubt aber fiel der Lebenswille meines Laptops augenblicklich wieder zusammen. Ich machte das dreimal, dann suchte und bestellte ich ein neues Laptop in Deutschland, was sich als schwierig erwies, weil der Computerladen meiner Wahl nicht mehr ins Ausland sendet, desgleichen der Computerhersteller, der mich von der deutschen Seite penetrant auf die französische Homepage verweist, auf der ich, als in Frankreich Ansässige, bitte bestellen möge, was ich aber nicht kann, da ich ein Laptop mit deutscher Tastatur möchte. Letzten Endes musste ich es beim großen bösen Wolf bestellen, es kam tatsächlich drei Tage später, aber ich hatte bisher noch nicht mal Zeit und Muße, es einzurichten, ich tippe hier also immer noch auf der rausgeschraubten und leicht wackelnden Tastatur meines fragilen Alt-Laptops.
Viel ist geschehen, ich fürchte, ich erinnere mich nicht mehr an alles. Das 3. Deutsche Filmfestival war, und es war gut besucht! Und es waren tolle Filme! Ich finde es aber schon anstrengend, vier großartige Filme an nur zwei Tagen anzusehen. Die einzelnen Filme bekommen dann nicht genug Raum, finde ich. Aber vielleicht geht es auch nur mir so. Ich war auf jeden Fall nicht in der Lage, die Filme sofort zu bewerten und zu sagen, welchen ich am besten gefunden habe. Aber vielleicht war es der von den Zuschauern mit 7,9 Punkten auf den letzten Platz gewählte “Vor der Morgenröte”, das Exil von Stefan Zweig. (In the fade /Aus dem Nichts von Fatih Akin bekam 9 Punkte; I’m your man/Ich bin dein Mensch von Maria Schrader 8,6; De l’autre côté ebenso von Fatih Akin 8,5 und Transit von Christian Petzold 8,3)
Obgleich ich den Film schon kannte, fühlte ich mich dieses Mal Stefan Zweig, verkörpert von Josef Hader, so nah und litt mit ihm, als er im Nirgendwo im schwülen brasilianischen Urwald von einer brasilianischen Militärkapelle ein sehr holperig dargebrachtes “An der schönen blauen Donau” anhören musste, rührend und absurd gleichzeitig; und wie er darum ringt, Zeit für sich und zum Schreiben zu finden, während alle Welt etwas von ihm will: die Journalisten, sämtliche Kulturvertreter der Exilländer und vor allem Familie, jüdische Freunde und Bekannte, die von ihm dringlichst mit Geld und Visa aus Deutschland gerettet werden wollen.
Und natürlich denke ich auch an den aktuellen Krieg in der Ukraine und kann nicht umhin, die Film-Szenen (auch Transit sah ich aktuell mit anderen Augen!) mit Tetianas Situation zu vergleichen. Da ist man dann in Brasilien oder im schönen Südfrankreich in Sicherheit, alles ist überbordend schön, das Leben im Exilland ist zumindest nicht unangenehm, und manch einer dort weiß nicht mal, dass Krieg (in Europa/in der Ukraine) ist und vor allem, warum, und einen selbst plagt unablässig die Sorge um sein Land und seine Leute. Wie sinnlos, in diesem Land herumzuhängen, als sei man in Urlaub und als sei alles in Ordnung. Stefan Zweig hat sich umgebracht, wozu weiterleben? Er fühlte sich zu alt (mit 60!) und wollte nicht mehr hoffen und darauf warten, ob es ein freies Europa geben könnte.
Tetiana hat Heimweh. Sie ist in Sicherheit, ja, und ja, das Leben in Südfrankreich ist schön, aber ist es nicht ungehörig, hier vergnügt und braungebrannt am Strand zu sitzen, während ihr Land und ihre Leute beschossen werden? Sie will auch gar nicht wirklich etwas aufbauen hier, wäre lieber zurückgegangen, aber ihr Mann möchte seine Familie keiner Gefahr aussetzen. Es gibt, selbst im Westen der Ukraine, immer mal überraschende Raketenangriffe; zwei kleine Flughäfen ganz in der Nähe des Dorfes, in dem Tetianas Mutter lebt, wurden kürzlich beschossen, vier Zivilisten starben dabei. Die Meldung wurde von unseren Medien, soweit ich weiß, nicht geteilt, zu wenig Tote vermutlich. Aber es hat gereicht, dass Tetiana ihren Wunsch zurückzugehen, schweren Herzens aufgab. In der Zwischenzeit haben wir die Kinder für das nächste Schuljahr und sie sich beim Arbeitsamt arbeitssuchend (an-)gemeldet (eigentlich wollte sie sich dort nur für einen Französischkurs einschreiben, aber man befand, ihr Französisch reiche aus und schrieb sie stattdessen als Arbeitssuchende ein). Sie hofft, dass wenn sie im September immer noch hier sind, sie dann Arbeit findet (ihre beiden Diplome werden jedoch hier nicht anerkannt), und wir haben in dem Zusammenhang ein Bankkonto eröffnet. Seit dem 7. Juli sind nun Ferien. Der große M. war ein bisschen traurig, als das Schuljahr zu Ende war, es läuft wirklich gut für ihn in der Schule, er hat viele Freunde und kürzlich wurde er zu einem Kindergeburtstag eines Klassenkameraden eingeladen! Der kleine M., der bislang überhaupt nur vormittags zur Schule geht, fand hingegen, es reiche nun aber mit der Schule, und er ist in den letzten Tagen nicht mehr hingegangen.
Monsieur und ich waren gerade ein paar Tage im Bergdorf. Wir warteten, unter anderem, wieder vergeblich auf einen Handwerker, aber viel entscheidender war, dass dort ein großes mehrtägiges Hochzeitsfest stattfand, und, um es vorwegzunehmen, es war die berührendste und schönste Hochzeitsfeier, die ich je erlebt habe. Es fing schon damit an, dass der ehemalige (deutsche) Schwiegervater die Braut ihrem zweiten Ehemann zuführte. In diesem Sinne ging es weiter. Jedes Wort während der religiösen Zeremonie war tief und bedeutsam. Ich habe kein einziges Foto gemacht, so gefangen war ich von allem. Nach der Zeremonie gab es Musik und angeleiteten provenzalischen Tanz auf dem Dorfplatz (zumindest für die mit validen Knien) und abends einen Apéro für alle, später ein gesetztes Essen für über hundert Personen. Und damit war es noch nicht zu Ende – viele Gäste waren aus Deutschland angereist, eine Frau kam sogar den weiten Weg aus Norddeutschland (in 19 Etappen!) mit dem Fahrrad gefahren!, aus Belgien und aus allen Ecken Frankreichs. Sie wurden alle noch einen oder zwei weitere Tage logiert, verköstigt und bespaßt. Großartig und toll! Und, das sage ich ganz ehrlich, ich fand noch am Vortag, als ich mit drei anderen Frauen etwa 150 ziemlich spät angelieferte Stühle mit Hussen bezog und Schleifen band, Tischdecken bügelte und Servietten, und liebevoll genähte Serviettenringe darum schlang, dass das alles nicht nötig sei, und viel zu viel, und es sah außerdem wieder mal so aus, als würde alles nicht rechtzeitig fertig – und auch die Zeremonie verschob sich um knapp zwei Stunden, weil der Diakon, ein Freund des Bräutigams, der sich um ukrainische Familien kümmert, von diesen am selben Tag zum Dank zu einem “kleinen” Apéro eingeladen worden war, bei dem sich dann aber die Tische unter der Last des aufgefahrenen Essens bogen und er konnte nicht, wie er dachte, nach einer halben Stunde wieder verschwinden, er musste einen Moment bleiben und mit den Menschen essen. Die Hochzeitszeremonie verschob sich und damit alles, der Tanz, der Apéro und das Essen – um halb Drei morgens ging ich schlafen, da war die Hochzeitstorte (hier macht man ein sogenanntes Pièce montée, eine hohe spitz zulaufende “Torte” aus, mit verschiedenen Cremes gefüllten Windbeutelchen, die mit karamellisiertem Zucker zusammengeklebt werden) noch lange nicht angeschnitten.
Das pièce montée also, Sie wollen ein Foto – ich habe das gute Stück zwar gesehen, als es vorbeigetragen wurde, aber nicht fotografiert und beim Anschneiden war ich nicht mehr zugegen, bekam nur einen Tag später noch drei kleine leckere Windbeutelchen nachgereicht, die ich aber sogleich gegessen und nicht fotografiert habe. Das mit den aus dem Web gezogenen Fremdfotos ist ja alles nicht mehr erlaubt. Ich setze Ihnen also ein Rezept hier rein (mit eine franssöhsische Patissier, der eine lustige Englisch spricht); das dort gezeigte pièce montée hat auch ungefähr die Größe “unserer” Torte: drei Windbeutelchen pro Person sind üblich, bei etwa 105 Gästen haben sie also über 300 Windbeutelchen zu backen, mit Creme zu füllen und mit karamellisiertem Zucker zusammenzukleben. Sie können den Film vorspulen, ab etwa Minute 17 geht das “Bauen” los, und am Ende sehen Sie, wie es aussieht.
So, und hier ein zweiter Nachtrag mitten im Text, von Jutta (die aus Deutschland mit dem Fahrrad angereist war!) habe ich ein Foto von dem Original Pièce montée erhalten! Sie sehen, wenn es zu viele Windbeutelchen für die spitz zulaufende Form sind, dann wird irgendetwas angebaut; hier als Podest für das Schokolade-Atomium, das die belgische Familien-Seite symbolisieren soll. Die (Schoko-)Eichhörnchen sind das “Wappentier” des Dorfes. Merci Jutta!
Das muss doch alles nicht sein, dachte ich vorher. Das ist doch alles zu viel. Aber nein, rückblickend, auch nachdem wir all die Hussen wieder von den Stühlen gezogen, die Stühle und Tische zusammengeklappt, die Servietten, die Teller, die Gläser, die Löffel und Messer und Gabeln gezählt und für den Lieferdienst wieder getrennt in die Kartons verpackt haben, nein, rückblickend war es ein großes, rundes, perfektes und unvergessliches Fest. Herzlichen Dank V. und C. dass ich, dass wir dabei sein durfte(n)!
Kleines Schmankerl zum Abschluss: Monsieur und ich schlenderten zum Festzelt, das Dorf war voll mit bekannten und vor allem unbekannten, festlich gekleideten Menschen, eine Gruppe kommt uns entgegen, und eine Frau starrt mich an. “Aber das ist doch die Schriftstellerin!”, ruft sie auf Deutsch. “Hallo! Sie sind doch die Schriftstellerin! Ich kenn’ Sie! Ich hab’ Sie im Fernsehen gesehen!” Das ist mir in meiner kleinen Karriere bislang noch nie passiert, dass mich jemand aus dem Fernsehen “kennt”, und boah, die deutschen Hochzeitsgäste haben sämtlich alle meine Bücher gelesen! Ich sags ja, das Bergdorf ist was Besonderes! Hier passieren einfach unglaubliche Dinge!