Rückblicke

Rechtzeitig zum letzten Parlaments-Wahlabend, der zwar erst vier Wochen, gefühlt jedoch schon Ewigkeiten her ist, gab mein Laptop seinen Geist auf, was mich zumindest enthob, das wenig erfreuliche Wahlergebnis zu kommentieren und all die Katastrophenszenarien, die in den Medien diskutiert wurden, weiterzugeben. Falls Sie es nicht wissen sollten, Macrons Bewegung hat keine absolute Mehrheit im Parlament, dort sitzen jetzt auch eine große Anzahl des (extrem-)linken Bündnisses NUPES und fast ebenso viele aus dem (extrem-)rechten Lager um Marine Le Pen. Im Prinzip sollte man darüber froh sein, das wird hier auch immer wieder gesagt, weil so Demokratie aussieht, nicht wahr, und dass der erste Gesetzentwurf von beiden Oppositionsparteien abgeschmettert wurde, ist zwar nicht schön, aber eben das Ergebnis der angewandten Demokratie. “Kompromiss wagen” lautete auch die Botschaft der Premierministerin in ihrer ersten Rede im Parlament, bei der sie kaum zu Wort kam, so sehr unterbrachen, buhten und riefen die Parlamentsabgeordneten von NUPES dazwischen. Juchuh, wir sind da und machen Krach und Opposition.

Nun, als die Grünen seinerzeit in den Deutschen Bundestag einzogen und insbesondere Joschka Fischer dort den Laden aufmischte (“Mit Verlaub Herr Präsident, Sie sind ein Arschloch”), fand ich das klasse und richtig. Vermutlich ist die jüngere französische Bevölkerung ähnlich zufrieden, dass es im Parlament jetzt rund geht. Ich aber bin älter geworden und finde das Herumkrakeelen und das Blockieren, um des Blockierens willen, jetzt ziemlich sinnlos. Der erste Gesetzentwurf, der vorsah, dass im Falle des Auftauchens eines neuen gefährlichen Virus’, bei der Einreise an den Grenzen Frankreichs ein Gesundheitspass gefordert werden sollte, wurde jetzt nicht nur von NUPES, sondern auch von den Rechten abgelehnt, obwohl Marine Le Pen während der Covid-Welle immer forderte, dass die Grenzen geschlossen werden und man nicht alle unkontrolliert ins Land lassen sollte. Jetzt hat sie, völlig unlogisch, dagegen gestimmt und alle ihre Abgeordneten auch, und das vermutlich nur, damit sie sich und NUPES beweisen konnten, dass sie fürderhin die Macht haben, das zu tun. Danach applaudierten sie sich begeistert selbst. Sie hören mich seufzen.

Das Laptop also war tot, und ich wagte mich mittels eines Youtube-Videos an eine Operation am offenen Herzen. Ich schraubte das Laptop, das auf den ersten Blick keine, auf den zweiten dann etwa zwanzig Schräubchen hat, auf und stemmte es auseinander, und siehe da, kaum hatte ich die Tastatur herausgehoben, sprang es wieder an. Zusammengeschraubt aber fiel der Lebenswille meines Laptops augenblicklich wieder zusammen. Ich machte das dreimal, dann suchte und bestellte ich ein neues Laptop in Deutschland, was sich als schwierig erwies, weil der Computerladen meiner Wahl nicht mehr ins Ausland sendet, desgleichen der Computerhersteller, der mich von der deutschen Seite penetrant auf die französische Homepage verweist, auf der ich, als in Frankreich Ansässige, bitte bestellen möge, was ich aber nicht kann, da ich ein Laptop mit deutscher Tastatur möchte. Letzten Endes musste ich es beim großen bösen Wolf bestellen, es kam tatsächlich drei Tage später, aber ich hatte bisher noch nicht mal Zeit und Muße, es einzurichten, ich tippe hier also immer noch auf der rausgeschraubten und leicht wackelnden Tastatur meines fragilen Alt-Laptops.

Viel ist geschehen, ich fürchte, ich erinnere mich nicht mehr an alles. Das 3. Deutsche Filmfestival war, und es war gut besucht! Und es waren tolle Filme! Ich finde es aber schon anstrengend, vier großartige Filme an nur zwei Tagen anzusehen. Die einzelnen Filme bekommen dann nicht genug Raum, finde ich. Aber vielleicht geht es auch nur mir so. Ich war auf jeden Fall nicht in der Lage, die Filme sofort zu bewerten und zu sagen, welchen ich am besten gefunden habe. Aber vielleicht war es der von den Zuschauern mit 7,9 Punkten auf den letzten Platz gewählte “Vor der Morgenröte”, das Exil von Stefan Zweig. (In the fade /Aus dem Nichts von Fatih Akin bekam 9 Punkte; I’m your man/Ich bin dein Mensch von Maria Schrader 8,6; De l’autre côté ebenso von Fatih Akin 8,5 und Transit von Christian Petzold 8,3)

Obgleich ich den Film schon kannte, fühlte ich mich dieses Mal Stefan Zweig, verkörpert von Josef Hader, so nah und litt mit ihm, als er im Nirgendwo im schwülen brasilianischen Urwald von einer brasilianischen Militärkapelle ein sehr holperig dargebrachtes “An der schönen blauen Donau” anhören musste, rührend und absurd gleichzeitig; und wie er darum ringt, Zeit für sich und zum Schreiben zu finden, während alle Welt etwas von ihm will: die Journalisten, sämtliche Kulturvertreter der Exilländer und vor allem Familie, jüdische Freunde und Bekannte, die von ihm dringlichst mit Geld und Visa aus Deutschland gerettet werden wollen.

Und natürlich denke ich auch an den aktuellen Krieg in der Ukraine und kann nicht umhin, die Film-Szenen (auch Transit sah ich aktuell mit anderen Augen!) mit Tetianas Situation zu vergleichen. Da ist man dann in Brasilien oder im schönen Südfrankreich in Sicherheit, alles ist überbordend schön, das Leben im Exilland ist zumindest nicht unangenehm, und manch einer dort weiß nicht mal, dass Krieg (in Europa/in der Ukraine) ist und vor allem, warum, und einen selbst plagt unablässig die Sorge um sein Land und seine Leute. Wie sinnlos, in diesem Land herumzuhängen, als sei man in Urlaub und als sei alles in Ordnung. Stefan Zweig hat sich umgebracht, wozu weiterleben? Er fühlte sich zu alt (mit 60!) und wollte nicht mehr hoffen und darauf warten, ob es ein freies Europa geben könnte.

Tetiana hat Heimweh. Sie ist in Sicherheit, ja, und ja, das Leben in Südfrankreich ist schön, aber ist es nicht ungehörig, hier vergnügt und braungebrannt am Strand zu sitzen, während ihr Land und ihre Leute beschossen werden? Sie will auch gar nicht wirklich etwas aufbauen hier, wäre lieber zurückgegangen, aber ihr Mann möchte seine Familie keiner Gefahr aussetzen. Es gibt, selbst im Westen der Ukraine, immer mal überraschende Raketenangriffe; zwei kleine Flughäfen ganz in der Nähe des Dorfes, in dem Tetianas Mutter lebt, wurden kürzlich beschossen, vier Zivilisten starben dabei. Die Meldung wurde von unseren Medien, soweit ich weiß, nicht geteilt, zu wenig Tote vermutlich. Aber es hat gereicht, dass Tetiana ihren Wunsch zurückzugehen, schweren Herzens aufgab. In der Zwischenzeit haben wir die Kinder für das nächste Schuljahr und sie sich beim Arbeitsamt arbeitssuchend (an-)gemeldet (eigentlich wollte sie sich dort nur für einen Französischkurs einschreiben, aber man befand, ihr Französisch reiche aus und schrieb sie stattdessen als Arbeitssuchende ein). Sie hofft, dass wenn sie im September immer noch hier sind, sie dann Arbeit findet (ihre beiden Diplome werden jedoch hier nicht anerkannt), und wir haben in dem Zusammenhang ein Bankkonto eröffnet. Seit dem 7. Juli sind nun Ferien. Der große M. war ein bisschen traurig, als das Schuljahr zu Ende war, es läuft wirklich gut für ihn in der Schule, er hat viele Freunde und kürzlich wurde er zu einem Kindergeburtstag eines Klassenkameraden eingeladen! Der kleine M., der bislang überhaupt nur vormittags zur Schule geht, fand hingegen, es reiche nun aber mit der Schule, und er ist in den letzten Tagen nicht mehr hingegangen.

Monsieur und ich waren gerade ein paar Tage im Bergdorf. Wir warteten, unter anderem, wieder vergeblich auf einen Handwerker, aber viel entscheidender war, dass dort ein großes mehrtägiges Hochzeitsfest stattfand, und, um es vorwegzunehmen, es war die berührendste und schönste Hochzeitsfeier, die ich je erlebt habe. Es fing schon damit an, dass der ehemalige (deutsche) Schwiegervater die Braut ihrem zweiten Ehemann zuführte. In diesem Sinne ging es weiter. Jedes Wort während der religiösen Zeremonie war tief und bedeutsam. Ich habe kein einziges Foto gemacht, so gefangen war ich von allem. Nach der Zeremonie gab es Musik und angeleiteten provenzalischen Tanz auf dem Dorfplatz (zumindest für die mit validen Knien) und abends einen Apéro für alle, später ein gesetztes Essen für über hundert Personen. Und damit war es noch nicht zu Ende – viele Gäste waren aus Deutschland angereist, eine Frau kam sogar den weiten Weg aus Norddeutschland (in 19 Etappen!) mit dem Fahrrad gefahren!, aus Belgien und aus allen Ecken Frankreichs. Sie wurden alle noch einen oder zwei weitere Tage logiert, verköstigt und bespaßt. Großartig und toll! Und, das sage ich ganz ehrlich, ich fand noch am Vortag, als ich mit drei anderen Frauen etwa 150 ziemlich spät angelieferte Stühle mit Hussen bezog und Schleifen band, Tischdecken bügelte und Servietten, und liebevoll genähte Serviettenringe darum schlang, dass das alles nicht nötig sei, und viel zu viel, und es sah außerdem wieder mal so aus, als würde alles nicht rechtzeitig fertig – und auch die Zeremonie verschob sich um knapp zwei Stunden, weil der Diakon, ein Freund des Bräutigams, der sich um ukrainische Familien kümmert, von diesen am selben Tag zum Dank zu einem “kleinen” Apéro eingeladen worden war, bei dem sich dann aber die Tische unter der Last des aufgefahrenen Essens bogen und er konnte nicht, wie er dachte, nach einer halben Stunde wieder verschwinden, er musste einen Moment bleiben und mit den Menschen essen. Die Hochzeitszeremonie verschob sich und damit alles, der Tanz, der Apéro und das Essen – um halb Drei morgens ging ich schlafen, da war die Hochzeitstorte (hier macht man ein sogenanntes Pièce montée, eine hohe spitz zulaufende “Torte” aus, mit verschiedenen Cremes gefüllten Windbeutelchen, die mit karamellisiertem Zucker zusammengeklebt werden) noch lange nicht angeschnitten.

Das pièce montée also, Sie wollen ein Foto – ich habe das gute Stück zwar gesehen, als es vorbeigetragen wurde, aber nicht fotografiert und beim Anschneiden war ich nicht mehr zugegen, bekam nur einen Tag später noch drei kleine leckere Windbeutelchen nachgereicht, die ich aber sogleich gegessen und nicht fotografiert habe. Das mit den aus dem Web gezogenen Fremdfotos ist ja alles nicht mehr erlaubt. Ich setze Ihnen also ein Rezept hier rein (mit eine franssöhsische Patissier, der eine lustige Englisch spricht); das dort gezeigte pièce montée hat auch ungefähr die Größe “unserer” Torte: drei Windbeutelchen pro Person sind üblich, bei etwa 105 Gästen haben sie also über 300 Windbeutelchen zu backen, mit Creme zu füllen und mit karamellisiertem Zucker zusammenzukleben. Sie können den Film vorspulen, ab etwa Minute 17 geht das “Bauen” los, und am Ende sehen Sie, wie es aussieht.

So, und hier ein zweiter Nachtrag mitten im Text, von Jutta (die aus Deutschland mit dem Fahrrad angereist war!) habe ich ein Foto von dem Original Pièce montée erhalten! Sie sehen, wenn es zu viele Windbeutelchen für die spitz zulaufende Form sind, dann wird irgendetwas angebaut; hier als Podest für das Schokolade-Atomium, das die belgische Familien-Seite symbolisieren soll. Die (Schoko-)Eichhörnchen sind das “Wappentier” des Dorfes. Merci Jutta!

Piece montée

Das muss doch alles nicht sein, dachte ich vorher. Das ist doch alles zu viel. Aber nein, rückblickend, auch nachdem wir all die Hussen wieder von den Stühlen gezogen, die Stühle und Tische zusammengeklappt, die Servietten, die Teller, die Gläser, die Löffel und Messer und Gabeln gezählt und für den Lieferdienst wieder getrennt in die Kartons verpackt haben, nein, rückblickend war es ein großes, rundes, perfektes und unvergessliches Fest. Herzlichen Dank V. und C. dass ich, dass wir dabei sein durfte(n)!

Kleines Schmankerl zum Abschluss: Monsieur und ich schlenderten zum Festzelt, das Dorf war voll mit bekannten und vor allem unbekannten, festlich gekleideten Menschen, eine Gruppe kommt uns entgegen, und eine Frau starrt mich an. “Aber das ist doch die Schriftstellerin!”, ruft sie auf Deutsch. “Hallo! Sie sind doch die Schriftstellerin! Ich kenn’ Sie! Ich hab’ Sie im Fernsehen gesehen!” Das ist mir in meiner kleinen Karriere bislang noch nie passiert, dass mich jemand aus dem Fernsehen “kennt”, und boah, die deutschen Hochzeitsgäste haben sämtlich alle meine Bücher gelesen! Ich sags ja, das Bergdorf ist was Besonderes! Hier passieren einfach unglaubliche Dinge!

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Am Strand

In aller Frühe zieht mich Monsieur aus dem Bett. JETZT sei die beste Zeit, schwimmen zu gehen, versucht er mich zu überzeugen. Im Prinzip braucht er aber nur jemanden, der ihn zu seinem am anderen Ende von Cannes geparkten Auto fährt, damit er, der frühe Vogel, Sie wissen schon, zu seiner Baustelle fahren kann, um dort Türen zu streichen, auch dazu ist (bei dieser Hitze) die Morgenstund bestens geeignet. Wir haben dort gestern Abend spät, Nationalfeiertag hin oder her, noch geputzt und aufgeräumt, nur all die anderen, die von überallher kamen, um am Strand zu picknicken und um das festliche Feuerwerk zu sehen, hatten die Stadt gnadenlos zugeparkt, und wir fanden beim Nachhausekommen weit und breit keinen Platz. Ich lasse mich also erweichen, setze mir die Kontaktlinsen in die müden Augen, nehme meine gepackte Strandtasche und fahre zunächst Monsieur zu seinem Auto, dann weiter an den Strand. Halb Acht bin ich dennoch nicht die Erste, aber immerhin habe ich noch die freie Auswahl in der ersten Reihe. Kritischer Blick zu den anderen Strandbesuchern, seitdem man uns vor ein paar Jahren in aller Frühe dort die Sachen geklaut hat, habe ich einen Blick für die Gestalten, die sich dort während der Saison immer mal wieder, auffällig unauffällig, aufhalten (und weshalb ich weder Geld noch Telefon mit an den Strand nehme, weshalb ich wiederum keine sommerlichen Meerfotos machen kann). Heute stehen aber, in einiger Entfernung, nur die üblichen (älteren) Strandbesucher. Ebenso kritischer Blick ins Wasser. Nachdem mich vor vierzehn Tagen eine Feuerqualle verbrannt hat und Quallen mehrere Tage in der Bucht gesehen wurden, traute ich mich nicht mehr ins Wasser. Ich erwog sogar ins Schwimmbad zu gehen, aber die Freibäder machen für den Publikumsverkehr erst um 10 Uhr auf, vorher trainieren die Clubs, das ist mir ehrlich gesagt zu spät. Wir waren zwischendurch ein paar Tage in den Bergen, und jetzt hat sich die Quallen-Lage wohl wieder entspannt. Das Meer sieht heute ganz gut aus, nicht so klar wie gestern, kein Wunder nach dem Feuerwerk und dem Ansturm der Massen auf die Strände, kleine Wellen gibt es auch, aber ich schwimme, von Quallen unbehelligt, bis zur großen Boje und zurück. Die große Boje ist vollkommen zugeschissen von den nervösen und ungelenken Jungmöwen, die mich im Wasser bei ihren Flugversuchen beinahe streifen, während sie im Tiefflug, genau wie ich, auf die Boje zuhalten. Uff, geschafft! Da sitzen sie dann, schon so groß wie eine ausgewachsene Möwe, aber noch grau gefiedert und dick aufgeplustert und fiepen ihre im Himmel kreisenden Eltern lange und verzweifelt um Hilfe an; ich bleibe vorsichtshalber auch nicht lang, sehe aber noch, dass sie beim Abflug zur nächsten Boje aufgeregt einen ordentlichen Möwenschiss zurücklässt.

Neulich schwamm ich an einer im Wasser zappelnden Biene vorbei, und beschloss augenblicklich, sie zu retten. Ich zog eine Flosse aus, fischte das Bienchen damit auf und schwamm einflossig und einhändig bis zur Boje, setzte sie dort vorsichtig ab und sprach ihr Mut für den Rückflug zu. Ich hatte dann trotzdem den ganzen Tag ein schlechtes Gewissen, weil ich fürchtete, dass sie den weiten Flug zurück bis zum Festland vielleicht nicht geschafft hat.

Heute habe ich unwissentlich mal wieder den Platz eines mageren und ledrig braungebrannten Rentnerpaares besetzt, das schon seit Ende Juni seine Ferien am Strand verbringt, und zwar, so scheint es, seit Jahr und Tag, genau hier, schräg unterhalb des Kioskes Nummer 17. Es macht ihnen definitiv schlechte Laune, dass ich da liege. Am ersten Tag habe ich es noch nicht verstanden und sah nur verwundert, dass sie, für meinen Geschmack, deutlich zu dicht an mich heranrückten, wo doch noch so viel Reststrand frei war. Ich sah ihm zu, wie er fachmännisch etwa vier Quadratmeter Sand glättete und wie sie, ein fest eingespieltes Team, zunächst die Handtücher, akkurat ausgerichtet, ausbreitete und dann kleine Rückenlehnen daraufstellte, während er jetzt schon den Sonnenschirm, in einem exakt abgezirkelten Abstand zu den Handtüchern, eingrub. Ich hatte die Gelegenheit, sie mehrere Tage zu beobachten. Als Nächstes geht er mit einem Thermometer, das er an einer langen Schnur befestigt hat, ins Meer, um die Wassertemperatur zu nehmen. Heute 27° C. Man kann das auch in der Zeitung finden, oder etwas später beim Bademeister, da steht es auch auf einer Tafel angeschrieben. Ich weiß nicht, welcher Reiz darin liegt, die Wassertemperatur des Mittelmeers zu wissen. Der Strandnachbar ist auf jeden Fall ungeheuer zufrieden damit. Weiter ins Wasser gehen sie aber nicht, zumindest nicht, solange ich anwesend bin. Beide sitzen nun, im Partnerlook, mit einem hellen Strohhut behütet, auf ihren Handtüchern und schauen aufs Meer. Er beobachtet mit einem Fernglas die Jachten und Kreuzfahrtschiffe, die in der Bucht liegen und sucht sie in seiner App. Sie schaut nur.

Sie sind nicht alleine. Ein anderes Paar gehört auch zum Freundeskreis Meer am Kiosk Nummer 17, denen habe ich gestern, da war ich etwas später als üblich, den letzten Parkplatz vor der Nase weggeschnappt, wie sie kurz darauf laut neben mir am Strand verkündeten: “Die Dame in Rot hat unseren Parkplatz geschnappt!” Ich entschuldigte mich pflichtgemäß. Man lächelte mir gnädig zu. Mit der einzelnen älteren Dame, einer Niederländerin, die in der Regel als erste nach mir ankommt, habe ich mich ein bisschen angefreundet. Na gut, angefreundet ist etwas zu viel gesagt, aber Frauen frühmorgens allein am Strand, auch sie Opfer der Quallen, so etwas verbindet. Wir zeigen uns täglich den Zustand unserer Narben und fragen uns nach der Quallenlage ab, bevor wir ins Wasser gehen. “Heute habe ich keine gesehen”, sage ich ihr. “Was nicht heißt, dass es nicht doch welche gibt.” Sie nickt und plantscht dann vorsichtshalber doch nur in Strandnähe herum.

Nach dem Schwimmen ruhe ich mich etwas aus, trinke mein Wasser, kaue ein Stück Rührkuchen und blättere die Zeitung durch, als ich höre, wie man dem um Viertel nach Acht ankommenden braungebrannten Paar bedauernd sagt “Heute gibt es nur noch Platz in der zweiten Reihe”. Ich blicke kurz auf. Sie sind sauer. Sauer ist gar kein Ausdruck. Sie sind empört. Der Tag ist im Eimer. Vielleicht sogar die ganzen Ferien, wer weiß das schon. Unentschlossen stehen sie herum. Zweite Reihe! Undenkbar. Da kann man vermutlich die Schiffe nicht richtig beobachten und überhaupt. Die anderen drei schlagen vor, zusammenzurücken, aber der Platz reicht dennoch nicht für zwei Handtücher und den Sonnenschirm. Missmutig plättet er schließlich in der zweiten Reihe den Sand. Ich entschließe mich zu einer guten Tat, es ist bedeckt und ich werde sowieso nicht mehr lange bleiben, ich ziehe mein Handtuch also ein gutes Stück nach links, gefühlt etwas zu nah zu den mich nun befremdet ansehenden zwei Italienerinnen, die sich dort heute niedergelassen haben. Uff! Der Tag ist gerettet! Der Dank für zwei Meter Sand in der ersten Reihe ist dennoch nur knapp. Aber wer weiß, wenn ich so weitermache, gehöre ich am Ende des Sommers vielleicht doch zum Strand-Ferienklub. Nein, keine Sorge, ich strebe das nicht wirklich an, außerdem gehe ich um halb Neun, sodass sich unsere Freundschaft, zumindest heute, auch nicht mehr vertieft.

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3. Deutsches Filmfestival in Cannes

Hurrah! Tatsächlich planen wir schon das dritte Deutsche Filmfestival in Cannes! Ich konnte mich gar nicht mehr an das erste Deutsche Filmfestival erinnern (schäm), in meinem Gedächtnis ist nur das großartige und super erfolgreiche DEFA-Filmfestival hängengeblieben! Das werden wir, wenn alles gut geht, in diesem Herbst auch wiederholen, und das wird dann das vierte Deutsche Filmfestival! Jetzt aber erstmal zum dritten Deutschen Filmfestival: Wir werden mit dem Kinoclub Cinécroisette und in Zusammenarbeit mit den Goethe-Instituten Marseille und Lille am letzten Juniwochenende in zwei verschiedenen Cannoiser Kinosälen vier deutsche Filme zum Thema: Exil/Diaspora zeigen. Ein fünfter Film hat unseren Vereinspräsidenten überzeugt, da er aber nicht wirklich mit dem Thema Exil/Diaspora zu tun hat, oder der Bezug zumindest von sehr weit hergeholt ist, wird er eine Woche vorher gezeigt, als Auftakt sozusagen, und außerdem als Avant Première, vor dem Filmstart in Frankreich.

Ich bin außerordentlich zufrieden, dass wir zwei Filme von Fatih Akin zeigen werden: Aus dem Nichts und Auf der anderen Seite. Dann werden wir Transit von Christian Petzold sehen und Vor der Morgenröte von Maria Schrader. Von ihr wird auch der alleinstehende Film I’m your man sein: Eine Wissenschaftlerin lebt ein Experiment mit einem menschlichen Roboter. Letzteres ist sehr spannend, weil in Frankreich gerade auch ein Film zu diesem Thema erscheinen wird, der aber mit der typischen französischen Comédiecrew eher ulkig daherkommt: L’homme parfait. Der perfekte Mann existiert, ist aber ein Roboter. Die französische Komödie fliegt intellektuell eher tief, wie man hier sagt, werde ich mir aber ausnahmsweise und nur um des Vergleiches willen, n’est-ce pas, trotzdem im Kino ansehen (ich lerne ja immer noch dieses Land kennen, habe also soziologisches Interesse, haha!)

Sagen wir so: ich schaue mir diese französischen Komödien sogar ganz gerne an, in der Regel aber nur im Fernsehen, oft muss ich wirklich lachen, ich finde, sie sagen so viel über die Frenchies und ihre Art zu leben und ihren Humor aus. Mein französisches Umfeld findet das allerdings weniger lustig. Ich würde mich vermutlich auch dagegen verwehren, wenn man uns Deutsche anhand von deutschen Komödien zu kennen glaubte. Hier musste ich erstmal deutsche Komödien googeln. Gibts was Neues seit Männerpension und Der bewegte Mann? Hm, die deutsche Komödie scheint fest in Til Schweigers Hand zu sein, so ähnlich wie man in Frankreich nicht um Didier Bourdon oder Christian Clavier herumkommt. Falls sich eine dieser oder eine andere deutsche Komödie lohnt, lassen Sie es mich gern bei Gelegenheit wissen. Aber ich schweife ab.

Transit von Christian Petzold kennen Sie vielleicht schon; er lief bereits in Deutschland und in Frankreich, Vorlage war der Roman von Anna Seghers. Petzold hat ihn in das heutige Marseille versetzt, etwas, was mir, als ich den Film seinerzeit sah, weniger gefiel, was sich aber durch den Krieg in der Ukraine und mit der kleinen ukrainischen Familie bei uns zu Hause, plötzlich “richtig” anfühlt. Ich werde ihn also mit anderen Augen noch einmal ansehen.

Zu Stefan Zweig habe ich vor ein paar Jahren schon etwas geschrieben, damals erschien “Die letzten Tages des Stefan Zweig” als BD (bande dessiné, Graphic Novel zu deutsch). Den Film zum selben Thema, kenne ich auch schon, sehe ihn aber unter den bereits erwähnten Umständen gerne noch einmal mit aufmerksamem Blick an.

Beide Filme von Fatih Akin hingegen kenne ich nicht und bin sehr gespannt. Mit beiden Filmen war Fatih Akin sogar in Cannes beim Filmfestival vertreten. Dass ich das 2007 nicht mitgekriegt habe, kann ich verstehen. Ich lebte seit 2005 in meinem Bergdorf und dort ein völlig anderes Leben. Neue deutsche Filme drangen nicht bis zu mir vor, Musik und Bücher übrigens auch nicht. Es interessierte mich auch nicht. Zu diesem Zeitpunkt glaubte ich allen Ernstes, “mit all dem unwichtigen Hype” abgeschlossen zu haben, ich bevorzugte das reale südfranzösische Bergdorf-Leben, das sehr irdisch war, intensiv, auch erschöpfend arbeitsintensiv, auf jeden Fall füllte es mich komplett aus. Ich habe also zwischen 2005 und 2010 ein großes kulturelles Loch. Erst ab 2010, als mich Monsieur aus dem Bergdorf in die kleine Stadt am Meer holte, mir Bücher auf den Schreibtisch legte und mich ins Kino schubste, öffnete ich mich dafür erneut.

Ich lese übrigens (wieder) in “Die Geschichte meiner Filme” (Fatih Akin. Im Clinch. Die Geschichte meiner Filme, Hrsg. von Volker Behrens und Michael Töteberg, Rowohlt 2011). “Am Anfang stand der Wunsch, mit Hanna Schygulla einen Film zu machen.”

Ich mag sehr, wie Fatih Akin darin von der Entstehung seiner Filme erzählt. Sehr unprätentiös, sehr sympathisch. Ich freue mich wirklich so, diese Filme jetzt sehen zu können!

Hier la montée des marches der Filmcrew für Aus dem Nichts / Into the Fade, 2017 in Cannes. Diane Krüger bekam übrigens die Palme für die beste weibliche Interpretation. (Und gerade habe ich nachgeschaut, warum mir dieser Film auch entwischt war, denn das erschien mir jetzt doch merkwürdig, aber wir waren während des Filmfestivals auf Korsika und thematisch in einem “anderen Film”.)

Es wird bestimmt toll. Ich rufe Ihnen also zu: “Wenn Sie zwischen dem 20. und 25.&26. Juni in Cannes (oder Umgebung) sind, kommen Sie dazu!” Und nein, das ist gar nicht so absurd, wie Sie vielleicht glauben. Ich erfahre immer wieder und von sooo vielen Menschen, dass sie “gerade” in Cannes sind oder waren oder sein werden. Ach so, die Zeiten und die Kinos erfahren Sie auf der Seite von Cinécroisette!

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Zwischenruf: Parlaments-Wahlen

Wir waren schon wieder in den Bergen zum Wählen. Dieses Mal wählen wir (ebenfalls in zwei Wahldurchgängen, der nächste folgt schon gleich nächsten Sonntag) die Parlamentszusammensetzung. Im Vorfeld habe ich so viel Papier zugeschickt bekommen von umbenannten und unbekannten Gruppierungen und Parteien, darauf ebenso unbekannte Gesichter, es war völlig verwirrend. Vermutlich hat eine der Tierschutzparteien deshalb ein Entchen als “Kandidaten” gewählt, das ist einprägsam und man versteht, um was es geht.

Das Entchen fehlte aber in meinem Wahl-Papierberg: Keine Tierschutzpartei in meinem Wahlkreis, dafür aber ein “Rassemblement Rural” – eine Art ländliche Wählergemeinschaft. Wir wählen in den Bergen nämlich in einem anderen Wahlkreis, der sogenannten 2. Circonscription, Cannes jedoch ist die 5. Cirsconscription und hat andere Kandidaten, das Entchen wie gesagt. Ich erspare Ihnen und mir, all die kleinen Parteien vorzustellen und konzentriere mich auf die größeren, die natürlich, schon wieder alle anders heißen als eben noch bei der Präsidentschaftswahl!

Jean-Luc Mélenchon zum Beispiel hat es geschafft, alle linken Gruppierungen, einschließlich der klassischen PS, der Sozialistischen Partei, hinter sich zu vereinen (das hat Mitterand seinerzeit zur Präsidentschaft verholfen!), und nennt dieses Bündnis nun NUPES. Nouvelle Union populaire écologique et sociale. Sie wissen nicht, wie Sie NUPES aussprechen sollen? NÜP vielleicht? Nüpès? Oder Nüps? Machen Sie sich nichts draus, das wusste gestern im Fernsehen auch niemand. Klar ist, der Zusammenschluss hat sich ausgezahlt, es gibt ein Kopf-an-Kopf-Rennen mit Macron, dessen Partei auch nicht mehr En Marche heißt, sondern Renaissance (wir berichteten), bei der Parlamentswahl jedoch überraschend unter EC Ensemble Citoyens läuft. Ich fand den dazugehörigen Kandidaten in meinem Papierberg nur, weil dort kleingedruckt in etwa stand “offizieller Kandidat des Präsidenten”. So machen das irgendwie alle, es wird dadurch nichts klarer. Dritte Kraft ist, wen wundert’s, das Rassemblement National, ex-Front National, und damit wir wissen, mit wem wir es zu tun haben, ist Marine Le Pen sicherheitshalber neben ihrem Kandidaten mit abgebildet. Das immerhin ist deutlich.

Wir haben auch bei der Parlamentswahl weiterhin kein Verhältniswahlrecht, sondern Mehrheitswahlrecht und wählen daher nächste Woche erneut (und ich hoffe, mit einer höheren Wahlbeteiligung! Die lag nämlich nur bei etwa 50%!) und zwar unter den Kandidaten der Parteien, die mehr als 25% erreicht haben, alle anderen fallen unter den Tisch. In meinem Wahlkreis geht es um einen Kandidaten des RN oder EC, sprich, entweder zieht ein Kandidat von Extrem Rechts oder einer von Macrons Partei ins Parlament ein. Es ist so knapp dieses Mal, dass es selbst ohne Verhältniswahlrecht passieren kann, dass Macrons Partei im Parlament erstmals nicht die absolute Mehrheit erhält und zukünftig Kompromisse machen muss. In Deutschland kennt man das, in Frankreich nicht. Hier eine deutsche Einschätzung.

Mélenchon, der sich schon als zukünftigen Premierminister sieht, kündigte gestern schon kämpferisch an, als Erstes die Rentenreform zu kippen (er will die Rente mit 60!), außerdem wird alles erhöht, die Rente, der Mindestlohn (SMIG), es gibt mehr Stipendien für Studierende und zuguterletzt will er 800.000 neue Beamtenstellen schaffen. Wie er das alles finanzieren will, ist nicht ganz klar, interessiert seine WählerInnen auch nicht. Im Zweifelsfall besteuern wir die Reichen.

Es bleibt schwierig.

Sie verstehen das französische System nicht? Keine Sorge, damit sind Sie nicht allein. Glücklicherweise ist bei Wikipedia jemand aktiv und zudem tagesaktuell.

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C’est la vie

Seit zwei Tagen kühlt es nachts nicht mehr ab. Tagsüber bis zu 28°C, gefühlte 29°C sagt das Handy. 32°C im Auto. Wir leben überraschend schon mit geschlossenen Fensterläden, stetes Indoor-Halbdunkel, wie sonst nur im Hochsommer. Als ich heute Morgen um halb Neun die Haustür öffnete, um zum Schwimmen zu gehen, schwappte mir schon warme Luft entgegen. Uff. Wir haben Sommer, und das Ende Mai, einfach so. Dabei war uns schlechtes Wetter vorhergesagt worden, Regen und Gewitter. Es regnet nicht. Im Bergdorf ist die Quelle versiegt, aus der das Dorf seit Jahr und Tag gespeist wurde. Wir haben dort oben jetzt “alarme secheresse”, müssen Wasser sparen, dürfen tagsüber nicht gießen, das Auto nicht waschen (das machen tatsächlich die Zweitwohnsitzler aus Monaco gerne hier oben, deshalb muss man es wohl ausdrücklich verbieten), der Brunnen, der, wie in jedem Bergdorf, auf dem Dorfplatz fröhlich plätscherte, ist abgestellt.

Wir müssen Wasser für alle zur Verfügung haben, auch für die Schäferfamilie, ihre Schafe und die fromagerie, die ein bisschen außerhalb leben und arbeiten. Am ersten Wochenende ohne Wasser, es war das erste Wahlwochenende und ein Maximum an Dorfbewohnern war im Dorf, ließ die Bürgermeisterin kurz entschlossen einen Lieferwagen voll stillem Mineralwasser hochfahren. Jeder Haushalt durfte sich zwei oder drei der 6-Packs an Wasser nehmen. Ein paar der Zweitwohnsitzler schrien Skandal. So haben sie sich das Landleben nicht vorgestellt. Ein Mann aus dem Gemeinderat begleitete die jungen unbedarften Männer der Wasserverwaltung aus der Stadt zur Quelle, wo kein Wasser mehr fließt. Tja, sie kratzen sich am Kinn. Sie wissen nicht, was sie tun sollen, auf jeden Fall ist es Freitagabend, stellen sie mit einem Blick auf die Uhr fest, sie haben jetzt Feierabend und fahren zurück in die Stadt. Immerhin hat der Mann aus dem Gemeinderat so viel Autorität, dass er sie zwingt, mit seinem privaten Werkzeug (die jungen Männer hatten nichts, nicht mal eine Rohrzange dabei! Sie kamen den langen Weg aus Nizza völlig unbedarft hochgefahren, nach dem Motto: “Wir machen einen Ausflug in die Berge und schauen uns das erst mal an”) von einer anderen Quelle provisorisch eine Abzweigung zur bestehenden Wasserleitung zu basteln. Daran hat sich bis heute nichts geändert. So haben wir, seit ein paar Wochen schon, wenigstens etwas Wasser im Dorf. Man stellt in den Gärten und unter Regenrinnen Wassertonnen auf, um Regenwasser zu sammeln. Allein, es will auch nicht regnen.

Ok. Hier ist das Filmfestival gleich zu Ende, wir sind bei der Schlusszeremonie, gerade werden die Preise vergeben; dass Zelensky bei der Eröffnung gesprochen hat, ist schon Geschichte, dass kurzfristig der Film Mariupolis 2 des litauischen Filmemacher Mantas Kvedaravicius – nicht im Wettbewerb – gezeigt wurde, wissen Sie vermutlich auch schon. Ich habe ihn nicht gesehen, ich habe überhaupt nichts gesehen dieses Jahr; normalerweise fällt bei unserem Kinoverein immer mal eine Karte ab, aber dieses Jahr nada, niente, nix. Ich bin auch ziemlich desinformiert und käme ja nun sowieso zu spät mit allem Klatsch, das wollen Sie jetzt auch nicht mehr wissen. Als Top Gun, irgendsoein zweiter Teil eines Flieger-Spektakels, Teil 1 ist vor sechsunddreißig Jahren mit dem jungen Tom Cruise gedreht worden, und das Erstaunliche daran ist, dass nicht nur der Film sich nicht verändert hat, auch Tom Cruise sieht sechsunddreißig Jahre später noch so jung aus wie damals: keine Falte und kein Gramm Bauchspeck! Tom Cruise ist so alt wie ich. Ich habe mich verändert in sechsunddreißig Jahren. Insbesondere seit der Menopause. Grrr. Wie macht Tom Cruise das? (Mal abgesehen davon, dass er keine Menopausen-Körperveränderung erleiden muss. Es ist so ungerecht!) Legt er sich zwischen den Filmdrehs immer in einen Gefrierschrank? Nun, ich habe den Anfang des Satzes verloren – als dieses Fliegerspektakel im Palais des Festivals gezeigt wurde, gabs den überraschenden Einsatz einer Kampf-Fliegerstaffel, die zweimal über Cannes donnerte und rot-weiß-blaue Kondensstreifen in den Himmel malte. Ganz schön. Französischer Stolz eben. War aber natürlich ‘ne Überraschung, die nur von den Zuschauern vor Ort allenfalls geschätzt wurde, da sie sahen, was passierte. Ich hingegen saß zuhause und dachte einen Herzschlag lang, wir hätten Krieg. Ich möchte nicht wissen, was Tetiana dachte. Hier werden jeden ersten Mittwoch im Monat Punkt 12 Uhr die Sirenen getestet. Am ersten Mittwoch im April, als der Alarm losging, rannte ich so schnell ich konnte, die Treppen runter, um unsere kleine Familie zu beruhigen: “Test!” sagte ich. “Ist nur ein Test!” Tatsächlich gibt es auch eine Sirene auf der Insel Ste. Marguerite, wie ich jetzt weiß, die während unserem Ausflug (erster Mittwoch im Monat) Punkt 12 Uhr losquäkte. Auch wenn das Geräusch ziemlich penetrant und unangenehm ist, dieses Mal zuckte niemand mehr mit der Wimper. In Nizza wird jeden Mittag, auch hier Punkt 12 Uhr (JEDEN Mittag!), ein Kanonenschlag abgefeuert. Gibt so Traditionen, die ich im Moment weniger schätze.

Wir haben endlich ein neues Gouvernement und eine Frau als Premierministerin, Elisabeth Borne, die ehemalige Arbeitsministerin, wissen Sie natürlich auch schon; nett fand ich, dass sie in ihrer kurzen Ansprache bei der Amtsübernahme sagte, die kleinen Mädchen von heute sollten sich in ihren Träumen kein Limit setzen! So etwas Ähnliches könnte der neue Bildungsminister den Einwanderern Frankreichs auch zurufen, Pap Ndiaye, bisher sehr geschätzter Historiker, hat einen senegalesischen Vater und eine französische Mutter und ist kein Kind reicher Eltern. Er sehe sich selbst als Symbol der “Meritokratie”, also des Aufstiegs durch Leistungsbereitschaft (mériter, etwas verdienen), wie ihn die französische Schule verspricht, sagt er. Und auch als Symbol der “Diversität”.

Die Bewegung von Emmanuel Macron hat sich umbenannt. Das ist echt eine Marotte der Franzosen, ständig alles, vor allem die Namen politischer Parteien und Verwaltungsorgane umzubenennen. Wir Deutschen mögen so etwas ja nicht so gern. Meine Generation ist ja immer noch von der Schokoriegel-Kampagne “Raider heißt jetzt Twix” verwirrt. Die Franzosen nehmen das alles klaglos hin. En marche, heißt jetzt verheißungsvoll Renaissance, Wiedergeburt. Man will sich den Anstrich von Veränderung geben, hat aber doch ein paar Minister auf ihren Posten gelassen, ein Zeichen von Kontinuität und Effizienz.

Was noch? Hier kam überraschend und mit etwas Verspätung ein riesiges Paket voll Schweizer Schokolade für die kleine Familie an, die damit ein zweites Mal Ostern feierte. Gleichzeitig gab es eine große Spende, die mich und auch Tetiana umhaute. An dieser Stelle noch einmal von Herzen Dank! Im Moment geht es ihnen finanziell gut, auch dank Ihrer aller Spenden, und zusammen mit den Nahrungsmitteln vom Resto du coeur kommen sie damit hin. Sie machen keine kostspieligen Sachen, gehen quasi jeden Tag an den Strand, das ist kostenlos, und sie genießen das Meer, den Strand und die Sonne und sind alle drei braungebrannt wie noch nie in ihrem Leben.

Ha! Gerade (21.48 Uhr) wurde die Goldene Palme vergeben: Triangle of Sadness. Passender Film für Cannes ;-) Hier nur einer der drei Trailer.

https://www.youtube.com/watch?v=hOUBXcTz66w

Ich habe gerade einen langen Teil dieses Blogbeitrags gelöscht und damit auch leider die Pointe, die zur Überschrift dieses Textes geführt hat. Es war eine sehr nette Geschichte, aber beim Schreiben war es mir plötzlich unwohl. Ich will nicht mehr so detailliert über Tetiana und die Kinder schreiben. Es ist ein bisschen voyeuristisch und ich will sie nicht ausstellen, wie Tiere im Zoo. Bitte verstehen Sie das.

Ausatmen. Achselzucken. C’est la vie.

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Glück

Wenn Sie mein “Glücksbuch” gelesen haben, dann wissen Sie, dass es für mich die längste Zeit meines Lebens fast unmöglich war, Glück zu spüren. Das Unglück hingegen schien meins zu sein: Traurigkeit, Schwere, Grübeln, ein Hang zur Depressivität, da kannte ich mich aus, das konnte ich alles gut fühlen. Eine Therapeutin bat mich einmal, das Dunkle, das mich ausfüllte, und von dem ich sprach, zu malen. Ich nahm einen schwarzen Farbstift und malte auf einem Bogen Papier großflächig Schwarz. Ich fügte Schicht um Schicht an Schwärze hinzu und habe damals fast den Bogen Papier durchgemalt, denn die Farbstifte gaben einfach kein so intensives Schwarz, wie ich es zeigen wollte, her. “Es ist nicht Schwarz genug” befand ich schließlich resigniert. Sie habe es trotzdem verstanden, versicherte mir die Therapeutin.

Dass ich heute in Südfrankreich lebe, hat, das ahnen oder wissen Sie, mit der Suche nach Licht zu tun. Ich glaubte, die südliche Sonne würde mich wärmen und durchdringen, und das Leben im Süden würde mir die helle Seite des Lebens, Leichtigkeit, Unbekümmertheit, Freude und letztlich das Glück bringen. War natürlich nicht so. Und selbst Jahre später, obwohl ich objektiv betrachtet ein gutes Leben leb(t)e, um das mich viele beneiden, fühlte ich mich die längste Zeit nicht glücklich. Ich spürte es einfach nicht, das Glück.

Ich will jetzt hier nicht mein ganzes Buch und meine “Glückssuche” wiedergeben, aber es soll Ihnen verdeutlichen, dass “Glück spüren” für mich noch immer etwas Besonderes ist.

An einem Mittwoch, in der Zwischenzeit sind es schon drei Wochen her, waren wir mit mehreren ukrainischen Familien auf der Insel Ste. Marguerite vor Cannes. Wir sind ja Mitglieder eines Vereins “Les amis de l’Ile Ste. Marguerite” und schlugen der Vereinsvorsitzenden vor, einmal einen Ausflug für ukrainische Familien zu organisieren. Wir rannten damit offene Türen ein, sie kannte andere Gastgeber und fand die Idee, uns alle bei einem Picknick-Wander-Schwimm-Ausflug auf der Insel zu vernetzen, großartig; innerhalb nur weniger Tage hatten wir einen Ausflugstermin: mittwochs, weil da die kleinen Kinder nicht zur Schule gehen und die größeren nur vormittags Unterricht haben, den sie dann leichter ausfallen lassen können. Außerdem sollte das Wetter, das gerade etwas wechselhaft war, an besagtem Mittwoch gut sein. Wir fanden uns also um 10 Uhr mit unserer kleinen Familie am Fährableger ein; wir waren alle gut gestimmt, ein Ausflug mit dem Boot, hurrah! Ich war Covid-und Knie-bedingt, schon zwei Jahre nicht mehr auf den Inseln gewesen und freute mich, weil ich wusste, wie schön es dort ist. Der große M. freute sich, weil er nicht zur Schule musste, obwohl es dort gut für ihn läuft.

[Kleiner Schul-Exkurs] Ich war erst nicht so glücklich mit der Wahl dieser Schule, hätte die Kinder lieber in der Grundschule in unserem Viertel gesehen, schon, weil sie näher liegt und auch, weil sie weniger “Brennpunkt”-Schule ist, wie das neulich ein junger Pädagoge freundlich und gänzlich unbeschwert äußerte. “Brennpunkt-Schule”. Da musste ich erstmal schlucken. Ob es eine internationale Schule sei, fragte mich Tetiana an einem der ersten Tage, als wir mit anderen Eltern, Großeltern und anderen Abholberechtigten auf die Kinder warteten und wir so viele, ich zögere hier sehr, wie sagt man? Aus Tetianas Sicht zumindest “andere” Nationalitäten sahen. Nein, sage ich, keine internationale Schule. Es ist die Schule des Stadtviertels, versuche ich zu erklären, das wiederum ein “quartier populaire” ist, was nicht mit dem deutschen “populär” zu verwechseln und als “beliebt” übersetzt werden kann; populaire kommt von “peuple”, dem Volk also, es ist eher ein Arbeiterviertel. Die Schule, um das auch zu sagen, liegt quasi neben einem ehemaligen Fabrikgebäude, einer “Miroiterie”, man stellte dort Spiegel her, die aber schon lange als Moschee umgenutzt wird.

“Man sieht diesem Viertel noch die einfache Herkunft von Cannes an. Niedrige Häuschen mit kleinen Innenhöfen drängen sich an manchen Stellen noch aneinander. An anderen Stellen sind sie schon großen, mehrstöckigen Wohnhäusern mit ausladenden Balkons gewichen, die aber auch schon in die Jahre gekommen sind. Das hintere Ende der kleinen Straße sah lange Zeit etwas schmuddelig aus, Autowerkstätten und leerstehende große Hallen zeugen von einer früheren Gewerbetätigkeit. […] Die Stadt hatte die alten Gebäude erworben und sie teilweise abgerissen: Das Viertel sollte aufgewertet werden, mit einem großen Parkplatz und Grünanlagen, mit kleinen geschwungenen Wegen, die zu den höher gelegenen Straßen und zur Kindertagesstätte führten. […] Und schon war in eine der leerstehenden Hallen eine Tanzschule eingezogen.” Ich zitiere mich hier übrigens selbst aus dem 4. Fall meines Krimis “Endstation Côte d’Azur”; ich schicke meinen Commissaire ja gerne in unbekanntere Ecken von Cannes. Jetzt stehen wir also in genau diesem Viertel, das immer noch ein Arbeiterviertel, und damit eben auch Einwandererviertel ist, vor der Grundschule. Tatsächlich gibt es in der Klasse des kleinen M. nur zwei helle, blonde Kinder, eines davon ist der kleine M. aus der Ukraine.

“Brennpunktschule”, das trifft mich dann doch. Ich begann, die Schule gegenüber dem noch sehr jungen Pädagogen, der als Deutschlehrer überwiegend an katholischen Privatschulen eingesetzt wird, zu verteidigen. Sicher, in der kleinen Grundschule wird kein Deutsch gelehrt, Deutsch ist in Frankreich sowieso auf dem absteigenden Ast, wenn ich das mal so salopp sagen darf, auch an katholischen Privatschulen gibt es mit Ach und Krach höchstens eine Deutsch-Klasse. Hier wird aber nicht mal Englisch in der folgenden Klassenstufe angeboten, stattdessen Arabisch oder Portugiesisch, aber ich verteidige die Schule dennoch, denn die Lehrerinnen, die Direktorin, auch die Schüler und Schülerinnen sind super lieb mit den beiden Ms. Die Lehrerin des großen M. gibt ihm jeden Tag eine Stunde privaten Französisch-Sprachunterricht und sie hat ihn bereits für das kommende Schuljahr in die nächste Klasse versetzen lassen. Die Direktorin bemüht sich um eine Lösung, ihm Englischunterricht zu ermöglichen, damit er mit dem in der Ukraine begonnenen Englisch weitermachen kann. Es gab originelle Möglichkeiten, beide Kinder bei der Schultheater-Aufführung mitwirken zu lassen (Tanzen statt Sprechen). Und beide Ms sind in ihren Klassen integriert, des großen Ms bester Freund ist Pablo, der spanische Wurzeln hat. Alle sind dort also wirklich sehr lieb, sehr bemüht und das finde ich toll! [Schul-Exkurs Ende]

Zurück zum Ausflug: Der kleine M. freute sich, weil er sich überhaupt über alles freut, weil das ganze Leben noch neu und abenteuerlich ist. Ich musste zwischendurch an den Film Das Leben ist schön denken, an Roberto Benigni, in der Rolle des Vaters, der seinem kleinen Sohn vormacht, dass das Konzentrationslager nur ein großes Abenteuerspiel sei. Wenn ich den kleinen M. sehe, und vor allem, wenn ich mir die TV-Serien ansehe, die es derzeit gibt, Koh-Lanta heißt etwa eine französische Serie, in der die Teilnehmer auf einer mehr oder weniger unwirtlichen Insel manchmal tagelang nur eine Handvoll Reis zu essen haben und aberwitzige Situationen durchstehen müssen, etwa, so lange wie möglich auf einem senkrecht stehenden Baumstamm im Meer ausharren, dann kommt mir der Film und der Versuch des Vaters, seinem Sohn das Konzentrationslager als Spiel zu verkaufen, gar nicht mehr so absurd vor.

Unser Insel-Abenteuer aber war ausschließlich heiter. Zunächst setzten wir über auf Ste. Marguerite und ließen uns auf der Fähre vom Wind durchwehen, sahen Cannes kleiner und die Insel größer werden und rauschten auf dem offenen Meer an weißen Segelbooten vorbei, und schon sind wir da. Wir schleppten Kühltaschen und Rucksäcke zum kleinen Vereins-Cabanon, einem Hüttchen, nicht weit vom Anlegesteg. Erst jetzt treffen alle Familien und ihre Gastgeber aufeinander. Wir stellen uns vor und erleben fast sofort einen Coup de foudre, einen “Blitzschlag”, meint, einen “Liebe-auf-den-ersten-Blick”-Moment. Der kleine M. (4) und ein ebenso kleiner Junge H. (5) entdeckten sich und fielen sich fast in die Arme: ENDLICH einer in ihrem Alter, der die gleiche Sprache spricht! Beide kleine Jungs waren für den Rest des Tages unzertrennlich, sie rannten zusammen herum, warfen einträchtig Steine ins Meer, fanden gemeinsam Stöcke, die wie Maschinenpistolen aussahen und schossen damit unsichtbare Feinde tot. Sie plapperten und lachten, später beim Essen saßen sie am Tisch zusammen und umarmten sich zwischendurch wie alte Freunde, die sich lange Jahre aus den Augen verloren hatten. Es war sehr rührend. Der große M. (10) und die anderen Kinder, drei Mädchen (2, 7 und 13 Jahre) fanden sich nicht ganz so leicht zusammen. Die Mütter auch nur zögerlich. Nur weil man in etwa die gleiche Situation lebt, muss man sich nicht sofort und vielleicht auch gar nicht sympathisch finden. Drei unterschiedliche Schicksale, zwei der Frauen haben ihre Männer, die Mädchen ihre Väter verloren. Alle drei Mütter mit ihren Kindern leben bei nur einem französischen “Gastgeber”paar, das zunächst nur vier Personen aufnehmen wollte, aber letzten Endes die dritte 3-Personen-Familie auch noch nahm. So bilden neun Personen eine Wohngemeinschaft in einer, zugegeben, sehr großen Wohnung in einer schicken Appartmentanlage, wo allerdings die Nachbarn über den unerwarteten Zuzug von drei sehr lebendigen kleinen Kindern nicht allzu begeistert sind. Es hagelt Beschwerden von allen Seiten. Erschwerend kommt hinzu, dass die drei Frauen und alle Kinder bislang kein einziges Wort Französisch sprechen, wozu auch, sie wollen alle so schnell wie möglich wieder zurück; in der Zwischenzeit gibt es dieselben Themen wie bei uns: Schule, Krankheiten, Behörden. Darum kümmert sich vor allem er, um das Essen (Einkaufen, Kochen) und den Haushalt kümmert sie sich. Auf lange Sicht wird es dort so vielleicht nicht funktionieren. Das Gastgeberpaar (Mitte 70), bei allem vom Herzen getragenen Engagement, ist manchmal erschöpft.

Wir machten zunächst gemeinsam eine Runde um den Westzipfel, den, wie ich finde, schönsten Teil der Insel, wir Gastgeber tauschten uns aus, die jungen Frauen fanden sich zusammen, die Kinder warfen begeistert Steine ins Wasser, setzten ein Plastikschiffchen in die Wellen und balancierten auf den Klippen. Später bereiteten wir ein Picknick vor und saßen an einem langen Tisch zusammen; alle haben etwas beigetragen, Tetianas belegte weiche Weißbrötchen sind als erstes verschwunden, sie scheinen den Kindern am vertrautesten zu sein, sie schmausten sie mit vollen Backen. Mein Schokoladenkuchen (Fondant au chocolat) am Ende findet aber ebenso reißenden Absatz. Dazwischen gibt es Salate, salzige Tartes, Aufschnittplatten und Pizza vom nahen Insel-Restaurant.

Die Jungs rannten schon wieder mit Stöcken im Häuserkampf um die kleinen Cabanons, die kleinen Mädchen schwirrten ebenfalls herum. Nur der große M. saß alleine auf einem Steinbänkchen und guckte aufs Meer. Ob er traumatisiert sei, fragte mich der französische Gastgeber sorgenvoll. “Nein”, beruhigte ich ihn, es sei alles in Ordnung (soweit man das sagen kann). Aber warum er denn nicht mit den anderen Kindern spiele, wunderte sich der Gastgeber weiter. Das sei doch nicht normal, findet er. Nun, ich finde es ganz normal, die Kleinen sind ihm zu klein, die Dreizehnjährige zu “erwachsen”, also bleibt er für sich, erkläre ich achselzuckend. Ist schade, dass kein Kind in seinem Alter dabei ist, aber auch nicht weiter schlimm, finde ich. Aber der Gastgeber gab seine Einschätzung jetzt an die anderen Franzosen weiter. Alle sahen zu M. und nickten ernst. Er ist bestimmt traumatisiert! Vielleicht braucht er psychologische Betreuung, schlug man mir wohlmeinend vor. Herrjeh. Ein Kind, das nicht sofort “sozialisiert” und mit den anderen Kindern spielt, hat in den Augen der Franzosen ein Problem. Der Sohn einer tschechischen Freundin, seinerzeit ein stiller Junge, der gerne Schach spielte, wurde bei einem Schüleraustausch von seiner französischen Gastfamilie als “therapiebedürftig” eingestuft, nur weil er nicht dieses französische Sozial-Gen verinnerlicht hatte. Französische Kinder werden hier von klein auf in Gruppen gesteckt, und “sich dort sofort Freunde zu machen” ist das Wichtigste überhaupt. In der Schule gibt es keinen festen Klassenverband über mehrere Jahre hinweg, wie ich das zumindest aus meiner Schulzeit aus Deutschland kenne, sondern jedes Jahr wird bewusst alles wieder durcheinandergewürfelt. Sich in der neuen Klasse zurecht und schnell Freunde zu finden, ist jedes Schuljahr wieder eine (von der Schule und Gesellschaft gewollte) kleine Herausforderung. Dass der tschechische Junge etwas weniger sozial-aktiv war, machte ihn suspekt. Irgendwas musste mit ihm nicht stimmen. Der Schüleraustausch wurde dann abgebrochen, seine Mutter war mit dem Besuch beim Psychologen, den die französische Gastfamilie dringlich forderte, nicht einverstanden. Dann könnte sie ihn keinesfalls die unglaublich lange Zeit von einer weiteren Woche behalten, befand die französische Familie. Daran musste ich denken, als die Franzosen den großen M. sorgenvoll betrachteten. Glücklicherweise verstand Tetiana das alles nicht und der große M. schaute, vollkommen unbehelligt von der Traumatismus-Debatte, weiterhin aufs Meer.

Nach dem Essen umrundeten alle außer Monsieur und mir die Insel, sie erklommen das Fort und besuchten das Museum des Mannes mit der Eisernen Maske. Sie wollten zum Schluss auf der Südseite der Insel schwimmen gehen, was sie dann aber nicht konnten, “wegen der Bäume”, erklärte mir Tetiana später. “Welche Bäume?” “Die kleinen Bäume im Wasser.” Ich verstehe es immer noch nicht. “Der Wald im Wasser” findet sie ein anderes Wort und macht eine wogende Geste mit der Hand. Ah! Die Posidonie! Keine Algen, sondern Neptungras wächst dort und die Kinder trauten sich nicht, dort ins Wasser zu gehen oder darüber hinweg zu schwimmen.

Monsieur und ich waren vormittags schon genug gelaufen, ich wollte meine Knie nicht überfordern, ich war zum ersten Mal nach genau einem Jahr (und dank einer erneuten Kortisonspritze) ohne Gehhilfe und ohne Schmerzen überhaupt so weit gegangen! Wir zogen uns zu einer Sieste wieder in den Westteil der Insel zurück. Dort dösten wir im Halbschatten, sahen auf das türkisfarbene Meer mit den weißen Booten, gingen immer mal Schwimmen im glasklaren, nicht allzu tiefen und daher nicht allzu kalten Wasser, ließen uns von der Sonne trocknen und wärmen. Nur wenige Menschen waren da, an diesem Mittwoch Nachmittag. Was für ein Luxus, und dann noch an einem normalen Wochentag, hier sein zu können.

Ich genoss den Moment zutiefst und war tatsächlich nur im Hier und Jetzt und nicht gedanklich irgendwo anders, dachte nicht an das, was ich alles machen müsste, ich war einfach nur da. Ich war so erfüllt und dankbar, dass ich tatsächlich etwa drei Kilometer gelaufen war, und dass ich überhaupt hier sein konnte an diesem unglaublich schönen Ort, umgeben von so viel Blau, so still und friedlich, die Wellen plätscherten leise ans Ufer, wie wundervoll.

Eine Freundin rief an, “wie gehts?”, fragte sie, wie man das hier immer fragt. Ich versuchte, zu erklären, was ich fühlte. “Euphorisch” vermutete mich die Freundin am Ende meiner Ausführungen, aber nein, ich war nicht euphorisch, ich war tief durchdrungen von Dankbarkeit und Glück. Boah!

Ich sammelte ein bisschen Müll, aber auch da gab es, zu meiner großen Freude, nur wenig zu finden, vielleicht auch, weil die Saison noch nicht wirklich begonnen hat.

Wir nahmen das letzte Boot zurück und sahen auf der Überfahrt nun die Insel im rosafarbenen Abendlicht kleiner und Cannes wieder größer werden. Wieder an Land wurden Telefonnummern und französische Küsschen ausgetauscht. Der kleine H. küsste im Überschwang den kleinen M., aber dem war diese Küsserei jetzt doch zu viel, und er wischte sich zumindest Hs Kuss energisch wieder von der Backe.

Der große M. und die dreizehnjährige N. hätten sich auf dem Insel-Spaziergang dann doch angenähert, berichtet mit der Gastgeber vertraulich und sichtbar erleichtert. Sie seien zusammen gelaufen, hätten sich unterhalten und sogar gelacht! Es sei alles gut, versichert er mir, ich müsse mir keine Sorgen machen. Na, da bin ich aber froh.

Später warteten wir auf den Bus, der müde gerannte kleine M. jammerte unzufrieden herum, weil er sich irgendwohin setzen wollte, aber es keinen Platz gab. Kurzerhand hob ich ihn auf ein hohes schmales Mäuerchen und blieb vorsichtshalber neben ihm stehen. Etwa dreißig Sekunden lang fand er das toll da oben, dann veränderte sich sein Gesichtsausdruck. “Tu veux descendre?” fragte ich ihn. Willst du runter? “Oui”, sagte er. Ich konnte gar nicht glauben, dass er mich verstanden hat und fragte noch einmal nach. “Tu veux descendre?” “OUI!”, antwortete er jetzt eindringlich und sah mich mit einem vorwurfsvollen “Das habe ich doch eben schon gesagt-Blick!” an. Na sowas! Ich holte ihn von der Mauer und setzte ihn auf die Knie von Monsieur, der nun auf dem Bushaltestellen-Wartebänkchen einen Platz gefunden hatte. Monsieur lehnte sich müde an die Rückwand der Haltestelle, der kleine M. lehnte sich müde an Monsieurs Bauch.

Was für ein Tag!

ps: weil ich es vermutlich nicht schaffe, rechtzeitig noch einen anderen Text zu schreiben, hier der Hinweis in eigener Sache:

Heute!!! gerade erfahren, dass es sogar HEUTE schon ist, jetzt gleich im ZDF, in der Sendung Hallo Deutschland, gibt es einen kleinen Beitrag über mich, Monsieur und Cannes (jenseits der Inseln). Uiuiui, wir sind so gespannt! (ab Minute 23:30)

Und hier ist der Link ausgekoppelt

pps: ich entschuldige mich für die vielen Präsens- und Vergangenheit-Uneinheitlichkeiten. Ich habe den Text vor knapp drei Wochen im Präsens begonnen, fand es jetzt aber nicht mehr passend und änderte es; vermutlich hätte es aber niemanden gestört, es hätte den Text nur lebendiger gemacht. Tant pis, wie der Franzose sagt, jetzt ist es so.

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Afterwork Concert

Der Himmel über Cannes

Gestern waren wir zum krönenden Abschluss dieser vollgestopften Woche bei einem Afterwork-Concert im Park der wundervollen Médiathek in der Villa Rothschild. Die Dame des Kleingartenvereins, Annette, die ich jetzt nur noch Annette du Jardin nenne, hatte uns darauf aufmerksam gemacht. Es spielte das Orchèstre National de Syldavie. Ich musste erstmal googeln, wo dieses Syldavien liegt, von dem ich noch nie gehört hatte. Irgendwo in Osteuropa vermutete ich, zwischen Moldavien und Transsylvanien vielleicht? Ein klitzekleiner Stadtstaat wie das Herzogtum Seborga in Italien? Haha. Weit gefehlt. Syldavien ist ein Fantasiestaat aus einem Tintin-Comic, ein Land, das in einen Konflikt mit dem benachbarten expandierenden Staat Bordurien gerät. Ha!

Konzert im Park

Ich habe den Vormittag damit verbracht, über den achten Band von Tintin, deutsch Tim und Struppi, Ottokars Szepter, nachzulesen. Die Geschichte könnte aktueller nicht sein, aber tatsächlich verarbeitete Hergé, der Schöpfer der Tintin-Serie, darin den “Anschluss” Österreichs. Ottokars Szepter erschien nämlich schon 1938 und sogar in Deutschland! Wie der Band der deutschen Zensur entgehen konnte, ist nicht ganz klar, immerhin stiehlt Tintin darin ein “bordurisches” Kampfflugzeug, deutlich erkennbar als eine Messerschmitt; aber vermutlich hielt man das fiktive Syldavien für einen “Balkanstaat”, in dem es ständig “Vorkommnisse” dieser Art gab. Zusätzlich hatte man in der Übersetzung sprechende Namen ausgetauscht: der Staatschef Müsstler, eine Zusammenziehung der Namen Mussolini und Hitler, wurde zum unauffällig osteuropäisch klingenden Rawczik. Tintin schafft es übrigens, Syldavien vor der feindlichen Invasion zu beschützen!

Ich finde das gerade sehr interessant, denn bisher konnte ich mit Tintin nicht besonders viel anfangen; ich fand die Geschichten langweilig, den klaren Zeichenstrich altmodisch, und die Darstellung der Themen, aus heutiger Sicht, sprachlich, zeichnerisch und politisch nicht mehr korrekt (Kolonialismus und offener Rassismus im Band Tintin im Kongo, was übrigens auch in einer aktuellen Neuauflage nicht mit einem Vor- oder Nachwort versehen wurde!), Tintin einen nervigen Streber, und generell gefällt mir dieses Männeruniversum nicht, in dem die einzig vorkommenden Frauen übergewichtige kreischende Operndiven oder resolute Hausangestellte sind. Letzteres sagt natürlich viel über das Frauenbild Hergés aus, oder vielleicht auch über seine Homosexualität? Dazu gibt es bis heute keinerlei offizielle Aussagen. Der Journalist und Tintin-Experte Michael Farr widerspricht (in diesem Interview zu seinem Buch über die Recherche, Vorbilder und Hintergünde der Tintin-Abenteuer) dieser Vermutung deutlich. Kritik an Tintins “asexueller Kindlichkeit” wird damit begründet, dass die ersten Geschichten (ab 1930) in der katholischen Presse veröffentlicht worden seien, und so von Jungen wie Mädchen gleichermaßen gelesen werden konnten.

Orchestre National de Syldavie

Tintin habe ich nicht in meiner Kindheit gelesen, Tintin ist mir erst als Erwachsene in Frankreich begegnet; die geschichtliche Aktualität der einzelnen Bände zu ihrer Zeit und die akribische Recherche dahinter, habe ich bis eben nicht gewürdigt. Ich habe ein paar Bände von Patrick geerbt, in die ich gerade gerne einen erneuten Blick werfen würde, vor allem würde ich jetzt gerne “Ottokars Szepter” bewusst lesen, – die Bände befinden sich allerdings noch in meinem Büro, und gerade ist die kleine Familie unterwegs.

Das alles zum Hintergrund des Nationalorchesters von Syldavien, das sich musikalisch dann doch in einem grenzenlosen Osteuropa verortet: polnisch, russisch, ungarisch, rumänisch … jiddisch, tsigane … Die junge und alternativ angehauchte Gruppe tritt sonst an anderen Orten auf (Kneipen, Straßenränder, Festivals, auf jeden Fall seien ihre Konzerte mit Alkoholausschank begleitet, ließen sie mehr als einmal hören), zu anderen Zeiten (spät abends) und vor anderem Publikum (jünger, stehend und tanzend). Sie sagten es mehrfach an diesem frühen Abend und wunderten sich selbst vermutlich am meisten darüber, wie sie es in dieses Cannoiser Ambiente verschlagen hatte.

Denn ja, alles war wunderschön, perfekt geradezu, aber es war eben typisch Cannes und es war Cannoiser Publikum anwesend: nicht bourgeois, aber doch gediegen und hüstel altersmäßig überwiegend jenseits des Arbeitslebens, damit bekommt das Wort Afterwork eine ganz neue Bedeutung. Und auch im wahrsten Sinne gesetzt: Man lag entweder schick im Liegestuhl oder saß auf Picknickdecken, trank hier und da mitgebrachten Champagner und ließ sich bespielen. Niemand sang mit, niemand klatschte oder tanzte und hoppste mit einer Kippe und einer Flasche Bier in der Hand herum. Nee, so ginge das nicht, sagte der Sänger resigniert nach dem zweiten Lied, sie seien das anders gewohnt, sie wollten mit dem Publikum zusammen feiern (der fehlende Bierausschank wurde mal wieder erwähnt), und dazu müsse etwas passieren: Er bringt uns bei, manchen Refrain mitzusingen, das klappte, etwas zögerlich zunächst, aber dann wurde im Laufe des Konzerts doch hier und da mit dem Fuß gewippt, der Kopf bewegt und immer mal wieder rhythmisch in die Hände geklatscht. Am Ende des Konzerts, buchstäblich zum letzten Lied, da war die Sonne schon weg und es war frisch geworden, und vielleicht bekamen sie das Publikum auch deshalb auf die Füße, auf jeden Fall tanzte man auf dem Gänseblümchendurchsetzten Rasen, den man sonst nicht betreten darf, ein bisschen vor und zurück.

Es wird getanzt

Meine Knie-Unbeweglichkeit macht ja aus mir auch eine gesetzte Seniorin, ich hoppse auch nicht mehr herum, weder am frühen noch am späteren Abend, Alkohol trinke ich auch nicht, insofern fehlte mir der von der Band vermisste stimmungsfördernde Bierausschank überhaupt nicht. Ich habe es sehr genossen, den schönen und friedlichen Rahmen, das Draußen-Sein, und besonders die für Cannes so ungewöhnliche Musik.

Tetiana und den Jungs gefiel es auch, den Jungs zumindest bis zu einem gewissen Moment, dann war es ihnen zu langweilig, obwohl sie zwischendurch durch den schönen Park rannten. Aber es war eben keine Kinderveranstaltung. Daran konnten auch die abwechselnd in ukrainisch und französisch vorgetragenen Texte und Gedichte von Taras Schewtschenko, dem ukrainischen Nationaldichter, vor dem Konzert nichts ändern. Eine junge ukrainische Schauspielerin deklamierte dramatisch Das Vermächtnis in ukrainischer Sprache, die Kinder lauschten überrascht, es war ihre Sprache – aber es blieb vermutlich zu abstrakt. Tetiana, die Theaterschauspielerin ist, und die mit ihrem Mann ein Theater in Ternopil leitet(e), suchte den Kontakt zu der jungen Frau. Aber sie wurden keine Freundinnen. Die junge Frau hat abgeschlossen mit der Ukraine, sie will Filmschauspielerin werden, hofft, während des im Mai stattfindenden Filmfestivals Kontakte zu knüpfen. Irgendwann, wenn “alles vorbei” ist, Theater in Ternopil zu spielen ist für sie keine Option.

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Kleine Nachlese zur Wahl

Zweiter Wahldurchgang

Nun, Sie wissen das alles schon: Emmanuel Macron ist gestern für ein weiteres Quinquenat, für weitere fünf Jahre, als Präsident gewählt worden. Wir haben, wie gehabt, im Bergdorf gewählt, und zwar im frisch renovierten Mehrzwecksaal, in dem ein altes Foto des Dorfes vor einer beeindruckenden blauen Wand hängt.

Châteauneuf d’Entraunes

Wir kennen uns ja alle, bei 89 Personen, die auf der Wählerliste stehen, keine Überraschung. Insofern bleibt fast jede und jeder, nachdem sie oder er gewählt hat, für einen Moment im gut geheizten Wahlbüro hängen und man plaudert über dies und das. Wir verbringen dort am Nachmittag eine gute Stunde, und plötzlich erhalte ich auf dem Smartphone über einen Facebook-Freund via belgische Presse die Wahlergebnisse der Französischen Überseegebiete, France Outre-Mer, das wusste ich für die Staatsbürgerprüfung auch schon mal auswendig, wieviele es gibt und welches der Inselchen ein département und welches territoire ist, egal, ich verlinke es Ihnen hier, falls es Sie interessiert. Im Prinzip sind diese Inseln Überbleibsel einer kolonialistischen Zeit, und das Verhältnis zum “Mutterland” ist bis heute sehr kompliziert, um nicht zu sagen angespannt. Die Menschen in den Überseegebieten fühlen sich oft nicht gesehen und vergessen. Und sie haben entsprechend gewählt: In Guadeloupe haben 69 Prozent für Marine Le Pen gestimmt, es ist die erste Zahl, die ich sehe und mir bleibt der Atem weg. Ich prüfe, ob es ein Fake ist, denn wieso kann man denn diese Zahlen schon wissen? Nun, die Überseegebiete wählten aufgrund von Zeitverschiebung schon am Vortag, damit die Ergebnisse am Wahltag in Frankreich vorliegen. Und die Belgische Presse ist ja nicht verpflichtet, sich an die französischen Zeitvorgaben zu halten. Auf jeden Fall bewirken diese Zahlen, dass all meine Zuversicht in die letzten Umfragewerte zu sinken beginnt. Und wenn sich alle getäuscht hätten? Wenn die Wut der “kleinen Leute”, des “Volkes”, dem Marine Le Pen so aufrührerisch bei ihrem letzten Meeting zurief: “Peuple de France, lève toi!”, wenn die Wut also viel größer ist und wenn sich die ebenso wütenden Extrem-Linken viel stärker enthalten, als vermutet? Wir gehen bedrückt wieder nach Hause und ich putze in den nächsten zwei Stunden Fenster, um irgendwie beschäftigt zu sein. Zur Stimmenauszählung um 19 Uhr (in kleinen Gemeinden wurden die Wahlbüros schon um 19 Uhr geschlossen) finden wir uns wieder ein. Wir sind ungefähr so viel Publikum wie Wahlhelfer. Immerhin hat unser kleines Dorf mit 73 abgegebenen Stimmen eine Wahlbeteiligung von 80% erreicht, die Bürgermeisterin ist zufrieden. Die Auszählung ergibt: 37 Stimmen für Macron, 28 für Marine Le Pen, eine ungültige Stimme und ein paar “votes blancs”, also Wähler, die keinen von beiden Kandidaten gewählt haben. Das stimmt mich recht froh, wenn man bedenkt, dass in diesem Dorf im ersten Durchgang die Mehrheit für Zemmour und Le Pen war. Ist das ein Stimmungsbild für ganz Frankreich? Niemand im Saal gibt zu erkennen, ob er sich freut oder enttäuscht ist. Aber ich weiß in der Zwischenzeit, welcher meiner eigentlich sonst frequentablen Dorfmitbewohner wen wählt und halte mich im Kreise der rechten Wähler zurück. Man weiß ja auch noch nicht, wie es anderswo ausgegangen ist.

Was für eine Erleichterung, als um 20 Uhr die Wahlergebnisse offiziell sind! Und Macron hat einen ordentlichen Vorsprung, uff! Wir sind bei Freunden und trinken Champagner und ich stoße immerhin mit Champagner an (und trinke dann Wasser)!

Ich überspringe mal Marine Le Pen, die behauptete, der Wahlkampf sei illoyal und aggressiv ihr gegenüber verlaufen; etwas, was ich so nicht wahrgenommen habe, aber vermutlich hat es ihr nicht gefallen, dass Macron in dem Rededuell ihre Nähe zu Putin (sie hat einen Kredit für ihren letzten Wahlkampf von einer russischen Bank bekommen, den sie noch nicht zurückgezahlt hat) ausdrücklich erwähnte.

Macron erscheint kurz vor 22 Uhr symbolisch zu den Klängen der Europahymne, Freude schöner Götterfunken, auf dem Champ-de-Mars vor dem Eiffelturm. Er läuft langsam, hält seine Frau an der Hand, und sie sind umgeben von etwa zwanzig Kindern seiner Mitarbeiter: Sehr symbolisches Bild: Gemeinsam (sein Wahlslogan lautete auch “avec vous”) und vor allem mit der jungen Generation, Zukunft, unausgesprochen steht da auch Klima.

Avec vous

Heute sehe ich die Zahlen der anderen Städte und Gemeinden, in Paris wurde Macron mit 85% gewählt! Und selbst in Cannes hat Macron ein paar Stimmen mehr als Marine Le Pen bekommen! Ebenso in Nizza und noch hier und da, wie in unserem Bergdorf! Damit ist unser Département Alpes-Maritimes erstmals nicht komplett dunkelblau auf der Karte (bzw. nicht caca-d’oie, nicht gänsekackebraun, wie auf dieser Karte).

Heute wird den ganzen Tag schon darüber diskutiert, wen Macron als Premierminister ernennen wird. Der Premierminister stellt nämlich das Gouvernement zusammen. Sie erinnern sich, Mélenchon brachte sich selbst ins Spiel. Man spricht hier von einer cohabitation, wenn der Premierminister deutlich aus einem anderen politischen Lager kommt und damit die Position des Präsidenten schwächt. (Erläuterung dazu siehe auch hier unter dem Punkt “Stellung”). Es ist nicht vergleichbar mit der deutschen Koalition, die hier so nicht denkbar ist. Angeblich sind derzeit 66% der Franzosen für eine solche cohabitation, denn Macron sei mit vielen Stimmen von Menschen gewählt worden, die nicht explizit ihn und seine Politik, sondern ausschließlich Marine Le Pen verhindern wollten. Andere sagen, die Mehrheit habe nun mal Macron und sein Programm gewählt und man wolle, dass er das durchziehe. Dazu will man keinen geschwächten Präsidenten und sie lehnen daher eine cohabitation ab.

Trotz seiner Erfahrung und trotz der Ankündigung, dass seine zweite Amtszeit anders aussehen werde als die vergangene, dass er alle im Blick habe, auch die Wähler von Marine Le Pen, und dass er niemanden “am Wegesrand vergessen würde”, wird es sicherlich ein schwieriges Quinquenat für ihn und sein zukünftiges Gouvernement. Die ersten Demonstrationen haben schon begonnen.

Symbolbild: es bleibt stürmisch

Präsident Macron hat übrigens seinen Sieg gestern auch nicht ausschweifend in einem Luxusrestaurant gefeiert (wie etwa Sarkozy seinerzeit), und auch kein Bad in der Menge genommen, sondern sich alsbald zurückgezogen in La Lanterne, klingt ein bisschen wie eine Eckkneipe in Köln, Et Laternsche, ist aber bei aller “Nüchternheit des Rahmens” ein Jagdschlösschen bei Versailles. Sein letztes Meeting vor der Wahl hatte Macron hingegen in Marseille. Dort könnte er beim nächsten Mal vielleicht diesem Restaurant mit dem sprechenden Namen République einen Besuch abstatten: In Marseille versucht ein Restaurant Menschen zusammenzubringen, die sich sonst nicht begegnen. Eine Steigerung der Restos du Coeur, die so ähnlich angefangen haben. Den Hinweis (und den Text) verdanke ich Karin P. aus Genf. Und leider steht der feine Text zu diesem tollen Restaurant (derzeit noch?) hinter einer Paywall.

Argh. Ein r, ein r, warum sagte mir niemand, dass da ein r in der Überschrift fehlte? Na gut, jetzt ist es da.

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Ein Garten, sechs Hühner, Ostern und etwas Politik

Die Weltlage wird immer düsterer. Bei uns ist das Leben, vordergründig zumindest, hell, aber auch sehr intensiv. So sehr, dass ich in den letzten Tagen schon wieder zu erschöpft zum Schreiben war. Hinzu kommt, dass die kleine ukrainische Familie und ihre Angehörigen in der Ukraine in der Zwischenzeit wissen, dass ich Autorin bin. Sie folgen mir auf meinem Instagram Account, allerdings bislang nur dem offiziellen Konto der Autorin @christinecazon. Tetiana liest nun die russischen Lizenzausgaben meiner Krimis und ist begeistert, jenseits der Intrige, darin so viel zum südfranzösischen Leben und über Cannes zu entdecken. Es wäre vielleicht der Moment gewesen, aber ich habe mich noch nicht getraut, zu erzählen, dass ich auf meinem privaten Blog auch über sie schreibe. Es war der letzte Schultag vor den Osterferien und ich scheute mich dann, die schöne Szene, der ich beiwohnen durfte, direkt zu veröffentlichen:

Ich begleitete Tetiana und den kleinen M. nachmittags zur Schule, um den großen M. abzuholen und um mich seiner Lehrerin vorzustellen, die ich aufgrund meiner Covid-Erkrankung noch nicht kennengelernt hatte. Während ich mit der Lehrerin spreche, die mich als Erstes fragt, ob die Familie zu bleiben gedenke, weil sie in dem Fall nämlich schon bald eine Akte für den Jungen anlegen müsse, damit er auch das nächste Schuljahr wieder einen Platz in der Klasse habe, und sie mich damit kurz überfordert, weil wir die Kinder gerade überhaupt erst für die Schule angemeldet haben, und jetzt müssten wir sie schon für die nächste Klasse anmelden?! Während wir das also besprechen und es erstmal achselzuckend zur Seite schieben (niederschwellige Administration, “kriegen wir schon noch geregelt, wenn es so weit ist”, sagt die nette Lehrerin), sehe ich, wie der große M., rotbackig und erhitzt, umringt von anderen Schülern vor der Schule steht. Alle geben ihm die Hand und wünschen frohe Ferien. Also klar, die Jungs geben sich nicht die Hand, wie wir das mal gemacht haben, es ist eine Art doppeltes Abklatschen, das zu einer komplizierten Choreografie ausgebaut zu einem coolen Insidergruß wurde. “Check” heißt das hier. Unter Jungs, klar. Mädchen geben sich Küsschen, sie waren in diesem Fall aber nicht präsent, auch wenn ich erfahren habe, dass M. die kleine Batwoman von neulich gerne sieht. Aber ich will nicht zu indiskret sein.

“Check” geht ungefähr so:

Es dauert lange, bis man alle gecheckt hat, M. hatte die Choreografie der Hände und Fäuste auch noch nicht ganz raus und verhaspelte sich immer wieder. Ein Junge, klein, aufgeweckt und mit Zahnspange, der, Migrationshintergrund bedingt, auch Englisch spricht, zeigte es ihm geduldig immer wieder. Das ist P. und er hat M., der zwar einen Kopf größer ist, unter seine Fittiche genommen. Damit gehört M. jetzt zu den coolen Jungs seiner Klasse, yeah. Das alles war richtig nett zu sehen und M. rannte danach vergnügt in die Ferien.

Die Lehrerin des kleinen M. hingegen kontaktiert mich, um mir von dem Gartenprojekt zu erzählen: Die Schule besitzt nämlich in einem ehemaligen Park, der zu einer Art Kleingartenanlage umgewandelt wurde, ein paar Beete, und dort geht die Klasse der Kleinen jeden Donnerstagmorgen hin, um “zu gärtnern”. Allerdings brauchen sie noch ein oder zwei Begleitpersonen und Tetiana wird, das ist in der Zwischenzeit entschieden, eine von ihnen werden. Die Lehrerin hat sich mit der Kleingartenvereinsvorsitzenden zusammengetan und beide haben beschlossen, dass Tetiana und die beiden Jungs dort zusätzlich ein eigenes Stück Erde zugeteilt bekommen und außerdem ein Huhn “betreuen” dürfen. Und das alles, ohne den üblichen Mitgliedsbeitrag zahlen zu müssen. Um das alles anzusehen und um “eingeführt” zu werden, begleitete ich an einem der ersten Ferientage die kleine Familie dorthin.

Die Gartenanlage, von der ich wusste, wollte ich schon lange mal angesehen haben, Kleingärten mitten in Cannes! Der kleine Junge, der nicht gerne zu Fuß geht und auf dem Weg dahin kaum noch einen Fuß vor den anderen setzen konnte, (die Anlage ist etwa zehn Minuten zu Fuß von unserem Haus entfernt) stürzt sich, kaum angekommen, sofort begeistert auf eines der vielen kleinen Plastikfahrzeuge, mit dem er rasante Kreise fährt, entdeckt später eine Wasserpistole und rennt die folgenden Stunden damit herum (Herumrennen hat mit Gehen nichts zu tun!). Ich bin nicht so sicher, ob Gartenarbeit so seins ist, aber das Gelände ist klasse. Ich hatte Tetiana erzählt, dass sie in dem Gartengelände eine “Parzelle” bekämen (parcelle, so sagt man hier). Die Vereinsvorsitzende, eine reizende, sehr gesprächige ältere Dame, empfängt uns herzlich, stellt uns den anderen Damen, die anwesend sind vor, erklärt das Prozedere, führt uns etwas herum und zeigt uns dann auch gleich die “Parzelle”, die sie Tetiana und den Jungs überlässt.

Parzelle. Hm. Es ist im Prinzip eines ihrer eigenen zwei Beete, im ersten hat sie Kartoffeln gepflanzt, wie sie uns stolz erzählt. Tetiana sieht sich um und starrt das mit Holz eingefasste Beet an, irgendetwas rumort in ihr, das spüre ich. Während die Dame mit den Jungs zum Hühnerstall am anderen Ende des Geländes läuft, erklärt mir Tetiana lachend, dass sie sich das alles viel größer vorgestellt habe (ich mir auch, vor allem das Beet). Ihre Mutter habe in der Ukraine einen Garten, der ungefähr so groß sei wie das ganze Gelände und überall habe sie Kartoffeln gepflanzt. Kartoffeln, Kartoffeln, so weit das Auge reicht. Dass man ihr hier ein Beet überlässt, das in etwa so groß ist wie ein Einzelbett, und dass man in Cannes zwei Quadratmeter Kartoffeln anpflanzt, findet sie wahnsinnig lustig. Auf dem Weg zum Hühnerstall riechen wir an den Blumen und Kräutern, die hier und da schon gepflanzt wurden und Tetiana lernt die französischen Namen: menthe, thym, persil, capucines und glaïeuls.

Der Hühnerstall ist einfach und der Hühnerhof klein, und als Tetiana sieht, dass es im Hühnerstall sage und schreibe sechs Hühner gibt, lacht sie schon wieder. Ihre Mutter, erfahre ich, hat allein 20 Hühner und 6 Hähne. Es ist aber trotzdem rührend, dass die beiden Jungs jetzt eines der Hühner, Célestine nämlich, ein schwarzgrün glänzendes schönes Huhn, betreuen dürfen. Die beiden Mädchen, die sich bisher um Célestine gekümmert haben, ziehen nämlich weg. Die Jungs sind kein bisschen scheu mit den Hühnern, sie haben nur ein bisschen Angst, dass ihnen die Tauben, die im Baum über dem Hühnerstall darauf warten, dass man den Hühnern und damit auch ihnen Körner hinwirft, auf den Kopf scheißen.

Man erklärt uns das Prozedere mit den Hühnern und den Eiern, die nicht nur vor dem Fuchs, sondern auch vor den Seemöwen beschützt werden müssen. Das alles und die gesamte Anlage ist rührend alternativ. Es hat mit meiner Vorstellung von (deutschen) Kleingärten nichts zu tun, auch wenn die jardins collectifs den gleichen Ursprung haben. Ich bekomme, ebenso wie Tetiana, alle Zugangscodes und darf von nun an kommen, wann immer ich will. Ich spüre, dass man sich hier über vier potentielle und vor allem jüngere Gartenmitglieder freut, doch zumindest ich sehe mich hier nicht, ich brauche auch kein weiteres Betätigungsfeld und in die Knie gehen, um irgendetwas zu pflanzen oder um Unkraut auszureißen, kann ich derzeit auch nicht. Das sage ich so natürlich nicht, schlage stattdessen vor, dass ich bei Bedarf zum Gießen kommen könne. Die Jungs bekommen zum Abschied Schokolade in Form eines Fußballs und Fußballschuhen geschenkt. Sie sind entzückt, so etwas haben sie noch nie gesehen. Dass man Kindern in Frankreich an Ostern Schokolade in allerhand erstaunlichen Formen (in der Regel: Hühner, Eier, Hasen, Tiere und Gegenstände jeglicher Art) schenkt, ist für sie auch neu. Ostern ist für sie in erster Linie ein religiöses Fest.

Abends macht Tetiana ein traditionelles ukrainisches Essen für uns: Vareniki. Maultaschen mit Kartoffelfüllung und dazu Sauerrahm. Sie schmecken mild und sehr lecker!

Am nächsten Tag scheint die Sonne, die kleine Familie geht an den Strand und holt sich ihren ersten südfranzösischen Sonnenbrand. Im April! Sie können nicht glauben, wie stark die Sonne hier scheint und ich reiche Sonnencreme mit Lichtschutzfaktor 50 weiter. Nachts beginnt der Kleine zu husten. Da es immer schlimmer wird und er in der folgenden Nacht nach Luft ringt, bittet Tetiana mich, einen Kinderarzt zu suchen. Sie sorgt sich auch, weil die Kinder nicht auf ihrem Dokument der Krankenversicherung mit erfasst wurden. Ich finde einen Kinderarzt, der uns am selben Nachmittag einen Termin gibt und gleichzeitig kläre ich ab, wie die medizinische Versorgung geregelt ist. Auf der Seite der Krankenversicherung liest sich das beruhigend, auch das mit den Kindern, die nicht mit erfasst sind. Alles gut, sie müsse nichts zahlen, versichere ich ihr.

Das sieht der Kinderarzt etwas später aber ganz anders. 60 Euro will er, nachdem er den kleinen M., der in dem Moment kein bisschen krank wirkt, untersucht hat (banale Viruserkrankung, diagnostiziert er) und er füllt ein Dokument aus, mit dem Tetiana sich die Kosten zurückerstatten lassen kann. Ich zeige ihm, was auf der Seite der Krankenversicherung steht, aber es interessiert ihn nicht. Das sei vielleicht so angedacht, sagt er, aber bis es umgesetzt würde, vergingen Monate und er bekäme sein Geld nie, wir aber bekämen das Geld zurückerstattet, das sei sicher. Ich diskutiere noch ein bisschen, aber es hilft nichts, erstmal müssen wir bezahlen. Ich zücke meine Karte, aber er nimmt nur Bargeld oder Scheck. Ich, die ich felsenfest davon überzeugt war, dass wir nichts zahlen müssen, habe leichtsinnigerweise weder Scheckheft noch genug Bargeld dabei. Tetiana legt schweigend 60 Euro auf den Tisch. Mir ist das super unangenehm. In der Apotheke erzähle ich es der Apothekerin, die mir bestätigt, dass es bei den Ärzten so gehandhabt wird, aber in der Apotheke würden die Kosten direkt übernommen – aber siehe da, werden sie dann doch auch nicht, denn jetzt ist es plötzlich doch ein Problem, dass die Kinder nicht mit auf dem Dokument stehen, da kann ich auch hier auf die Seite der Krankenversicherung verweisen so viel ich will. Gut, der Kinderhustensirup kostet nur 2,40 €, das ist nicht die Welt, nur Tetiana hat keinen Pfennig mehr. (Ich übernehme das, klar, es gab zeitgleich auch eine Spende (Herzlichen Dank!), sodass kurz darauf doch wieder etwas Geld da war.) “Rufen sie die Krankenversicherung an”, sagt die Apothekerin zum Abschied. Es sei nur eine kleine Sache, die Kinder hinzuzufügen, das könne man am Telefon machen.

Eine kleine Sache. Das kenne ich schon. Als ich den Kleinen für die Kantine angemeldet hatte, musste ich mit dem ausgefüllten Antrag im Gebäude X, dritter Stock ohne Aufzug persönlich erscheinen. Nachdem die Dame den Antrag gnädig angenommen und entschieden hatte, dass der kleine M. ab sofort in der Schulkantine (sein eigenes, mitgebrachtes Essen!) essen darf, musste ich noch einmal quer durch die Stadt zur Schulverwaltung, damit man beim Schulanmeldeantrag ein Häkchen in das Kästchen “Kantine” machen konnte. Telefonisch war das leider nicht zu regeln.

Ich rufe trotzdem die Krankenversicherung an, die aber aufgrund von COVID-Anfragen überlastet und daher nicht erreichbar ist, der Anrufbeantworter verweist auf das Internet. Ich suche auf der Internetseite der Krankenversicherung eine Kontaktmöglichkeit und erstelle letzten Endes ein Internetkonto für Tetiana, anscheinend die einzige Möglichkeit, mit der Krankenversicherung zu kommunizieren. Ich hasse das alles. Für mich selbst habe ich deswegen noch kein Internetkonto erstellt, aber Tetiana hat jetzt eines. Oder auch nicht, denn nachdem ich alles eingegeben habe, ist die Seite im Internet plötzlich “en panne”. Letzten Endes mache ich nun von allen Ausweisdokumenten Kopien, schreibe einen klassischen Brief, in dem ich alles erkläre, und die Kopien sowie den Antrag auf Rückerstattung beifüge. So vergehen meine Tage.

Dann ist Ostern. Tetiana bekommt Besuch von einer Schulfreundin, die nach der Schule dank eines “kulturellen Austauschs” mit Frankreich, nach Lyon kam und dort blieb. In der Zwischenzeit hat sie Mann und zwei Kinder und lebt in Italien. Ich verstecke am frühen Sonntagmorgen Osterhäschen und Ostereier im kleinen Vorgarten; ich hatte Tetiana die “chasse aux oeufs”, wie das hier heißt, erklärt, hatte aber nicht damit gerechnet, dass die Kinder der Freundin auch zum Suchen kämen. Herrjeh. Eilig verstecke ich indoor noch zusätzlich Eier und Häschen (Gottseidank war das Paket aus Deutschland prall gefüllt!), während die Kinder draußen suchen. Es ist ein großer Spaß! Hier werden übrigens nur Schokoeier versteckt und gesucht. Ich hatte zwar vor, zusätzlich (mit den Kindern) richtige Eier zu färben, hatte aber letzten Endes einfach keine Energie, weder dafür noch für die Osterdeko. Es war auch so genug.

Jetzt gleich gibt es le débat, ein Schlagabtausch zwischen Macron und Le Pen, die im Fünfminutentakt ihre “Projekte” für Frankreich vorstellen werden (zu den Themen: Kaufkraft, Klima, Rente, internationale Politik …). Vor fünf Jahren ging es desaströs für Marine Le Pen aus, die Macron nicht gewachsen war, sich in ihren Unterlagen verlor und Dinge verwechselte. Dieses Mal, da sind wir uns sicher, wird es anders, sie hat sich sogar für zwei Tage zurückgezogen, um ausgeruht und gut vorbereitet zu sein. Es wird eng für Macron. Obwohl Sarkozy, der sich bislang nicht zu Wort gemeldet hatte und auch offensichtlich im ersten Durchgang Pécresse (die “seiner” Partei angehört) nicht unterstützt hat, sich offen für ihn ausgesprochen hat. Auch Mélenchon, von vielen kritisiert, dass er seinen WählerInnen indirekt zur Wahlenthaltung geraten habe, hat sich jetzt dazu durchgerungen, seinen Wählern und Wählerinnen zuzurufen, sie sollen wählen gehen. “Wählt mich als Premierminister!” schlägt er auch augenzwinkernd vor. Das könnte er (auch wenn es unwahrscheinlich ist) nur unter Macron sein.

Nachtrag: Hier eine deutsche Einschätzung des Rededuells.

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Nach der Wahl …

ist vor der Wahl. Es war nur le premier tour, wie man hier sagt, der erste von zwei Wahldurchgängen zur Präsidentschaftswahl, so wie es aussieht, werden wir im zweiten Wahldurchgang erneut, wie vor fünf Jahren, zwischen Emmanuel Macron und Marine Le Pen zu entscheiden haben (in der Zwischenzeit ist es sicher). Drittstärkste Kraft ist der extrem linke, genauso Europa- dafür aber nicht gerade Putin-feindliche Jean-Luc Mélenchon geworden, der seinen WählerInnen heute zwar sichtlich amüsiert “keine Stimme für Marine Le Pen” zurief, aber unterschwellig und auf sehr deutliche Art anderes NICHT sagt, was er aber denkt. Er sagte nicht “keine Stimme für Macron”, er sagt nicht “geht nicht wählen”, aber die hard-core Mélenchon-WählerInnen werden genau das tun. Sie wählen bestimmt nicht Marine Le Pen, aber auch nicht Macron.

Wahlempfehlung?

Wir hatten ja gestern in diesem ersten Wahldurchgang die Wahl zwischen 12 Kandidaten: ein paar sich (für mich) nur in Nuancen unterscheidende Linksextreme (Jean-Luc Mélenchon, Nathalie Arthaud, Philippe Poutou, Fabien Roussel), und ein paar extrem rechte Kandidaten (Marine Le Pen (Putin-nah und vermutlich wieder von russischen Banken finanziert), Eric Zemmour, Nicolas Dupont-Aignan (Impfgegner und allen möglichen Verschwörungstheorien nah) und die “klassischen” Links-Rechts-Parteien, dieses Mal vertreten durch Valérie Pécresse (rechts) und Anne Hidalgo, die derzeitige Bürgermeisterin von Paris (links-écolo), die beide mit weniger als 5% abgewählt wurden. Die Grünen, vertreten durch Yannick Jadot, haben auch weniger als 5% bekommen. Frankreich ist nicht sehr écolo. Das zeigt sich vor allem im sonnenreichen Süden, in dem man keine Genehmigung bekommt, Sonnenkollektoren auf das südlich ausgerichtete Dach seines Hauses zu installieren, weil die sehr konservativen BürgermeisterInnen sämtlich finden, dass diese Kollektoren das Aussehen der charmanten typischen Dörfchen und Städte verschandeln. Insofern gibt es auch keine Techniker, die einmal installierte Sonnenkollektoren, bei Bedarf reparieren können. Die Firma, die unsere Sonnenkollektoren installiert hat, hat schon vor Jahren Pleite gemacht, weil es einfach keinen Markt dafür gibt. Seitdem kümmern sich selbsternannte Techniker darum, das ist hart an der Grenze des Heimwerkens und genauso hart an der Grenze des Betrugs. Am Freitag hatten wir einen seriösen Techniker da, der achselzuckend sagt, “ich kanns nicht reparieren, und ich rate Ihnen, schmeißen Sie alles weg, wenn Sonnenkollektoren einmal angefangen haben, nicht zu funktionieren, haben Sie immer nur weiter Probleme; entweder installieren Sie alles neu (vorausgesetzt Sie bekommen dafür eine Genehmigung und finden einen Installateur) oder Sie investieren (mit mir) in einen klassischen Heißwasserboiler, der mit Strom funktioniert.”

Bio ist übrigens in Frankreich auch keine Alternative. Neulich sprach man im Fernsehen von der “Bio-Falle”, in der viele Landwirte und Erzeuger gefangen sind: Sie haben alles auf Bio umgestellt, werden ihr Biogemüse, Biofleisch und Biomehl aber nicht los, weil es nicht genügend Abnehmer dafür gibt.

Das aber nur am Rande. Wir haben weiterhin unter den zwölf Kandidaten den ewigen Außenseiter, ein zur Politik berufener Schäfer aus den Pyrénäen, Jean Lassalle, der sich mit südlichem Akzent und seiner direkten Art für die Landwirte stark macht, aber selbst die Landwirte, die man neulich auf dem Salon d’Agriculture in Paris dazu befragt hat, sehen ihn eher als (Landwirtschafts-)Minister und weniger als Präsidenten; er bekam etwas mehr als 3% der Stimmen (und damit immerhin mehr als Anne Hidalgo!) Und, last but not least, Emmanuel Macron, der gerne als Präsident wiedergewählt werden will, und dem vorgeworfen wurde, dass er keine richtige Kampagne gemacht habe, er wird sich jetzt aber umso mehr in den Wahlkampf werfen, heißt es.

Alle Kandidaten, die sich zukünftig nicht mehr im zweiten Wahldurchgang finden, geben nun Wahlempfehlungen (oder nicht) für ihre WählerInnen aus – mal direkter, siehe Mélenchon, mal weniger: Valérie Pécresse etwa sagt “ich wähle Macron”, das ist ein Statement, aber sie fordert niemanden explizit auf, es ihr gleichzutun. Lassalle geht noch weiter: Seine WählerInnen könnten selbst entscheiden, was sie tun wollen, er gebe keine Empfehlung. Zemmour und Dupont-Aignan hingegen sagen klar, dass sie Le Pen wählen und fordern ihre WählerInnen auf, sich dieser Entscheidung anzuschließen, insofern hat Marine Le Pen ein gutes Polster an “Zusatzstimmen”, und sie ist daher heute très sereine, “sehr heiter” gestimmt.

Selbst wenn Macron im zweiten Wahldurchgang gewählt wird, wovon ich immer noch ausgehe, hat er trotzdem über 50% WählerInnen (die von Mélenchon, Zemmour und Le Pen) gegen sich, die sich nicht im Parlament vertreten sehen, denn hier gibt es nur “the winner takes it all”, ein Verhältniswahlrecht, wie wir es aus Deutschland kennen, gibt es nicht, was dann wieder Bewegungen wie die Gilets-Jaunes auf die Straße rufen wird, die einzige Möglichkeit des Volkes seine Unzufriedenheit mit der Wahl und mit den Entscheidungen auszudrücken, und es Macron schwer machen wird, zu regieren und mögliche Reformen (Rente mit 65! will hier keiner) durchzusetzen. Schwierige Zeiten.

Qual der Wahl

Wir waren gestern im Bergdorf zur Wahl. Für mich ist es meine erste Präsidentschaftswahl, bei der ich wählen darf. Bei der Stimmenauszählung waren wir aber schon nicht mehr anwesend, ich erhalte die erschütternden Ergebnisse via Whatsapp (16 x Zemmour, 6 x Le Pen, immerhin auch 17 x Macron) auf dem windungeschützten Parkplatz, auf dem wir zunächst auf den Abschleppwagen, dann auf einen Taxifahrer warten, der uns in das noch gut eine Stunde entfernt liegende Zuhause fährt.

Auf der kurvigen Strecke im oberen Vartal, umgeben von hohen und schroffen Schluchten, eine Strecke, auf der das Mobiltelefon stets “nur Notrufe” anzeigt, leuchtet plötzlich ein Alarmlicht auf dem Armaturenbrett unseres altersschwachen Corsa auf und augenblicklich verstehen wir, dass das Geräusch, das uns seit einiger Zeit begleitet, nicht der schlecht befestigte Ventilator ist, der “mal wieder” rattert, sondern etwas anderes. Monsieur ist in der Regel ziemlich cool: befremdliche Geräusche werden lange nicht ernst genommen, und bei aufleuchtenden Pannen-Lämpchen, ist er überzeugt, dass nur das Birnchen des gelb leuchtenden Signals einen Wackelkontakt hat. Das rote Licht gestern aber stimmte ihn erstaunlicherweise sofort nervös. Gerade fuhren wir durch ein winziges Bergdorf, in dem es, das wissen wir, einen Autoschrauber gibt, wir entdecken sogar das Hinweisschild, rufen vergeblich an, fahren trotzdem bis zur Werkstatt, wo offensichtlich auch das Wohnhaus ist, aber klar, es ist Sonntagabend, außerdem werden in ein paar Minuten die Stimmen im Wahllokal ausgezählt, niemand ist da. Monsieur fuhr also vorsichtig wieder zurück auf die kurvige Bergstraße und glücklicherweise geht es bergab. Dann hört das Geräusch schlagartig auf, aber die Erleichterung darüber dauert nur etwa eine Sekunde, dann leuchten alle Alarmlämpchen gleichzeitig auf. Houston, wir haben ein Problem. Monsieur, der aus einer Autoverrückten und Rallyefahrenden Familie stammt, lenkt uns nun schwungvoll aber souverän durch die unteren Serpentinen, solange es bergab geht, rollen wir auch ohne wirklich reagierendes Auto weiter; er hofft, es bis zu einer Tankstelle weiter unten im Tal zu schaffen, aber letzten Endes wird es dann doch dieser große zugige Parkplatz mitten im Nichts. Das Auto raucht und es riecht brenzlig, als wir die Motorhaube öffnen. Nun gut. Wir sind versichert. Und das Mobiltelefon findet ein Netz. Wir warten nur etwa eine Stunde auf den Abschleppdienst (eine junge Frau!) und dann erneut eine gute Stunde auf ein Taxi, das uns nach Hause bringen wird. Zwischenzeitlich wird es dunkel und kalt. Damit das erwartete Taxi uns sieht, winke ich immer mal hoffnungsvoll ins Dunkel, kaum, dass ich Scheinwerfer auf der schwach befahrenen Straße sehe. Das ist fatal, man hält mich mit meiner roten Daunenjacke und der pinkfarbenen Baskenmütze für eine Professionelle, die auf diesem abgelegenen Parkplatz auf Kundschaft wartet. Nach dem ersten Missverständnis lasse ich das Herumwinken und warte brav, bis das Taxi uns von alleine entdeckt. Das Taxi kommt von weit und brauchte noch länger als angekündigt, weil der Fahrer Wahlhelfer war und bei der Stimmenauszählung seines Dorfes mitwirkte. Es gab Unklarheiten, erklärte er, es musste zweimal ausgezählt werden. Aber er ist jetzt ganz zufrieden, nicht nur, weil er an diesem späten Abend noch 400 Euro verdient (und etwa fünf Stunden dafür fährt), sondern weil letzten Endes Marine Le Pen haushoch gewonnen hat. Ich missverstehe ihn zunächst, man ist ja doch gefangen in seiner eigenen Filterblase. “Wirklich?”, frage ich schockiert nach. “In Annot?” Dann müssen wir uns eine lange Rede anhören, Stil, man habe diese Politikerclique satt, und mit Marine wird endlich alles anders und besser für das gemeine Volk blabla. Ich kenne Annot als alternatives Dorf, habe dort zu einer Zeit Käse auf dem Markt verkauft, an einem fantasievollen mehrtägigen Fest mit tollen Künstlern teilgenommen, bei dem wir auf einem tollen Platz Theater gespielt haben, und zu dieser Zeit galt Annot als das “bessere” Dorf im nahen Nachbardepartement, viele alternativ angehauchte Menschen, die ich kenne, sind dorthin gezogen. Aber das ist vorbei, erfahre ich. Jetzt weht dort ein anderer Wind und man wählt stramm Marine Le Pen. Nun, ich sage nicht mehr viel, Monsieur rettet sich in ein neutrales Thema: Autos und Technik. Um 23 Uhr sind wir endlich zuhause und sehen nun auch die ersten Wahlergebnisse im Fernsehen.

Heute morgen finde ich in der Zeitung das Ergebnis für Cannes direkt neben dem von Châteauneuf d’Entraunes. Dass Macron beide Male vorne liegt, liegt nur daran, dass Zemmour überall ein paar der Stimmen von Marine Le Pen abgefischt hat. Zählt man beide zusammen, bekommen wir ein schönes düsteres Stimmungsbild.

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Ach so, das Auto. Ich habe es sehr geliebt. Es war ursprünglich mal “mein” Auto, und hat mir und uns treu und zuverlässig gute Dienste geleistet, aber die Reparatur übersteigt nun bei Weitem seinen Wert. Der TÜV steht in einem Monat an, und auch wenn die contrôle téchnique in Frankreich weniger streng ist und wir es die letzten zwei Male immer noch gerade so mit ein paar kleineren Reparaturen durchgekriegt haben, dieses Mal wäre es sehr wahrscheinlich das Aus geworden. Der kleine Corsa wird also verschrottet. Adieu, petite Corsa!

Adieu!
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Think positive

Heute ist Frühling. Die letzten Tage waren, wie fast überall, kalt, stürmisch und nass, aber heute ist es windstill und sonnig. Gerade trank ich meinen Nachmittagsespresso auf dem wackeligen Drehhocker, war dabei, der Stabilität halber, an die geöffnete Balkontür gelehnt, saß so halb drinnen, halb draußen auf dem etwas zu schmalen Balkon, der vermutlich schon zur Zeit der Konstruktion nur dekorativen Charakter haben sollte. Wann begann man Balkone so tief zu bauen, dass man darauf herumsitzen konnte? Wurde das absichtslose Herumsitzen auf Balkonen erfunden? Wann und vom wem? Die Katze döst in dem Blumentopf, aus dem sie die Palme erfolgreich vertrieben hat. Manchmal sieht sie dabei so konzentriert aus, als brüte sie auf Ostereiern. Das im Vorgarten heimische Turteltäubchen, das immer gerne über das Balkongeländer balanciert und mir dabei vertrauliche Blicke zuwirft, hat sie beim Heranflattern gerade noch so entdeckt, macht eine Kehrtwendung und landet dann etwas verwirrt am Fuße des Balkons, auf Augenhöhe der Katze, allerdings an der Außenseite des Geländers.

Die Katze, die zwar seit ein paar Monaten mit einer Spritze gegen ihre Arthrose geboostert wird, was sie rebellischer und mindestens fünf Jahre jünger macht, sie vor allem aber wieder spielerisch auf Tische und Stühle und Mauern hüpfen lässt (glauben Sie mir, ich bettelte den Tierarzt an, mir das auch zu spritzen!), die Katze blinzelte nur angelegentlich in die Sonne und reagierte nicht. Das Turteltäubchen fliegt auf eine Mauer, ordnet seine Federn und schaut von dort freundlich zu uns. Ich brate in der Sonne und nippe am Espresso, und schlage die Zeitung auf: Die Meldungen sind erschütternd, ich starre auf die Bilder, die ich gestern schon im Fernsehen sehen musste, ich lese den einen oder anderen Augenzeugenbericht. Es ist Krieg im 21. Jahrhundert. Es ist alles so widerwärtig. Ich denke an den Film Donbass, den ich gesehen habe. Ich wollte ihn damals nicht verlinken, weil ich die Bilder so unerträglich fand. Jetzt sieht man diese Bilder und noch viel schlimmere jeden Tag überall. Die Haustür geht auf, der kleine M. und seine Mama erscheinen, sie sind auf dem Weg in den Park und zum Spielplatz nebenan. “Madame Christjann!” ruft der kleine M. und winkt mir fröhlich zu. Sag bonjour” höre ich seine Mama leise sagen. “Bonjour!”, ruft er brav. “Bonjour”, rufe ich zurück und frage “Ça va?”. “Ça va” antwortet er lässig, wie ein französisches Kind und hüpft vor dem Gartentor auf und ab. Tetiana winkt auch. Wir gehen in den Park, sagt sie. Danach holen sie den großen Jungen von der Schule ab. Ich nicke und winke. Sie hat sich selbstständig für einen Französischkurs angemeldet und ihr Französisch wird jeden Tag besser. Sie trägt ein pinkfarbenes Sweatshirt. Think positive steht darauf. Ich schlage die Zeitung zu.

Gestern war ich erstmals wieder draußen. Erstmals nach Covid, Sie erinnern sich. Bekommen jetzt alle, scheint es. Hier hat sich die Tendenz durchgesetzt, es als “kleine Grippe” abzutun. Sogar Monsieur, der vier Tage kein Wort sprach und nur dumpf hustend im Bett lag, findet rückblickend, dass es nicht besonders schlimm war. Ich hatte Fieber und war ordentlich krank. Ja, es fühlte sich wie eine Grippe an, aber es ist etwa zwanzig Jahre her, dass ich das letzte Mal so krank war. Damals hatte ich mir beim Kölner Karneval beim Knutschen in gnadenlos überfüllten Kneipen irgendeinen Virus eingefangen, aus heutiger Sicht auch vollkommen sinnlos, was man da alljährlich tut. Damals auf jeden Fall war ich auch so fiebrig und krank, dass ich es nicht mal zum Arzt schaffte. Nun gut. Jetzt bin ich also für zwei Monate immunisiert. Man könnte glatt in einer vollen Kneipe knutschen gehen.

Die Lehrerin des kleinen M. hatte mir am Wochenende eine Nachricht übermittelt, dass am Montag (also gestern) in der Schule ein Frühlingsfest stattfinden würde und die Kinder dürften verkleidet zur Schule kommen. Es wäre schön, wenn die beiden Jungs mitmachten, schrieb sie. Am späten Sonntagnachmittag bespreche ich das mit Tetiana und den Jungs. Für den Kleinen, ein großer Fan von Spiderman, gar kein Problem. Er erobert als Spiderman die Schule und weint an diesem Morgen auch fast gar nicht am Schultor, so viel Kraft hat er! Der große M. ist schon zögerlicher. Eigentlich hat er nichts gegen das Verkleiden. Tetiana ist Schauspielerin und sie leitete ein Theater in ihrer Stadt; es gab auch ein Kindertheater, bei dem M. schon bei Aufführungen mitgespielt hat. Ich habe Bilder davon gesehen. Pirat schlage ich vor, oder Clown. Das geht auch mit wenigen Mitteln und ist klassisch. Aber so richtig traut er sich nicht. Was, wenn in seiner Klasse niemand wirklich verkleidet ist? Keinesfalls will er sich lächerlich machen, das verstehe ich. Letzten Endes finde ich ihm einen klassischen kreisrunden Strohhut und eine schwarz-weiße Krawatte mit einem Motiv von Magritte aus einer aussortierten Sammlung von Monsieur. Das ist ein bisschen verkleidet und sieht auch noch schick aus. Nachmittags begleite ich Tetiana zur Schule, um ihn abzuholen (und um mit einer Lehrerin etwas zu besprechen). In Frankreichs Grundschulen werden die Kinder einzeln von den LehrerInnen zu den abholenden Eltern oder Großeltern gebracht, die brav vor den verschlossenen Toren warten. Während wir also warten, dass zunächst die Kleineren, heute waren viele zerzauste Prinzessinnen dabei, zu ihren Mamas geführt werden, sehen wir den großen M., der auf der Terrasse im ersten Stock der Schule erscheint, er ist umringt von anderen Kindern, hat den Hut auf und lacht und winkt. Ich bin ein bisschen gerührt. Sehr aufgeregt erzählt er später, dass ein Mädchen als Batman verkleidet war. Ein Mädchen! Batwoman rennt gerade mit wehendem Cape vor uns über die Straße, die von einem ehrenamtlichen älteren “Papy Traffic”, einem “Schülerlotsen-Opa” für uns gesichert wird. Ich erkläre das mit dem Schülerlotsen und wir testen es gleich zweimal, nur um sicherzugehen. Schule war nicht nur “so-so” heute, erfahre ich. Es war ein bisschen besser. Er überlegt. Ça va”, sagt er dann sehr ernsthaft.

Es folgt Werbung in eigener Sache: Es ist tatsächlich sehr weit weg, gemessen an dem, was gerade in der Welt passiert, aber am Donnerstag, 7.4.2022, erscheint mein neuer Kriminalroman “Verhängnisvolle Lügen an der Côte d’Azur”, den ich hier noch nicht ins Bild halten kann, weil ich ihn noch nicht habe, heul, auch wenn treue LeserInnen ihn sogar schon ausgelesen haben, wie mir zugetragen wurde. Am kommenden Donnerstag werde ich via Zoom daraus vorlesen (und wenn es aus der Fahne ist!). Es ist eine Veranstaltung in Zusammenarbeit dem Amt für Internationale Beziehungen der Stadt Nürnberg. Noch ist meine Stimme etwas rau, aber ich lutsche fleißig Honigbonbons und trinke Ingwertee. Wenn Sie am Donnerstag dabei sein wollen, 19 Uhr, kostenlos, und noch einmal im sicheren Zoom-Raum, bevor gleich alle Masken fallen, dann klicken Sie hier.

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Covid, Gas und Kinder

Nun, Monsieurs Grippe war dann doch Covid und klar, es hat, bei allen Versuchen meinerseits, mich zu isolieren, so habe ich etwa nächtelang auf dem zu kurzen Zweisitzersofa im Wohnzimmer geschlafen und gleich in der ersten Nacht eines der leicht morschen Seitenteile desselben durchgetreten, wir saßen uns beim Essen so weit entfernt wie möglich gegenüber, erinnerte ein bisschen an Putin und seine Staatsgäste, außerdem desinfizierte ich hinter ihm her, herrjeh, was dieser Mann unkontrolliert einfach so alles anfasste und anhustete, Telefon, Fernbedienung, Lichtschalter, Türklinken, Schubladengriffe, Gläser … “wo ist deine Maske?”, schrie ich alle paar Minuten. “Tu me fais chier avec ce masque!” hustete Monsieur zurück und zog sie für ein paar Minuten wieder über Mund und Nase, es hat aber alles nichts genützt: Wir teilen uns also die Omikron-Mutation K417N, in guten wie in schlechten Tagen, n’est-ce pas, haben einen sogenannten milden Verlauf und damit alle bekannten Grippesymptome. Ja, auch dreimal geimpft hilft gar nix, ich will gar nicht wissen, wie es ohne Impfung verlaufen wäre, wir hingen hier beide ziemlich kraftlos, fiebrig und hustend herum (ich hänge immer noch). Der Gatte ist seit heute aus der in Frankreich derzeit nur noch sieben Tage dauernden Quarantäne entlassen, ich habe noch bis Samstag. Gerade rechtzeitig, um am Sonntagnachmittag, den 3. April 2022 um 16 Uhr im CCFA zu lesen, falls ich bis dahin meine Stimme wieder habe. Ächz. Röchel.

Ich “wusste” es auch schon bei den ersten Symptomen und lange vor dem Ergebnis des PCR-Tests, den ich erst gestern machen konnte, und plötzlich lag ich so tief entspannt auf dem Sofa und kam, Halsschmerzen hin oder her, “runter”. Ich war ja, spätestens seit Tetiana und ihre Kinder bei uns wohnen, komplett überdreht, konnte nicht mehr abschalten, weder vom Krieg noch vom Organisieren, es ratterte ununterbrochen in meinem Kopf. Und dank Covid, war von eben auf jetzt die Luft raus. Schluss. Aus. Der Luftballon eben noch an der Decke tanzend, leerte sich, machte noch ein paar hilflose Hüpfer und trudelte ausgeleiert und verschrumpelt auf den Boden. Pffft. Ausatmen. Ich kann nicht. Ich habe Covid. Ich kann meinen Knie-Termin nicht wahrnehmen, das ist bitter, aber tant pis.

Ich konnte auch die Kinder nicht an ihrem ersten Schultag zur Schule begleiten, das tat mir wirklich im Herzen leid. Aber es ging nicht, und Ivan nahm nochmal einen halben Tag frei, um als Begleiter und Übersetzer tätig zu werden. Ich vermute, ich habe der kleinen Familie schon nachts die Ohren vollgehustet, morgens hörte ich hingegen den Kleinen weinen. Jetzt wollte er dann doch nicht mehr zur Schule, vielleicht wollte er auch nur einfach nicht so früh aufstehen. Zu allem Elend ist auch noch Sommerzeitumstellung (die ich fiebrig komplett verschlafe und mich so mit den neuen Uhrzeiten erstmals problemlos arrangiere, die Katze übrigens auch, sie findet es nicht schlimm, eine Stunde früher zu fressen ;-) ). Alle haben in der Schule ein bisschen geweint, als sie sich trennen mussten, erzählte mir Ivan später am Telefon. Der große Junge rief gleich in der ersten Pause an und wollte wieder abgeholt werden. Er durfte dann nach der Mittagspause gehen. Der Kleine, der noch kein Telefon hat, um seine Mama anzurufen, hat seinen ersten Tag tapfer durchgestanden. Als ich sie nachmittags vom Balkon aus sah, wirkten sie alle drei erschöpft. “Wie wars?” Fragte ich vom Balkon herunter. “So-so”, sagte der große Junge in seinem schönen Englisch und macht eine passende Handbewegung. Tetiana lächelte müde.

Gestern Abend kontaktierte mich erstmals die Lehrerin des Kleinen und heute Vormittag rief sie mich erneut an, und bat darum, dass man, wenn es der Mutter möglich sei, den Kleinen bitte noch nicht ganztags bei ihr lassen möge. Er sei so verloren, auch wenn die anderen Kinder lieb mit ihm seien. Er war ja noch nie vorher in irgendeiner “Institution” ohne seine Mama, und ausgerechnet jetzt in dieser ohnehin schwierigen Situation, und er kann sich nicht mal verständigen und sie kann ihm nichts Tröstendes sagen. Bei mir rennt die Lehrerin offene Türen ein, ich spüre aber, was für eine ungeheure Entscheidung es für sie gewesen sein muss, denn hier werden Kinderbetreuung und Schule viel sachlicher geregelt. Es gibt schonmal keine Eingewöhnungszeit, Mamas dürfen vielleicht einmal fünf Minuten dableiben, müssen dann schnell wieder gehen. Und wenn die Kinder weinen? Na, die hören auch wieder auf.

Ich bin also vollkommen einverstanden, mit ihrer Bitte, den kleinen M. zunächst nur vormittags in der Schule zu lassen, ich bin sicher, Tetiana ist es auch. Ich rufe, Covid-Isolation verpflichtet, Ivan an, der wiederum Tetiana anruft, die, kaum, dass sie vom Resto du Coeur zurück ist, losläuft, um den kleinen M. abzuholen. Der große M. hat heute zum ersten Mal Schwimmunterricht und dafür haben sie gestern noch schnell eine Badehose und ein Badehandtuch gekauft. Und überhaupt einen Schulranzen. Genau die Marke, die es hier braucht. Gibt ja nichts Peinlicheres, als mit einem falschen Schulranzen in die Schule zu kommen.

Das Mütterthema, Kinderbetreuung und Schule werden in Frankreich kulturell komplett anders gesehen als in Deutschland. Ich habe, wie Sie wissen, selbst keine Kinder, ich hatte nur hin und wieder die angeheirateten Enkelkinder zur Betreuung, aber ich erinnere mich noch gut, wie ich die Enkelin, die damals vielleicht auch vier Jahre alt war, zu einem der von der Stadt angebotenen Ferienbetreuungskursen gebracht habe. Französische Kinder haben ja gefühlt ständig Ferien, die Sommerferien allein dauern zwei Monate, berufstätige französische Eltern haben aber nur drei Wochen Urlaub, also schickt man die Kinder abwechselnd zu den Großeltern, zu irgendwelchen Verwandten aufs Land und in Ferienkurse, die geliebten und gehassten colonies des vacances. Für die Enkelin war es damals ein einwöchiger Segelkurs mit anderen Kindern. Jeden Morgen um neun brachte ich sie dorthin und jeden Morgen weinte sie und klammerte sich an meine Hand. “Geh nicht!”, bat sie mich. Aber je länger ich blieb, desto schlimmer wurde es. “Kann ich nicht bei dir bleiben?”, bettelte sie. Hätte ich damals nicht auch dringende Arbeit auf dem Schreibtisch gehabt, vielleicht hätte ich sie wieder mitgenommen. Ihrer Mutter erzählte ich davon. “Da mussten wir alle durch”, sagte sie ungerührt. Ich fand sie kalt und lieblos, erlebte aber jeden Morgen andere Eltern, die ihre Kinder nur kurz absetzten, kleiner Kuss, “amüsier’ dich gut!”, und weg waren sie. Die meisten Kinder, so klein sie auch waren, fügten sich klaglos.

Ich habe meinen Kommissar Duval nicht nur mit Kindern aus seiner ersten Ehe ausgestattet, sondern ihm auch mit seiner Freundin Annie ein neues Baby verpasst. Für Annie bzw. für die kleine Julie, habe ich einen Kompromiss aus deutscher und französischer KIeinkindbetreuung “erfunden”, weil ich es mir einfach nicht vorstellen kann (und ich dachte, das ertragen meine deutschen LeserInnen auch nicht), dass man sein gerade drei Monate altes Baby schon einer Kinderfrau Tagesmutter überlässt, auch wenn das hier so üblich ist. Ansonsten habe ich das Vater-Mutter-Kind-Verhältnis so beschrieben, wie es hier ist. Kein französischer Vater nimmt Erziehungsurlaub. “So etwas wolle man im 21. Jahrhundert nicht mehr lesen”, hieß es dazu streng in einer Kritik. Tja, da zucke ich mit den Schultern. Ist aber so. Dass ich dem Kommissar meine Emetophobie mitgegeben habe (er ekelt sich schnell und muss würgen, wenn er seinem Kind die Windel wechselt) sei ja auch total absurd, meint dieselbe Kritikerin spürbar augenrollend. “So etwas gäbe es doch nicht!” Nun ja. Im Prinzip bin ich diejenige, die einmal beinahe ein Baby hat fallen lassen, weil es mir seinen aufgestoßenen Brei auf die Schulter gespuckt hat (Geschichte, die ich dem Kommissar zugeschrieben habe). Ich rettete mich damals würgend in das Badezimmer und kam lange nicht wieder heraus. Alle fanden mich peinlich. Ich mich auch. Ist aber so.

Gelegentlich folge ich einer jungen Frau und ihrem Podcast Oulala – der Frankreichpodcast. Felicia, eine Deutsche in Paris, mit einem Franzosen verheiratet, ist gerade schwanger mit ihrem zweiten Kind. Die Themen Mutterschutz, Erziehungsurlaub und Kinderbetreuung treiben sie um. Ich fürchte zwar, dass Sie, meine lieben Leserinnen und Leser nicht mehr in dem Alter sind, in dem Sie sich diesen Themen stellen müssen, aber vielleicht interessiert es Sie trotzdem, wie es in Frankreich so läuft und in welchem Zwiespalt die junge Feli sich die ganze Zeit befindet: Als sie (erst/schon) nach sechs Monaten wieder zur Arbeit geht, fragen die französischen KollegInnen spöttisch, was sie all die Monate “im Urlaub” zu Hause gemacht habe (sie hat ein ähnliches Erziehungsurlaubs-Modell für sich gebastelt, wie ich es für meine fiktive Annie erfunden habe), die Deutschen hingegen fragen entsetzt “Wie, du arbeitest schon wieder?! Du lässt dein Kind bei einer Tagesmutter? Das könnte ich nicht!” Interessant übrigens auch, dass sie sich von einem deutschen Arbeitskollegen (= Mann !) kritisieren lassen muss, und, dass sie in ihrer Beziehung diejenige ist, die mehr verdient (der frühe Wiedereinstieg in den Beruf hat häufig auch finanzielle Gründe), aber keinesfalls hätte ihr Mann den Erziehungsurlaub übernommen. Frankreich im 21. Jahrhundert.

Der Podcast ist mir persönlich manchmal zu weitschweifig und zu wenig prägnant, ich habe es gern, wenn man in einer Viertelstunde auf den Punkt kommt. Das liegt vermutlich an meinem Alter (man hat ja nicht mehr so viel Zeit, nicht wahr), vielleicht auch nur daran, dass ich vieles, was sie erzählt, aus meiner eigenen Frankreich-Erfahrung schon weiß.

In Folge 23 fragt sie: Sind die Franzosen (sic) emanzipierter als wir Deutschen? Die Frage wird so nicht wirklich beantwortet, aber Felis Hin- und hergerissen Sein zwischen zwei kulturell vollkommen anderen Systemen wird gut deutlich. Und Folge 24 heißt dann auch “Kinderbetreuung : Ein deutsch französisches Dilemma.”

Wie ist es Flüchtende aus der Ukraine aufzunehmen? Katrin hat über ihre Erfahrungen geschrieben. Ich stimme ihr zu, man bekommt wahnsinnig viel zurück. Nein, es ist nicht nur die Dankbarkeit, die ich gar nicht will, es ist ein gutes Gefühl, etwas “Gutes” zu tun. Es euphorisiert fast. Ich bin froh, dass ich aktiv etwas “gegen” diesen Krieg tue. Frau Mutti, die Sie vermutlich kennen, hat ebenfalls “Gäste” in ihr Haus aufgenommen und teilt mit ihnen Küche und Wohnzimmer; sie erzählt davon in ihren Instagram-Stories. Aber keinesfalls ist das ein Aufruf, dass Sie das nun leichtfertig auch machen sollten. Sie haben mit, möglicherweise traumatisierten, Menschen zu tun, mit all ihren Sorgen und Nöten, und es hängt mehr Verantwortung und mehr Engagement daran, als man sich anfangs vorstellt.

Und zuguterletzt: Wir wurden in den letzten Tagen von einem Energieanbieter kontaktiert, der uns ein “günstiges” Angebot für das Gas macht. Günstiger als das, was wir derzeit haben. Heute hatten wir ein telefonisches Rendezvous – Monsieur fragt nach der Herkunft des Gases. Es kommt aus Russland. Damit lehnen wir das Angebot ab. Wir wissen in der Tat nicht, von wo unser derzeitiger Energieanbieter sein Gas bezieht, das bleibt zu ermitteln, aber wir können heute nicht wissentlich russisches Gas kaufen. Die Dame am Telefon kann es nicht verstehen und ruft erneut an. Sie kann preislich vielleicht noch etwas zusätzlich drehen, um das Angebot noch attraktiver zu machen. Monsieur sagt, dass wir eine Familie aus der Ukraine aufgenommen haben, und dass dies unsere Energiekosten sicherlich erhöhen wird, aber dass wir unter keinen Umständen russisches Gas kaufen werden, nur um unsere Energiekosten zu senken. Lieber versuchen wir, energiesparend zu leben: heizen weniger und ziehen einen Pullover zusätzlich an, schalten das Licht aus, schließen die Türen und versuchen, weniger (warmes) Wasser zu verbrauchen. Man traut es sich ja kaum noch zu sagen, aber in meiner Kindheit wurde nicht jeden Tag geduscht, und ich erinnere mich noch gut an autofreie Sonntage. Energiesparen kann man meinetwegen gerne wieder einführen.

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Schulvorbereitungen

“Am 8. März sind sie schon angekommen und erst jetzt haben Sie die Kinder für die Schule angemeldet?” Die Direktorin der Grundschule, in die beide Kinder ab Montag gehen werden, ist ein bisschen indignée. Leichte Empörung liegt in ihrer Frage. Keinesfalls will ich einer Schuldirektorin widersprechen, aber ich denke, die kleine Familie hatte auch erstmal genug damit zu tun, anzukommen und zu verarbeiten, dass sie jetzt in diesem Land leben. Ich finde, die Kinder dürfen auch erstmal ein paar Tage nichts tun, spielen, die Stadt kennenlernen und am Strand herumrennen, bevor sie in einer Ganztagsschule verschwinden. Und Tetiana muss sich auch erstmal an den Gedanken gewöhnen, dass der Kleine hier schon schulpflichtig ist. Aber das alles sage ich der Schuldirektorin natürlich nicht.

Ich bin, ohne mein Zutun, zur Ansprechpartnerin für die Schulangelegenheiten der Kinder geworden. Zunächst ging es nur darum, dass ich auf der Liste der abholberechtigten Erwachsenen stehe, im Falle dass … Jetzt aber diskutiere ich mit der Direktorin darüber, in welche Klasse der große Junge kommen könnte – das ukrainische Schulsystem erinnert mich an das deutsche, soweit ich das mit meinen Minimalkenntnissen verstehe, der Junge war auf jeden Fall dort schon in der vierten Klasse und wäre nach den Sommerferien in die weiterführende Schule gekommen. Er spricht auch schon Englisch, und ganz ehrlich, er hilft uns viel bei unseren Kauderwelsch-Situationen, die wir mit Grimassen, Gesten und onomatopoetischen Lauten anreichern. Das französische Grundschulsystem mit all seinen charmanten Klassenabkürzungen (CP, CM1, CM2), das schon ab dem 3. Lebensjahr beginnt, hat sich mir, da ich selbst keine Kinder habe, und in den vergangenen Jahren nur hin und wieder die angeheirateten Enkel abholen durfte, nie wirklich erschlossen. Was man so alles auf seine alten Tage noch lernen darf. Die Direktorin aber sah den Jungen eher in einem Äquivalent zur 3. Klasse. Ich verteidige ihn, als sei er mein eigenes Kind. “Er ist sehr aufgeweckt”, sage ich. “Er folgt täglich dem ukrainischen Unterricht via Zoom, und er spricht ziemlich gut Englisch.” “Hmhm”, macht die Direktorin. Sie notiert das. Am Dienstag wird er von einer Dame getestet, die derzeit durch sämtliche Cannoiser Schulen tingelt, um fremdsprachige SchülerInnen einzustufen. On verra.

Damit wurde ich heute begrüßt!

Der Kleine hingegen, der gestern wie ein Star Passfotos für den Antrag auf “Individuellen Empfang in der Kantine aufgrund von Laktose-Intoleranz” gemacht bekam, die er dann stolz selbst tragen wollte und gleichmal verlor (wir haben sie wiedergefunden), war bislang nicht in der Schule und auch in keinem Kindergarten, sondern zu Hause bei seiner Mama. Die Mama nickt stolz neben mir, als sie mir das mimisch und gestisch erklärt. Ich, mit meiner deutschen Sozialisierung verstehe sie, spüre aber auch die Verzweiflung der Schuldirektorin, als ich das weitergebe. Keine Kinderkrippe? Kein Kindergarten? Unmöglich! Hier wirft man alle Kinder schon mit drei Monaten in die Gesellschaft: Zu einer Nounou, einer Kinderfrau, wenn man es sich leisten kann, oder in eine Kinderkrippe und spätestens mit drei beginnt die Schule, eine Art Vorschule, in der aber schon Dreiecke rot gemalt werden oder Vierecke blau und Dinge ausgeschnitten und in Hefte eingeklebt. Es ist spielerisch, aber es ist kein freies Spiel mehr, wie etwa in deutschen Kindergärten. Französische Mamas gehen früh wieder arbeiten, alles andere gilt hier als “Maman poule”, eine Glucke, die ihre Kinder verhätschelt und festhält. Französische Kinder sollen früh selbständig und vor allem soziale Wesen werden, gruppenkompatibel, möglichst viele Freunde haben. Individualität ist hier keine herausragende Qualität.

Am Montag um 8.20 Uhr haben wir mit der Familie ein erstes Treffen in der Schule, wo die Direktorin uns persönlich empfangen und uns alles zeigen wird. Der große Junge wird am Montagmittag auch schon in der Schulkantine verköstigt. Wie es für den Kleinen aussieht, hängt von der Entscheidung der Dame ab, die ich nun morgen früh mit dem Antrag, Passbildern etc pp. um 9 Uhr im Gebäude X (dritter Stock, ohne Aufzug, meine armen Knie!) treffen werde, und die, wie ich heute am Telefon schon erfahren durfte, noch nichts von der niedrigschwelligen Bürokratie vernommen hat. Sie ist sich ihrer enormen Wichtigkeit bewusst und duldet keinen Widerspruch. Ich will den Zugang zur Schulkantine für den kleinen Jungen nicht gefährden, sowieso wird es kompliziert, die Mama muss ihrem laktoseintoleranten Kind jeden Tag ein von ihr zubereitetes Essen mitgeben (vier Gänge werden gefordert!) inklusive Geschirr und Besteck, und das alles in einer isolierten Box, denn die Kühlkette darf keinesfalls unterbrochen werden. Lehnt die Dame dieses Prozedere morgen aus nur ihr bekannten Gründen ab, dann muss der kleine Junge jeden Mittag abgeholt werden, zu Hause essen, und wieder gebracht werden, womit die Mama den ganzen Tag beschäftigt sein wird, vor allem, weil die Schule nicht in unserem, sondern in einem benachbarten Viertel liegt. So, I’ll do my very best.

Damit Sie noch etwas anderes aus Frankreich erfahren, kommt hier das dritte Filmchen von Macron, man könnte meinen, ich mache Wahlwerbung für ihn, aber das ist es natürlich nicht, ich finde allerdings interessant, was er jedes Mal zeigt. Wir sind mit ihm hinter den Kulissen, wo er sich auf einen Auftritt vorbereitet, fragt nach der allgemeinen Stimmung und wie viel Zeit ihm zur Verfügung stehe. Eine Stunde Programm vorstellen, zwei Stunden Fragen beantworten, schlägt sein Mitarbeiter vor. Dreißig Fragen wären schön, hinge aber alles davon ab, wie kurz (oder nicht) er sich beim Beantworten fasse. Macron nickt. Er werde aber schonmal eine Stunde und fünfzehn Minuten sprechen, sagt er dann. Danach Blick in das “Hauptquartier” (QG, quartier général), wo man eine Pressekonferenz vorbereitet. Was muss gesagt werden, was unterscheidet uns von den anderen Kandidaten? Nach der Pressekonferenz kleiner Spaziergang entlang der Seine: Er will zukünftig Mittel zur Verfügung stellen, dort wo sie nötig sind, um eine égalité, soziale Gleichheit herzustellen, aber den Rest müssten die Menschen machen. Man kann nicht allen alles (Geld, Job, Sicherheit) auf dem Serviertablett anbieten. Seid kreativ, findet Lösungen. “C’est votre job!” ruft er den Menschen zu. Er habe sich am skandinavischen Sozialsystem inspiriert, das sehr viel flexibler sei. Später plaudert er mit einem Mann, der für einen Marathon trainiert, schüttelt ein paar Mädchen die Hand, Selfies mit strahlenden Menschen, dann mit Blick auf den erleuchteten Eiffelturm: “Wir leben doch im schönsten Land der Welt”.

Der Wahlkampf hängt ziemlich tief, dieses Mal. Gestern empörte sich eine Journalistin, dass TF1, ein kommerzieller Privatsender, der aber immer noch ein paar gute Journalisten und eine gewisse Qualität hat, am Wahlabend erstmals keine abendfüllende Wahlsendung anbiete, sondern einen familienfreundlichen Film programmiert habe. Die Franzosen interessierten sich nicht besonders für die Wahlen, ließ der Programmdirektor verlauten, und das Ergebnis des ersten Wahlgangs könne man locker in anderthalb Stunden packen und danach zum gemütlichen Teil übergehen.

So viel für heute. Monsieur ist grippig, vielleicht Covid, wir warten auf die Testergebnisse des PCR Tests. Ich schlief aber schon vergangene Nacht vorsichtshalber auf dem Sofa und bin zumindest bislang symptomfrei und negativ getestet. Ich habe so viel vor in den nächsten Tagen: die Kinder zur Schule, die Katze zum Tierarzt, meine Knie zu einem Orthopäden/Chirurgen und nächste Woche Sonntag findet die schon x-mal verschobene Lesung im CCFA statt: 3. April, 16 Uhr. Ich will gesund bleiben! Drücken Sie mir die Daumen!

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Erste Schritte in den “Alltag”

Ein fetter weißer Geländewagen parkt umständlich im Parkhaus vor uns ein. Französische Parkhäuser wurden nicht für Autos dieser Größe konzipiert. Schon mit unserem Kleinwagen ist es nicht immer einfach, also nicht das Parken, aber das Ein- und Aussteigen, vor allem, wenn man neben so einem großen Geländewagen steht. Manchmal hat man gerade zwanzig Zentimeter, um sich akrobatisch hinein- oder herauszuwinden. Ich habe auch schon einmal gesehen, dass jemand aus dem Kofferraum aussteigen musste, weil man die Türen nicht weit genug öffnen konnte. Während wir uns alle vier auf einer Autoseite hinausdrängen, sehen wir, dass der Fahrer des Geländewagens das Problem ebenso erkannt hat, rückwärts fährt und die Insassen aussteigen lässt, bevor es auf dem Parkplatz dafür zu eng ist. Erstaunliche acht oder zehn Menschen entsteigen dem Wagen, stehen herum, sprechen laut. Tetiana erstarrt neben mir. Ich schaue sie fragend an. “Russen”, sagt sie leise und ordert streng die Kinder zurück, die auf dem eingezeichneten Fußweg in Form von Zebrastreifen herumhüpfen. Sie nimmt den Kleinen an die Hand und zischt ihm leise etwas zu, damit er still ist. Der Große schweigt automatisch und blickt unter sich. Die große gemischte Gruppe russisch sprechender Menschen nimmt viel Raum ein, als sie laut lachend und erzählend an uns Richtung Aufzug vorbeiläuft. Keine Ahnung, wovon sie sprechen. Tetiana hat ein versteinertes Gesicht. Wir lassen ihnen viel Zeit, sich zu entfernen, bevor wir selbst Richtung Aufzug gehen. Ich tippe in meine franco-ukrainische App ein, dass es viele Russen an der Côte d’Azur gibt. Sie nickt. Sie weiß es.

Als ich dem Nachbarn von oben mitteilte, dass wir eine ukrainische Familie aufgenommen haben, sieht er mich finster an. “Solange niemand meine Schwägerin und meine Nichte belästigt, habe ich nichts dagegen”, sagt er dann. Ups. Stimmt. Sein Bruder ist mit einer Russin verheiratet. “Was denkt X. denn über den Krieg?”, frage ich. Er zuckt die Schultern. Später erfahre ich, dass X.s Vater in der Armee ist. Hm.

Eine russische Freundin von uns ist es die längste Zeit gewesen. Ich hatte sie nicht blockiert, ich dachte, ich behalte sie unter meinen Freunden, damit ich nicht vergesse, dass es Franzosen und Französinnen russischer Herkunft gibt, die den Zugang zu allen westlichen Medien haben, sich aber doch nur auf Russia Today informieren und zu hundert Prozent hinter Putin stehen, weil, ihrer Ansicht nach, alle westlichen Medien von den USA gesteuert und wir uninformiert und manipuliert sind. Ihre aggressiv-gehässigen, um nicht zu sagen hasserfüllten Posts, die ich mir übersetzt habe, waren für mich aber unerträglich. Ihr hingegen ist meine Freundschaft zu den “Nazis” unerträglich, aber klar, ich komme aus dem Land von Hitler. Ich erspare ihnen unsere Auseinandersetzung. Letzten Endes hat sie mich blockiert. Es tummeln sich seither viele russische Besucher auf meinem Blog. Bislang allerdings kommentarlos.

Gestern (Vorgestern) haben wir die beiden Jungs für die Schule angemeldet. Es wird ja nun alles vielleicht doch länger dauern, als sie anfangs dachten. Der Vierjährige ist ziemlich begeistert, zumal ich ihm einen kleinen Schul-Rucksack gefunden habe, den er jetzt quasi Tag und Nacht trägt. Er ist bereit! Der große Junge, der jeden Vormittag zwei Stunden ukrainischen Schulunterricht via Zoom absolviert, sieht dem französischen Schulunterricht etwas reservierter entgegen. Die Tatsache, dass ich die kleine Familie zu diesen administrativen Terminen begleite, und man nicht auf eine ukrainisch oder russischsprachige Vermittlerin warten muss, verhilft uns zu einer bevorzugten Position, und wir kamen (vor)gestern Nachmittag als erste dran. Man spürt, dass der Bürgermeister die Parole “unbürokratische Hilfe und freundlicher Empfang” für die ukrainischen Mütter mit ihren Kindern ausgegeben hat. Ich habe noch selten so liebenswürdige Damen in der Verwaltung vor mir gehabt, die nicht, wie sonst üblich, mürrisch den Antrag verweigern, weil man von den Dokumenten die Fotokopie X nicht in dreifacher Ausführung dabei hat, sondern freundlich säuseln “einen kleinen Augenblick, ich mache Ihnen mal schnell die Fotokopien”. Auch die Kosten für die Kantine werden ohne Wenn und Aber übernommen. Dummerweise hat der kleine Junge eine Kuhmilch-Intoleranz und jetzt müssen wir morgen noch zur Ärztin und danach zum Service PAI, für ein projet d’accueil individualisé, damit nicht versehentlich eine Dame aus der Kantine, dem kleinen M. ein Glas Milch aufdrängt, das er dann zwar nicht trinken würde, weil er weiß, dass es ihm Bauchschmerzen macht, aber da er es der Dame bislang noch nicht erklären kann, gäbe es vielleicht Konflikte, und das will ja keiner. Das Einschreiben dauert eine gute Stunde, die beiden Jungs sitzen zusammengeschmiegt auf einem Bänkchen und schauen ganz leise einen Zeichentrickfilm oder was weiß ich, auf jeden Fall sind sie mucksmäuschenstill. Die Dame der Mairie ist beeindruckt. So brave Kinder! Und dann sagen die Kinder zum Schluss noch höflich “Merci” und “Au revoir”. Ich bin, zugegeben, es ist ein bisschen idiotisch, auch ziemlich stolz. Die Dame aber hat Tränen der Rührung in den Augen.

Heute (gestern) dann habe ich die Familie zu einem Resto du Coeur (entspricht in etwa den “Tafeln” in Deutschland) begleitet. Als ich vor drei Wochen darüber schrieb, hätte ich mir nicht träumen lassen, dass ich jetzt ein Resto du Coeur in Aktion erlebe. Vor wenigen Tagen hat mir eine Dame, die als Ehrenamtliche für die Restos du Coeurs gearbeitet hat, erklärt, wie es dort funktioniert. Man muss sich einschreiben, in der Regel ein schwieriger Schritt, weil man sich selbst eingesteht, dass man in Not ist und vor Ort nachweisen muss, dass man ausreichend mittellos ist. Es sei aber letzten Endes nicht erniedrigend, dort hinzugehen. (Das beruhigt mich, denn ich war im Hilfszentrum für die Ukraine, wo man zwar sehr zuvorkommend behandelt wird, sich aber die Kleiderspenden zu riesigen Stoffbergen verwandelt haben und das Suchen darin, etwa nach einer schönen, passenden, nicht verschmutzten und nicht modrig riechenden Jacke, so wenig erbaulich ist, dass ich es aufgegeben habe. Ich bin eine Verfechterin der Second Hand Shops, ich kaufe hin und wieder bei Vinted und suche auch auf Flohmärkten gerne mal in einem Haufen herumliegender Kleidung ein besonderes Teil, aber diese muffigen Kleiderhaufen wollte ich weder mir noch Tetiana zumuten.) Ich kannte zwar den Ort des Resto du Coeur, ganz in der Nähe des schönen Marché Forville, habe es aber noch nie geöffnet gesehen. Es ist ein schlichtes Lagerhaus, über dem im ersten Stock ein paar ebenso schlichte Büros liegen. Vor dem Lagerhaus stehen wartend Menschen mit Einkaufstaschen. Sehr unterschiedliche Menschen, aber keine Obdachlosen, was ich einen Moment befürchtet habe, nicht meinetwegen, sondern wegen Tetiana, die sich von eben auf jetzt “ganz unten” wiederfindet. Wie muss sich das alles für sie anfühlen?

Auch hier ist der Empfang geradezu liebevoll, als ich mein Sätzchen “Ich begleite eine ukrainische Familie…” aufsage. Man sucht zunächst eine russischsprachige Kollegin, ich bin ein bisschen angespannt, doch der Kontakt mit Tetiana scheint zu funktionieren, aber letztlich reiche ich auch hier als “Dolmetscherin” aus. Niederschwellige Bürokratie auch hier. Abgesehen von der Aufenthaltserlaubnis der Präfektur, unserer attestation d’hébergement und den Pässen, muss Tetiana nicht noch nachweisen, dass sie kein Geld hat, man glaubt es ihr einfach. Während wir in dem kleinen Büro sitzen, kommt immer mal eine Mitarbeiterin rein und drückt den Kindern ein Spielzeug in die Hände oder ein Tütchen Gummibärchen. Tetiana bekommt ihre Berechtigungskarte, einen wöchentlichen festen Termin zugeteilt, und dann dürfen wir in das Lagerhaus, wo eine Dame ihr nach einem mir nicht ganz verständlichen Punktesystem Grundnahrungsmittel zuteilt. Die Kinder gelten (ab 18 Monaten) als Erwachsene und Tetiana sieht mit großen Augen, wie sich Milch, Eier, Kartoffeln, Nudeln, Joghurt, tiefgefrorener Fisch und Hähnchenteile vor ihr auftürmen. Die Dame hält ihr mehrere Dosen mit Gemüse entgegen, weil sie, wie sie bedauernd sagt, kein frisches Gemüse mehr hat. Tetiana schüttelt den Kopf und hält abwehrend die Hände hoch, es ist ihr zu viel. “Aber Sie müssen auf Ihre 18 Punkte kommen”, sagt die Dame des Resto du Coeur verzweifelt, schiebt ihr entschlossen die Dose mit Erbsen zu und sucht dann Kaffee, Kakaopulver und Käse und entscheidet, dass die Kinder noch Kekse und Schokoriegel bekommen müssen. Tetiana wischt sich die Tränen aus den Augen und umarmt mich mal wieder. Dann laufen wir mit zwei schweren Einkaufstaschen zurück zum Auto. Ich bin froh, dass ich den Dienstagvormittag gewählt habe, denn alle laufen mit Einkaufstaschen vom Markt und den angrenzenden Geschäften herum, wir fallen nicht auf, anders als vermutlich montags, wo hier Antikmarkt ist und viele Läden geschlossen sind. Kann einem vielleicht auch egal sein, ich finde es trotzdem schöner so.

Unsere “Gespräche” mittels der Franco-ukrainischen App (übrigens war ich heute nochmal in der Buchhandlung, um für den großen Jungen ein Manga zu erstehen, er ist großer Fan, und um den Franco-ukrainischen Dictionnaire abzuholen, den ich meines Wissens bestellt hatte; der war aber nicht nur nicht bestellt, der ist derzeit überhaupt nicht mehr lieferbar und wird erst wieder nachgedruckt, vermutlich verdient der Wörterbuchverleger in naher Zukunft überhaupt erstmals etwas Geld mit diesem bislang so selten benötigten Werk!) unsere “Gespräche” also sind kurz, zweckorientiert, ich will sie auch nicht die ganze Zeit bedrängen, um zu fragen, was sie braucht (“nichts”) – und vieles ist zu kompliziert zu erklären. Dass ich den Wäschetrockner, der unten steht, eigentlich auch manchmal brauche, habe ich bislang nicht erwähnt und warte daher mit dem Waschen so lange, bis die Sonne scheint, damit ich die Wäsche wieder draußen aufhängen kann. Ich wollte, dass sie in der kleinen Wohnung erstmal in Ruhe und Sicherheit sind und ich nicht gleich in “ihrer” Wohnung herumwusele. Bei uns ging ja alles so holterdipolter, einerseits bin ich froh, weil es uns keine Zeit ließ, groß darüber nachzudenken oder nervös zu werden, ob und wie und wer und überhaupt, andererseits konnten wir weder das Büro so richtig mit besser passenden Möbeln vorbereiten (es steht noch immer ein ziemlich sinnloser dafür aber großer Aktenschrank dort herum), geschweige denn mit allem Nötigen ausstatten. Dass ich über unser “Abenteuer” schreibe, weiß sie selbstverständlich auch nicht; wieviel ich letztlich davon erzählen werde, weiß ich wiederum noch nicht.

Dass ich darüber geschrieben habe, hat mir einige sehr liebe, großzügige und unkomplizierte Hilfsangebote eingebracht. Alle HelferInnen haben mir früher oder später davon geschrieben, dass es ihnen aufgrund ihrer Familiengeschichte ein Bedürfnis sei, etwas “zurück”zugeben: So war etwa die Großmutter einer Dame mit Kind im Kinderwagen aus Schlesien geflohen, und sie hätte ohne ein paar Kartoffeln, die ihr Menschen hier und da gaben, nicht überlebt, und “dann gäbe es mich heute nicht”. Eine ältere Dame erinnert sich, dass sie als kleines Mädchen am Ende des Krieges auf dem beschwerlichen Weg quer durch Deutschland zur Wohnung der nicht ausgebombten Großeltern, nur einen Stofffetzen trug, nicht mal ein richtiges Kleid hatte sie, nur ein Stück Stoff, das mit einem Knopf an einer Schulter provisorisch hielt. “Ich habe mich so geschämt”, erzählt sie. Eine Familie floh aus Ungarn, der Junge war damals sieben Jahre alt, und sie konnten gar nichts mitnehmen, damit es nicht nach Flucht aussah. Eine Dame aus Rumänien kam hochschwanger mit einem Koffer in Berlin an und ist auch bis heute dankbar für die Hilfe, die sie erhielt. Das gebe ich so in etwa (zusammengefasst) an Tetiana weiter (ich schreibe es auf Französisch und übersetze es mit Deepl ins Russische; auch da war ich nicht sicher, ob es für sie nicht vielleicht unerträglich ist, Russisch zu lesen, denn Ukrainisch gibt es bei Deepl nicht). So kann sie die Hilfe halbwegs annehmen. Rumänien, erfahre ich nebenbei, hat auch so eine schmerzvolle Geschichte, und ich schäme mich mal wieder, so gar nichts von diesen osteuropäischen Ländern zu wissen. Nicht, dass ich besonders viel über Portugal oder Griechenland wüsste, aber doch hat man von dort eine vage Idee, kennt ein typisches Gericht, oder vielleicht war man ein- oder zweimal dort im Urlaub.

Ich weiß übrigens noch gar nichts von Tetianas Geschichte. Ich weiß auch nichts über den Rest der Familie. Ich habe nämlich nichts gefragt. Außer, ob sie Nachrichten von ihrem Mann hat. Die hat sie via Telefon, das weiß ich. Alles andere kann warten, bis sie es erzählen kann oder mag. So reizend die Damen in der Verwaltung bislang waren, sie waren immer auch sehr neugierig. “Von wo kommen Sie?”, fragt auch die Dame bei der Schuleinschreibung. Tetiana sieht mich fragend an. “Aus der Nähe von Kiew”, antworte ich der Einfachheit halber, und sehe Tetiana fragend an. Sie nickt. “Kiew? Oh! Sie hat bestimmt Schreckliches erlebt, oder?!”, fragt die Dame vor uns mit großen Augen und sieht von ihr zu mir. Sogar die Frau beim Resto du Coeur will das wissen. “Das bleibt alles unter uns”, fügt sie beruhigend hinzu. Trotzdem komisch und ich fühle mich merkwürdig betroffen. So eine intime Frage von einer Verwaltungsbeamtin, mit der wir ein paar Minuten zusammen sein müssen? Ausgerechnet ihr soll Tetiana das erzählen? “Geht Sie das was an?”, möchte ich zurückgeben, tue ich natürlich nicht. Einmal hat Tetiana versucht, ihren Weg zu erzählen, es kamen auch Ternopil und Lviv darin vor. “Ach so, im Westen”, wusste die Dame vor uns. “Da ist es ja nicht so schlimm.” Dankeschön auch. Bei aller Liebe, ich finde nicht, dass man die Menschen gleich danach ausfragen soll, was sie alles Schreckliches erlebt haben. Und auch wenn sie nicht aus dem dramatisch umkämpften Mariupol kommen, vierzehn Tage in einem Bunker verbracht haben, ohne Wasser, Essen und Strom, oder beschossen wurden, als sie über die Straße rannten, sie haben ihren Mann und Vater zurückgelassen, und einen Hund. In ihrem Land ist Krieg. Das ist schon schrecklich genug. “Sie sind am 8. März angekommen und waren sehr erschöpft”, sage ich vorsichtig und finde das reicht so. Die Dame vom Resto du Coeur immerhin nickt und lässt es damit bewenden.

Nathalie D. ließ mir diesen Artikel zum Thema zukommen. Darin gibt es auch einen Link zu diesen fünf Fragen, die Sie sich stellen sollten, bevor Sie einen Geflüchteten aufnehmen. Wir haben es einfach gemacht. Aber wir haben eine unabhängige Wohnung. Dennoch hätte ich nicht gedacht, dass mich die Situation so schlaflos macht. Nicht, weil es laut wäre, die meiste Zeit ist es sehr leise. Aber ich bin aufgewühlt, denn ich verliere den Krieg dieses Mal nicht aus den Augen. Und ich werde mir bewusst, dass es ein Engagement für lange Zeit ist. Und doch bin ich jeden Tag, wenn ich die Nachrichten sehe, froh, dass wir diesem Wahnsinn etwas entgegensetzen.

Falls Sie einer anderen ukrainischen Familie direkt helfen wollen, gäbe es hier einen Link zu Paypal. Katrin von Cote d’Azur unlimited hatte spontan ihre kleine Ferienwohnung in Théoule zur Verfügung gestellt. Die Wohnung war aber zu klein für vier Personen (plus Hund) und liegt vor allem weit ab von Schule, Geschäften usw. und es gibt nur eine unzureichende Busverbindung (zweimal am Tag). Jetzt hat man ihnen eine besser geeignete Wohnung gefunden, aber es fehlt an allem. Auch sie kamen (wie Tetiana) nur mit einem kleinen Koffer und warmen Winterklamotten hier an.

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Drei Filme

Auch Cinécroisette, der Filmclub, dem wir angehören, macht sich stark für die Ukraine. Die Kinos, Filmclubs und Festivals in Frankreich zeigen eine Filmauswahl ukrainischer Filme und sie verzichten, wie auch sämtliche Filmverleiher vollkommen auf die eingenommenen Gelder. Sämtliche Eintrittsgelder und zwar komplett, nicht nur der häufig symbolische Euro, gehen an die Ukraine (in unserem Fall an einen Verein, der mit der Stadt Cannes zusammenarbeitet). Das Kino wurde extra dafür geöffnet und alle (Kassierer, Filmvorführer) haben ohne Bezahlung gearbeitet. Wir haben heute früh “Olga” gesehen. Olga ist eine 15jährige Kunstturnerin, die in Kiew für die Europameisterschaften trainiert. Als auf ihre Mutter, eine Journalistin, die über den damaligen Präsidenten ermittelt und schreibt, ein Anschlag verübt wird, schickt man Olga zum Trainieren in die Schweiz, die Heimat ihres verstorbenen Vaters. Sehr starker Film! Ich schäme mich mal wieder, so wenig über die Revolution auf dem Maidan mitgekriegt zu haben. Hier eine Besprechung und ein Interview mit dem Filmemacher.

Am Abend sahen wir Donbass von Sergej Lotznitska. Hmpf. Endet Olga mit einer positiven Grundstimmung, demoralisiert Donbass umso mehr, und deswegen kriegen Sie den Link zum Trailer dazu nur indirekt auf der am Anfang des Satzes verlinkten Seite. Wenn Sie wissen wollen, wie sich der alltägliche Krieg (in der Ostukraine) heute (!) anfühlt (ich dachte immer wieder, das kann doch nicht im 21. Jahrhundert stattfinden!), dann sehen Sie den Film an, aber seien Sie gewappnet. Ich musste danach erstmal viel darüber lesen. Sieben der dreizehn nicht miteinander verknüpften Szenen, aus denen der Film besteht, hat der Filmemacher von privat veröffentlichten Videos übernommen und nur etwas “akzentuiert”. Umso schlimmer. Der Film lief in Cannes beim Filmfestival 2018 und ich verlinke Ihnen dieses Interview, das damals in der taz erschienen ist.

In Nice Matin zu lesen, dass einer der russischen Waffenhersteller (Kalashnikov-Group) in Cannes eine Villa besitzt, macht dann auch keine richtig gute Laune. Allerdings hat unser Bürgermeister mit seinem ausdrücklichen Engagement für die Ukraine eindeutig seine Seite gewählt. Es wird dem Tourismus in Cannes allerdings wehtun, wenn Oligarchengattinnen nicht mehr Luxus-Boutiquen leer kaufen und Sternerestaurants nicht mehr für ausschweifende Feiern privatisiert werden. Davon lebt Cannes schon auch. Nun gut, man muss sich entscheiden.

Ok, alles etwas Ukrainelastig derzeit, aber die französischen Nachrichten sind auch nicht prickelnder: Depardieu hat nicht nur seine Auftritte mit seinem Programm “Depardieu singt Barbara” abgesagt, (Sie erinnern sich vielleicht, wir haben ihn gehört/gesehen und waren sehr begeistert. Doch doch, waren wir. Ich stehe dazu auch immer noch, ich finde Depardieu als Schauspieler ziemlich großartig), aber nun ist seine herzliche Zugewandtheit zu Putin doch etwas problematisch, dazu kommt, dass man (frau vielmehr) ihn der Vergewaltigung bezichtigt. Nee, verlinke ich Ihnen jetzt nicht, ist mir zu trashig.

Hier kommt ein weiteres Filmchen unseres Präsidenten-Kandidaten. Es ist schon von letzter Woche, aber bei uns passiert gerade zu viel, ich sehe es eben erst. Macron hat in der Zwischenzeit auch sein Programm vorgestellt. Im Film sieht man ihn im QG, quartier général, Hauptquartier seiner Wahlkampagne und umringt von den Leuten, die seine Kampagne machen und ihn unterstützen. Was ich zum ersten Mal so wahrnehme (vermutlich das neu kriegsgeschulte Auge, seufz) sind die Sicherheitsbeamten, die (bei der Szene im Innenhof, etwa ab Minute 4) ununterbrochen die Fenster und Dächer scannen, während alle anderen nur Macron ansehen. Mon Dieu. Später ein erstes Gespräch (Fragen und Antworten) in Poissy. Gewonnen ist die Wahl erst am Ende, sagt er mal wieder. Auf die Frage, was er machen würde, wenn er die Wahl verliere, verweist er auf Angela Merkel, die gesagt habe, sie mache erstmal nichts und überlege.

Ich muss sagen, ich kriege im Moment nicht so viel mit von den anderen Kandidaten, abgesehen von der Nachricht, dass Marion Maréchal sich nicht ihrer Tante Marine, sondern dem noch konservativeren Eric Zemmour angeschlossen hat. Und das, obwohl Marine le Pen derzeit in den Sondagen, vermutlich wegen ihrer weniger aggressiven Kampagne, besser abschneidet als alle anderen, wenn sie auch weit hinter Macron liegt. Für den zweiten Wahldurchgang käme es dann, wie beim letzten Mal, zu einem Wahlduell Macron – Le Pen.

So viel für heute. Morgen früh werde ich mit Tetiana zum Ukraine-Büro der Stadt gehen und schauen, was wir an weiterführender Hilfe beantragen können. Sie hat tatsächlich ihre vorläufige Aufenthaltsgenehmigung (für sechs Monate) bekommen, nachdem sie mit ihrem Bruder die Nacht vor der Präfektur ausgeharrt haben. Seit gestern kann man diese Papiere nun auch in Cannes bekommen und muss dafür nicht mehr bis nach Nizza fahren, wo man dann mit Leuten aus dem ganzen Departement ansteht, das hat der Bürgermeister, der gerade als Präsident aller Bürgermeister gewählt wurde und damit einiges durchsetzen kann, erreicht. Das sage ich den erschöpften beiden jetzt aber nicht mehr. Einerseits ist man mit einem gültigen (biometrischen) Pass und einer Unterkunft zwar für drei Monate en règle, aber wenn man zum Beispiel einen (von der Stadt angebotenen kostenlosen) Sprachkurs machen will, dann braucht man die Aufenthaltsgenehmigung der Präfektur schon. Um aber den Sprachkurs (der tagsüber angeboten wird) machen zu können, müssten die Kinder in der Schule sein. Eins hängt am anderen. Lebensmittelhilfe wäre auch schön, finanziell ist es doch etwas eng, so wie ich das mitkriege. Nun, das sehen wir morgen. Jetzt (24 Uhr schon wieder) gehe ich ins Bett.

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Ohne Titel

recyceltes Foto: Blau und Gelb

Sie wollen natürlich wissen, wie es hier weitergeht mit Tetiana (nicht Tatjana, wie ich in der Zwischenzeit weiß) und ihren Kindern. Es passiert so viel, dass ich kaum nachkomme und ich weiß immer noch so wenig von ihr. Die fünf Tage, die wir in den Bergen verbracht haben, waren intensiv und traurig – es gab eigentlich noch eine zweite Beerdigung, am ersten und am letzten Tag nämlich, und nur weil meine Lesung am Sonntag in Nizza wegen eines Radsportevents ausgefallen war (das CCFA lag mitten in der Einfuhrschneise von Paris-Nice und die komplette Innenstadt war zu diesem Zwecke gesperrt) fuhren wir nicht hin und her, sondern blieben da oben, was mir überraschende Begegnungen mit Freundinnen von früher ermöglichte – die junge Schäferin Marie schleppte mich und zwei andere Frauen nämlich zu einem Frauenabend (die ganze Woche gab es im kleinen Sozialzentrum von Guillaumes Veranstaltungen im Rahmen des Weltfrauentags) und das war toll! Am nächsten Tag war Markttag und ich kaufte Unmengen von Schafs- und Kuh-Käse und Joghurt von fast allen producteurs. Love that!

Vor der Abfahrt in die Berge hatte ich in der Buchhandlung zwei bebilderte Kinderwörterbücher, Filzstifte und Papier erstanden, und ein franco-ukrainisches Wörterbuch bestellt. Dann zeigte ich ihnen noch schnell den Park mit dem kleinem Spielplatz, die beiden Jungs, auch der große, rutschten begeistert auf der kleinen Rutschbahn, kletterten juchzend auf dem Klettergerüst und rannten ansonsten einfach herum. Endlich Bewegung! Mit Tetiana unterhielten wir uns satzweise via einer franco-ukrainischen App auf dem Telefon und genossen die warmen Sonnenstrahlen auf einer Parkbank. Die Frage nach leichterer Kleidung kam auf, da es aber in den folgenden Tagen regnete und stürmte, und auch wieder kalt wurde, wurde es weniger dringlich. (In den Bergen fiel entsprechend Schnee.) Sie verbrachten die nächsten Tage drinnen, aber eine Freundin und die beiden Nachbarinnen aus dem Haus hatten Spielzeug (Puzzle, Autos, Playmobil, Knete) Bilderbücher und Kinderzeitschriften (Wapiti) angeschleppt, ich gab zusätzlich mein kleines Kuschelschaf an den kleinen Jungen weiter, ich glaube, er braucht es nötiger als ich.

Die großherzige Freundin, bei der wir in den Bergen logierten, gab mir selbstgemachte Marmelade, Honig und Käse für die kleine Familie mit, und einen Umschlag. Das alles führt jedes Mal dazu, dass Tetiana hundertmal Merci sagt und mich mit Tränen in den Augen umarmt. Dann aber genug bedankt, mussten wir schnell eine attestation d’hebergement schreiben, also bestätigen, dass Tetiana mit den Kindern so lange es nötig ist, bei uns wohnen kann, suchten zusätzlich eine aktuelle Telefonrechnung (die es natürlich nur im persönlichen Internet-Serviceraum auszudrucken gibt, den wir in all den Jahren nie eröffnet hatten, die Suche nach Passwörtern, bzw. die Kreation neuer sicherer Passwörter begann, nervig, Sie kennen das.) Die Telefonrechnung, die an uns adressiert ist, ist quasi unsere Meldebestätigung, da es so etwas in Frankreich nicht gibt.

So. Gerade (20 Uhr) habe ich Tetiana und Ivan gesehen. Sie sind erschöpft von ihrem Tag, sie haben erneut mit den Kindern und etwa 600 anderen Personen an der Präfektur vergeblich Schlange gestanden. Der Schalter schloss als sie nur noch etwa einen Meter davon entfernt waren. Jetzt werden sie sich gegen Mitternacht anstellen, und hoffen, dass sie morgen dran kommen. Herrjeh. Die Kinder bleiben derweil in der Obhut einer ukrainischen Bekannten. Bislang waren die Kinder so etwas von still und leise, dass sie mir ganz unheimlich waren. Vorhin weinte der Große, weil er in der Nacht nicht ohne seine Mama verbringen wollte. Jetzt (23 Uhr) giggeln sie und lachen und kreischen und rennen durch die kleine Wohnung, dass ich sie nicht nur im Zimmer direkt darüber, sondern noch zwei Zimmer weiter hören kann. Eigentlich macht mich Lärm unter meinem Schlafzimmer, ganz gleich welcher Art, nicht glücklich. Aber heute denke ich, dieses ausgelassene (Stress rauslassende) Kindergeschrei ist ein gutes Zeichen. Sie sind ganz normale, lebendige Kinder, denen das Leben von jetzt auf gleich in einem anderen Land, ohne ihren Vater, und mit der spürbaren Sorge ihrer Mutter natürlich zusetzt.

Morgen gibt es eine Informationsveranstaltung der Stadt für die ukrainischen Familien und ihre Gastgeber. Da werden vielleicht auch die etwas widersprüchlichen Ankündigungen zum Schulbesuch eindeutig geklärt, und wir wollen die Lebensmittelhilfe, die wir beantragt hatten, reklamieren. Und für Katrin von Côte d’Azur unlimited, die ganz großartig ihre kleine Ferienwohnung in Théoule für eine vierköpfige Familie zur Verfügung stellte (morgens angerufen, abends sind die Menschen da, das geht hier ruckzuck, alles andere holpert und stolpert dann etwas hinterher), für Katrin also frage ich, wie man der Familie eine Anschlusswohnung auf Zeit oder besser noch eine richtige Wohnung vermitteln kann, denn erstens liegt die (zu) kleine Wohnung weit weg von Schule und Läden (eine Ferienwohnung eben) und irgendwann will Katrin schon gerne selbst wieder in ihrer Ferienwohnung Urlaub machen.

Gerade trudelte noch eine Nachricht der Bürgermeisterin meines Bergdorfes ein: sie werden in der derzeit leerstehenden Auberge Flüchtende aus der Ukraine aufnehmen. Boah, denke ich und hoffe gleichzeitig, es verschlägt nicht irgendwelche Großstädter dorthin. Ich liebe mein kleines Dorf, aber es ist nicht allzu viel los da und ohne Auto wird es schwierig.

Ich möchte Ihnen noch von einer jungen ukrainischen Fotografin @victoria_liholet erzählen, die ich letztes Jahr im Internationalen Haus in Nürnberg kennengelernt habe (da sehen Sie mal, diese Städtepartnerschaften führen zu echten Begegnungen! Cannes übrigens hat sich gerade mit Lviv verpartnerschaftet!) Sie kommt aus Kharkiv (= französische Schreibweise), wie mir plötzlich erschrocken klar wurde. Kharkiv, ups, was haben wir da nicht für schreckliche Bilder im Fernsehen gesehen. Ich bin mit Victoria lose über Instagram verbunden und suchte sie. Seit zwölf Tagen postet sie aus ihrer Wohnung im obersten Stock eines Hochhauses Nachtaufnahmen der wenigen Lichter ihrer Nachbarschaft. Heute schrieb sie: “Die Lichter werden immer weniger.” Es gehe ihr “gut”, antwortete sie, als ich sie vor ein paar Tagen anschrieb. Sie sei “relativ sicher” und sie dankt mir für meine Sorge und mein Hilfsangebot, lehnt es aber ab, es gehe ihr gut und sie wolle nicht weg. Ich warte jetzt jeden Tag auf ihr gepostetes Foto, so weiß ich, dass sie noch lebt. Bei @photovogue gibt es derzeit eine mehrteilige Serie A tribute to Ukraine über ukrainische FotografInnen. Auch von ihr gibt es einen Beitrag. Doch sie ist unzufrieden, schreibt sie mir, dass man ukrainische Kunst und Künstler erst durch diesen Krieg entdecke, und dass man nicht mehr über Kunst um der Kunst willen sprechen könne, sondern immer nur im Kontext Krieg. “I really want to get back to pure enjoyment of art, when this whole nightmare is over.” Auch ihre Fotos sind ja vom Krieg beeinflusst, aber nun gut. In Nürnberg erzählte sie und die anderen FotografInnen aus Kharkiv mir von ihrem Projekt, Nacktaufnahmen zu machen, ohne dass sie als sexualisiert oder pornografisch angesehen würden. “Aha”, dachte ich, alte weiße Frau aus einem alten westeuropäischen Land, ein bisschen müde. Ich habe mich nicht besonders dafür interessiert, scrolle erst jetzt neugierig durch ihre über tausend Instagram-(nicht nur Nackt-)Fotos, und ja, die Ukraine und manche Künstlerin entdecke auch ich gerade erst durch diesen Krieg. Mea culpa. Aber soll ich deshalb jetzt nicht darüber sprechen?

Dieses ukrainische Orchester zum Beispiel begeistert mich mit jedem Hören mehr und mehr. Gefunden über @stasiasavasuk.

Wenn Sie noch nicht genug haben, hier wäre nochmal eine zusätzliche Stunde DakhaBrakha.

ps: Diesen Text habe ich schon gestern Abend geschrieben, aber mir wollte ums Verr*** keine Überschrift einfallen. Deswegen ließ ich ihn über Nacht liegen, mir fällt immer noch nix ein, aber da wir von Kunst sprechen, erlaube ich mir meine Lieblingsbezeichnung von Kunstwerken in Museen und Galerien zu verwenden: Ohne Titel.

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Abschiede – Des adieux

Wir haben fünf Tage in einer Parallelwelt verbracht. In den Bergen sterben die Leut. Überhaupt sterben in und um Guillaumes, dem Zweihundert-Seelen- Dorf im oberen Vartal, in dem ich seinerzeit in der kleinen Cooperative, dem Genossenschaftsladen, gearbeitet habe, ziemlich viele Menschen, denen ich Futtermais, Gummistiefel oder Saatkartoffeln verkauft habe. Es tut mir weh, all die Menschen, die “meine Welt” dort oben ausmachen, verschwinden zu sehen. Besonders weh tut es, wenn es die Menschen aus “meinem” Dorf sind, Châteauneuf d’Entraunes, das noch kleiner ist und noch ein paar hundert Meter höher liegt. Vor zwei Monaten starb schon Rosette, eine Schäferin und eine besondere Persönlichkeit des Dörfchens. Vier wild aussehende Schäfer trugen ihren Sarg vom kleinen Dorfplatz, an dem ihr Haus steht, bis zur Kirche. Der Diakon, gleichzeitig der Landarzt und Freund der Familie sprach sehr persönlich und liebevoll von ihr und ihrer Familie, die ein stets offenes Haus führten. Bei ihnen sagt man “guten Tag” wenn man im Dorf ankommt und “Auf Wiedersehen” wenn man wieder geht. Fast alle Bewohner des Dorfes lassen ihren Schlüssel dort am riesigen Schlüsselbrett, für den Fall dass … Dieses Haus ist Dreh- und Angelpunkt des Dorfes. Hier gibt der Briefträger Post ab, die bei dem einen oder anderen nicht in den Briefkasten passt und liefert gleichzeitig die Neuigkeiten aus dem Tal. Nachrichtenzentrale. Alles weiß man hier. Im Winter ist es dort immer gut geheizt, häufig ist es so warm, dass ich mir sofort die Jacke vom Leib reiße und schwer atmend und mit hochrotem Kopf an der Tür stehen bleibe. Meistens aber wird man genötigt, sich zu setzen, etwas zu trinken, je nach Tageszeit einen Kaffee, einen Minzsirup oder einen Pastis, oder wenigstens zu erzählen, was es Neues gibt. Sucht man jemanden im Dorf, dann fragt man am besten hier nach. Entweder weiß man, wo der oder diejenige sich befindet, oder er oder sie ist sowieso gerade da und plaudert. Alle sind früher oder später hier. Es herrscht ein Kommen und Gehen. Alle reden durcheinander, Hunde und Katzen wuseln herum, der Fernseher läuft, das Telefon klingelt. Kommt man überraschend um die Mittagszeit, rücken sie auf dem engen Canapé zusammen, quetscht man sich dazwischen und wird mit verköstigt. Früher war es Rosette, die kochte, seit ein paar Jahren konnte sie es nicht mehr. Sie saß zusammengesunken mit dem kleinen Hund oder einer der Katzen auf dem Canapé und atmete nur noch mithilfe eines Sauerstoffgeräts. Ich erinnere mich noch an sie, wie sie früher war, rasant rothaarig und mit langen roten Fingernägeln, auf ihre Art sehr kokett und gleichzeitig brüsk. Besser war es, gut mit ihr auszukommen. Ich hatte die Ehre, dass sie mich mochte. Mir bot sie noch einen Platz an, als sie schon sehr müde war, auf dem Sofa nicht mehr saß, sondern lag und sich kaum noch erhob. Ihr Mann hatte mir gesagt, ich solle nach dem Essen bei Ihnen den obligatorischen Kaffee trinken. Bis ich aber kam, hatte er sich schon zur Sieste zurückgezogen. Sie leben in all dem Trubel doch ihren eigenen Rhythmus. “Setz dich”, sagte sie zu mir und richtete sich mühsam auf. “Willst du einen Kaffee?” Ich wehrte ab, sie insistierte. Der Kaffee war von ihrem Mann versprochen worden. Das hielt sie ein. Ich könne mir auch selbst einen Kaffee machen, schlug ich vor. Sie winkte nur ab und erhob sich langsam von ihrem Canapé, schlurfte zur Kaffeemaschine und ließ mir einen Espresso durchlaufen. Sie stellte das kleine Glas vor mich hin und suchte die Zuckerdose im Schrank. Dann ließ sie sich schwer atmend wieder auf das Canapé fallen und stöpselte sich an ihre Sauerstoffflasche an. “Nimm dir einen Keks” forderte mich Maria, ihre Mutter, auf, und machte eine Geste zur riesigen Suppenschüssel mit dem gesprungenen Deckel, in der immer Gebäck, im Winter selbst gebackenes Spritzgebäck, aufbewahrt wird. Ich nahm mir einen Keks, tunkte ihn in den Espresso und erzählte dies und das. Ein paar Tage später war Rosette so erschöpft, dass ihr Mann sie ins Krankenhaus fuhr. Sie wollte nicht. Niemand will hier ins Krankenhaus. Er fuhr sie trotzdem. Es war Freitag Abend. Im kleinen Regionalkrankenhaus eine Dreiviertelstunde entfernt sagten sie, dass sie vor Montag nichts machen könnten. Kein Arzt da. Was wollen Sie machen, wir sind auf dem Land. Ihr Mann fuhr sie noch eine weitere Dreiviertelstunde bis nach Nizza in die Notaufnahme eines Stadtkrankenhauses. Dort starb sie noch in derselben Nacht. Ihr Mann ist untröstlich, sie ausgerechnet in dieser Nacht verlassen und ihr nicht die Hand gehalten zu haben.

Foto: Jean Pierre Champoussin

Und jetzt ist Maria gestorben. Sie war außer sich und blieb untröstlich, dass ihre Tochter vor ihr gegangen war. Maria. Sie war Schäferin mit Leib und Seele. Ziegen und Schafe waren ihr Leben. Sie war kaum in der Schule gewesen, konnte kaum lesen und schreiben, aber sie hatte ein anderes Wissen: Ein tiefes Wissen von Pflanzen und Tieren und dem Wetter, von der uns umgebenden Natur und von den Menschen. Sie hat ihr langes Leben lang gearbeitet und immer Tiere gehabt. In den letzten Jahren immer weniger, meistens päppelte sie nur noch die Schafe auf, die zu schwach waren, um bei der jährlichen Transhumance, dem Auftrieb der Schafe in die Berge, mitzulaufen. Alle paar Stunden gab sie ihnen die Flasche. Einmal habe ich ihr eines gebracht, das entkräftet am Straßenrand liegengeblieben war. Seine Mutter hatte es abgelehnt und es war fast verhungert. Als ich mit dem kleinen Schaf im Arm in die Küche kam, nickte sie nur und erhob sich. Dass das Schäfchen nach ein paar Wochen dennoch gestorben war, hat sie nie vergessen. Tiere sterben eben manchmal, sagte sie damals und zuckte mit den Schultern. Man kann nicht um jedes Tier weinen. Überhaupt wird hier nicht geweint. Das Leben in der Natur und mit Tieren ist hart. Ich riss mich damals zusammen und wischte mir nur verstohlen die Tränen aus den Augen. Vor ein paar Wochen sagte sie mir, sie habe vermutlich die Milch aus dem Milchpulver nicht nahrhaft genug gemacht. Bei all den zigtausend Schafen, die sie aufgezogen und gehütet hat, hat sie “mein” kleines Schaf, das nicht überlebt hat, nie vergessen. Überhaupt hat sie nie etwas vergessen. Sie kennt Monsieur noch aus dessen Kindertagen und fragte und erinnerte sich immer mal wieder an dieses und jenes, das über siebzig Jahre zurücklag. Eine Zeitlang waren Monsieurs Mutter, die Bankierstochter und Maria, die Schäferin, zwei Frauen, die kaum gegensätzlicher sein konnten, die beiden ältesten Damen des Dorfes. Beide strebten an, hundert Jahre alt werden zu wollen und erkundigten sich durchaus respektvoll immer wieder, wie alt denn nun die jeweils andere sei. Aber nur Maria hat die Hundert, gar die Hundertzwei erreicht. Kleiner Triumph am Ende eines Lebens.

Seit ich Maria kenne, hatte sie Schwierigkeiten zu laufen und ließ sich quasi von ihrer Motor-Schubkarre ziehen, mit der sie von einem Stück Garten zu einem Stück Wiese rumpelte, um hier Bohnen zu ernten und dort mit einer Sense Gras zu mähen für die Stallkaninchen. Die Sense diente ihr dabei gleichzeitig als Stütze. Sie konnte nicht nichts tun. Im Winter saß sie zwar bei gutem Wetter in der Sonne vor der Scheune, aber niemals war sie dabei untätig, sondern sie flocht mit ihren rheumatisch verformten Händen Körbe. Und später zog sie in einem auf Skiern montierten Waschkorb Holz für den Ofen aus der Scheune bis ins Haus. Erst die letzten Jahre, als ihre Beine sie nicht mehr trugen und sie ans Haus gefesselt war, hörte sie gezwungenermaßen auf zu arbeiten, und sie hörte nicht auf, darüber zu klagen. Sie sei zu nichts mehr nütze, meinte sie. Sie saß schwer auf ihrem Stuhl und wartete auf das Essen und darauf, dass man ihr die Neuigkeiten der Welt hineintrug in die überheizte Küche. Vor knapp zwei Wochen war sie trotz all der Pflege der Krankenschwestern, und vor allem trotz der aufopfernden Zuwendung von Cathy, der Haushaltshilfe, die so viel mehr war als nur eine Haushaltshilfe, und des Schwiegersohns (beide am Ende ihrer Kräfte) in einem so schlechten körperlichen Zustand, dass entschieden wurde, sie könne nicht mehr zu Hause bleiben und müsse ins Krankenhaus. Ich war an dem Tag anwesend und es war herzzerreißend. Sie wollte nicht und weinte laut und bitterlich. “L’hopital c’est la fin.” Das Krankenhaus ist das Ende. Wir alle weinten auch. Sie war bis zum Schluss hellwach im Kopf, aber ihr Körper war müde. Und der Kummer darüber, ihre Tochter verloren zu haben, hat ein Übriges getan.

Rosette und Maria sind nicht mehr unter uns, aber für immer in unseren Herzen. Rosette war unsere Trauzeugin. Und sie hat mich auch für eine meiner Romanfiguren inspiriert. Wir werden beide nie vergessen.

Nous avons passé cinq jours dans un monde différent. Dans les montagnes, les gens meurent. À Guillaumes, le village de deux cents âmes de la haute vallée du Var où je travaillais à l’époque dans la petite coopérative, les personnes à qui je vendais du maïs, du blé, des bottes en caoutchouc ou des semences de pommes de terre meurent. Cela me fait mal de voir disparaître toutes ces personnes qui ont été “mon monde” là-haut. Cela me fait particulièrement mal quand ce sont des gens de “mon” village, Châteauneuf d’Entraunes, qui est encore plus petit et qui se trouve encore quelques centaines de mètres plus haut. Il y a deux mois déjà, Rosette, une bergère et une personnalité particulière de ce petit village, est morte. Quatre bergers ont porté son cercueil depuis la petite place du village, où se trouve sa maison, jusqu’à l’église. Le diacre, qui était aussi le médecin de campagne et un ami de la famille, a parlé d’elle et de sa famille de manière très personnelle et affectueuse, car elle et sa famille tenaient une maison toujours ouverte. Chez eux, on dit “bonjour” en arrivant au village et “au revoir” en repartant. Presque tous les habitants du village laissent leurs clés sur l’immense tableau des clés, au cas où … Cette maison est le centre névralgique du village. C’est ici que le facteur dépose le courrier qui ne rentre pas dans la boîte aux lettres de l’un ou l’autre et qu’il livre en même temps les nouvelles de la vallée. C’est une centrale d’information. Tout se sait ici. En hiver, on est toujours au chaud, il fait souvent si chaud que j’arrache ma veste et que je reste à la porte, respirant difficilement avec la tête toute rouge. Mais la plupart du temps, on nous invite à s’asseoir, à boire quelque chose, selon le moment de la journée, un café, un sirop de menthe ou un pastis, ou au moins de raconter ce qu’il y a de nouveau. Si l’on cherche quelqu’un dans le village, le mieux est de demander ici. Soit on sait où se trouve la personne, soit elle est de toute façon là, en train de bavarder. Tout le monde est là tôt ou tard. Il y a des allées et venues. Tous parlent en même temps, les chiens et les chats s’agitent, la télévision est allumée, le téléphone sonne. Si l’on arrive par surprise à l’heure du déjeuner, ils se serrent sur l’étroit canapé, on se presse entre eux et on est aussi nourri. Avant, c’était Rosette qui faisait la cuisine, mais depuis quelques années, elle ne le pouvait plus. Elle s’asseyait sur le canapé avec le petit chien ou l’un des chats et ne respirait plus qu’à l’aide d’un appareil à oxygène. Je me souviens encore d’elle telle qu’elle était autrefois, rousse et avec de longs ongles rouges, à la fois très coquette et brusque à sa manière. Il valait mieux être en bons termes avec elle. J’ai eu l’honneur qu’elle m’appréciait. Elle m’a encore proposé une place alors qu’elle était déjà très fatiguée, qu’elle n’était plus assise, mais allongée sur le canapé et ne se levait presque plus. Son mari m’avait dit que je devais prendre le café obligatoire chez eux après le repas. Mais le temps que j’arrive, il s’était déjà retiré pour la sieste. Dans toute cette agitation, ils vivent tout de même à leur propre rythme. “Assieds-toi”, me dit-elle en se redressant péniblement. “Tu veux un café ?” J’ai refusé, elle a insisté. Le café avait été promis par son mari. Elle a tenu sa promesse. Je peux aussi me faire un café moi-même, ai-je suggéré. Elle se contenta d’un signe de la main et se leva lentement de son canapé, se traîna jusqu’à la machine à café et me fit passer un expresso. Elle posa le petit verre devant moi et chercha le sucrier dans l’armoire. Puis elle se laissa à nouveau tomber sur le canapé en respirant difficilement et se rebrancha sur sa bouteille d’oxygène. “Prends un biscuit” m’a demandé Maria, sa mère, en faisant un geste vers l’énorme bol de soupe au couvercle fêlé dans lequel sont toujours conservés des biscuits faits maison. J’ai pris un biscuit, je l’ai trempé dans l’expresso et j’ai raconté ceci et cela. Quelques jours plus tard, Rosette était si épuisée que son mari l’a conduite à l’hôpital. Elle ne voulait pas. Personne ne veut aller à l’hôpital ici. Il l’a quand même conduite. C’était vendredi soir. Dans le petit hôpital régional à trois quarts d’heure de là, ils ont dit qu’ils ne pouvaient rien faire avant lundi. Il n’y a pas de médecin. Que voulez-vous faire, nous sommes à la campagne. Son mari l’a conduite trois quarts d’heure plus loin jusqu’à Nice, aux urgences d’un hôpital de la ville. C’est là qu’elle est décédée la nuit même. Son mari a le cœur brisé de l’avoir abandonnée cette nuit-là justement, de ne pas lui avoir tenu la main.

Foto: Jean Pierre Champoussin

Et maintenant, Maria est morte. Elle était hors d’elle et restait inconsolable que sa fille soit partie avant elle. Maria était une bergère. Elle était bergère corps et âme. Les chèvres et les moutons étaient sa vie. Elle n’avait guère été à l’école, savait à peine lire et écrire, mais elle avait un autre savoir : Une connaissance profonde des plantes, des animaux et du temps, de la nature qui nous entoure et des hommes. Elle a travaillé toute sa vie et a toujours eu des animaux. De moins en moins ces dernières années, la plupart du temps elle se contentait de nourrir les agneaux qui étaient trop faibles pour participer à la transhumance annuelle, la montée des moutons dans les montagnes. Toutes les deux heures, elle leur donnait le biberon. Une fois, je lui ai apporté un agneau qui était restée sur le bord de la route, affaibli. Sa mère l’avait rejeté et il était presque mort de faim. Lorsque je suis arrivée dans la cuisine avec le petit mouton dans les bras, elle a simplement hoché la tête et s’est levée. Elle n’a jamais oublié que le petit mouton était mort quelques semaines plus tard. Les animaux meurent parfois, disait-elle alors en haussant les épaules. On ne peut pas pleurer pour chaque animal. D’ailleurs, on ne pleure pas ici. La vie dans la nature et avec les animaux est dure. Je me suis alors ressaisie et j’ai seulement essuyé furtivement les larmes de mes yeux. Il y a quelques semaines, elle m’a dit qu’elle n’avait probablement pas rendu le lait en poudre assez nourrissant. Parmi les dizaines de milliers de moutons qu’elle a élevés et gardés, elle n’a jamais oublié “mon” petit mouton qui n’a pas survécu. D’ailleurs, elle n’a jamais rien oublié. Elle connaît Monsieur depuis l’enfance de ce dernier et lui posait de temps en temps des questions et se souvenait de telle ou telle chose qui remontait à plus de soixante-dix ans. Pendant un certain temps, la mère de Monsieur, la fille du banquier, et Maria, la bergère, deux femmes qui ne pouvaient guère être plus opposées, étaient les deux doyennes du village. Toutes deux aspiraient à devenir centenaires et se demandaient sans cesse, avec respect, quel âge avait l’autre. Mais seule Maria a atteint la centaine, voire les cent deux ans. Une petite victoire en fin de compte.

Depuis que je connais Maria, elle avait du mal à marcher et se laissait pratiquement tirer par sa brouette motorisée, avec laquelle elle se déplaçait d’un bout de jardin à un bout de pré pour récolter des haricots ici et couper l’herbe là, avec une faux, pour les lapins. La faux lui servait également de support. Elle ne pouvait pas ne rien faire. En hiver, par beau temps, elle s’asseyait au soleil devant la grange, mais elle ne restait jamais inactive : elle tressait des paniers avec ses mains déformées par le rhumatisme. Et plus tard, elle tirait du bois pour le poêle depuis la grange jusqu’à la maison dans un panier à linge monté sur des skis. Ce n’est que les dernières années, lorsque ses jambes ne la portaient plus et qu’elle était clouée à la maison, qu’elle a été contrainte d’arrêter de travailler, et elle ne cessait de s’en plaindre. Elle ne servait plus à rien, disait-elle. Elle était assise lourdement sur sa chaise et attendait le repas et qu’on lui apporte les nouvelles du monde dans la cuisine surchauffée. Il y a à peine deux semaines, malgré tous les soins des infirmières, et surtout malgré le dévouement de Cathy, l’aide ménagère et bien plus, et de Damiano, son gendre (tous deux à bout de forces), elle était dans un tel état physique qu’il a été décidé qu’elle ne pouvait plus rester à la maison et devait être hospitalisée. J’étais présente ce jour-là et c’était déchirant. Elle ne voulait pas et pleurait fort et amèrement. “L’hôpital c’est la fin”. Nous avons tous pleuré aussi. Jusqu’à la fin, elle était bien éveillée dans sa tête, mais son corps était fatigué. Et le chagrin d’avoir perdu sa fille a fait le reste.

Rosette et Maria ne sont plus là, mais restent dans nos cœurs. Rosette était notre témoin de mariage. Et elle m’a aussi inspiré l’un de mes personnages de roman. Nous ne les oublierons jamais.

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Tatjana

Sie haben es schon gemerkt, dieser Krieg berührt mich mehr als all die anderen, die es zeitgleich auch irgendwo gibt. Ich glaube, es liegt daran, dass mir Putin vorkommt wie Hitler, ein Größenwahnsinniger, der sein Volk indoktriniert hat und einen gnadenlosen Angriffskrieg führt. Damit werde ich in unsere Geschichte katapultiert, mit der ich mich, wie Sie wissen, schon immer und immer wieder auseinandersetze. Ich habe für meinen letzten Kriminalroman über die Geschichte der versteckten jüdischen Kinder hier im Südosten Frankreichs recherchiert; bei all dem Leid, dass es im Zweiten Weltkrieg gab, haben immer auch Menschen andere Menschen aufgenommen, mitunter jahrelang versteckt und unter schwierigen Bedingungen mit ernährt. Und sich dabei selbst in Lebensgefahr gebracht.

Ich habe mich, trotz so vieler herzzerreißender anderer Bilder, die ich auch gesehen habe, noch nie vorher in der Flüchtlingshilfe engagiert. Erstmals aber hat es mich nicht ausreichend beruhigt, Geld zu spenden oder von den drei verbleibenden Etsy-Händlerinnen in der Ukraine etwas zu erwerben. Es gibt hier unten auch kaum erwähnenswerte Demos, bei denen man sich solidarisch zeigen kann, und die einem vielleicht das Gefühl geben, etwas getan zu haben.

In der Nacht von Samstag auf Sonntag habe ich so gut wie nicht geschlafen. Monsieur ebensowenig. “Kannst du dir vorstellen, dein Büro zur Verfügung zu stellen?”, fragte Monsieur, noch bevor er mir seinen Guten-Morgen-Kuss gegeben hat. Ich weiß, was er meint. “Ja”, nicke ich, ebenfalls noch bevor ich “guten Morgen” sage und fühle mich unendlich erleichtert und mit einem Mal auch ruhig. Ich kann aktiv etwas tun in diesem Wahnsinn!

Am Montagmorgen um 10 Uhr öffnet das Büro für die Ukraine-Hilfe, das sich in einem Mehrzwecksaal in einer Außenstelle der Mairie befindet. Wir sind die ersten an diesem Morgen, die eine Unterkunft anbieten. Wir denken dabei an ein Paar oder an eine Mutter mit einem Kind, es ist nur eine kleine einfache Einzimmerwohnung mit einem Klappsofa. Die beiden Damen notieren sich unser Angebot. “Wie lange?”, fragen sie. Ich sehe Monsieur an. “So lange es nötig ist”, entscheidet er. Sie nicken und lächeln. “Und ab wann?”, fragen sie. Wir zucken die Schultern und überlegen. “Ab sofort vielleicht?”, fragen die Damen nach. Monsieur und ich sehen uns an. So schnell? “Dann müssen wir ein bisschen Möbel schieben”, überlegen wir laut, denn ich werde meinen Schreibtisch und meinen Stuhl in unser Wohnzimmer integrieren, “aber doch, das können wir hinkriegen. Ab sofort, ja”, nicken wir den Damen zu.

Nicht mal eine Stunde später werde ich angerufen: Im Laufe des Tages käme eine junge Frau mit zwei Kindern, ob sie zu uns kommen könnten? “Klar”, sage ich, zögere aber, denn für drei Personen haben wir keine Schlafgelegenheit, wir haben nur ein Klappsofa für zwei. “Wie alt sind die Kinder?”, erkundige ich mich, mit zwei kleinen Kindern könnte man vielleicht auch zu dritt in dem, wenn ausgeklappt, ziemlich breiten Sofa schlafen. Aber die Kinder sind etwa 8 und 10 Jahre alt. Unser Angebot ist raummäßig das größte, das derzeit zur Verfügung stehe, erfahre ich, und klar, es ist dringend. “Können Sie nicht noch eine Schlafgelegenheit dazustellen?”, fragt die Dame der Mairie. “Ja, vielleicht”, überlege ich. Ein Sofa, gebraucht gekauft für das Haus im Bergdorf, hat sowieso vorübergehend seinen Platz im Büro, “aber dann wird es wahnsinnig eng”, wende ich ein. “Glauben Sie mir, das ist den Leuten egal, die brauchen nur überhaupt einen Raum, um zur Ruhe zu kommen und in Sicherheit zu sein”, versichert mir die Dame. “Gut, dann machen wir das”, stimme ich zu.

Monsieur und ich wuchten Möbel in die erste Etage (fragen Sie nicht nach den Knien!) und schieben Sudokumäßig Möbel im Büro hin und her. Das Sofa ist etwas kurz, aber vielleicht kann ein Kind dort schlafen? Ich suche Kissen und Deckbetten und zusätzlich einen Schlafsack, Bettwäsche und Handtücher zusammen. Ich lüfte den alten Schlafsack und besehe ihn mit kritischen Augen; waschen kann ich ihn so schnell nicht mehr, wir kaufen aber eilig noch einen Innenschlafsack. Einerseits bin ich total energiegeladen, gleichzeitig nervös und flatterig. Was für Leute werden es sein? Ich suche einen großen Topf mit Glasdeckel, um die karge Küchenausstattung des dafür nicht gedachten Büros etwas anzureichern, der Topf gleitet mir aus den zitternden Händen und der Deckel zerbricht krachend auf dem gekachelten Fußboden in tausende von Glassplittern. Ich stehe dumm herum, während Monsieur schweigend die Glassplitter zusammenfegt. Die “Glasdeckel-Explosion” hat mich zwar von meiner Übernervosität heruntergeholt, der Topf aber ist hin.

Ich erhalte einen Anruf einer (mittelmäßig gut) französisch sprechenden Ukrainerin, die für die Mairie vermittelt und übersetzt. Die Familie käme gegen 18 Uhr an, man würde sie zu uns begleiten. “Alles gut”, sage ich und überlege bereits, was ich zu Essen machen könnte.

Mit dem, was ich im Haus habe und dem, was universell passen könnte, plane ich eine Gemüsesuppe, Nudeln mit Tomatensoße, eventuell angereichert mit steak haché (Rinderhacksteaks, das französische Kinderessen schlechthin) und einen Apfelstreuselkuchen. Damit bin ich den Rest des Nachmittags beschäftigt. Ich erhalte einen weiteren Anruf, es wird später, vielleicht würde es auch sehr spät, ob sie trotzdem kommen könnten? “Selbstverständlich”, versichere ich. “Wir warten auf jeden Fall und es gibt auch etwas zu essen.” Mir wird überschwänglich gedankt.

Gegen 22 Uhr ist es soweit. Vier Erwachsene und ein Kind stehen vor mir. Ein anderes Kind schläft auf dem Arm einer schmalen jungen Frau mit großen Augen. Das Kind ist noch klein. Sie habe sich etwas mit dem Alter der Kinder vertan, entschuldigt sich die ukrainische Vermittlerin, die mit ihrem Mann und dem Bruder der jungen Frau gekommen ist. Alle drei erklären, warum sie Tatjana, denn so heißt die junge Frau, und die Kinder nicht selbst aufnehmen können, sie wohnen selbst schon wahnsinnig beengt. Der Bruder wohnt in einer 9 Quadratmeter”wohnung”, einem sogenannten chambre de bonne, einem ehemaligen Dienstmädchenzimmer. Sie finden unsere kleine einfache Einzimmerwohnung groß und großartig und danken mir alle immer wieder. Ich finde es beruhigend, dass es einen (wenn auch nur mäßig französisch sprechenden) Bruder gibt, der sich um all das Administrative (Aufenthaltsgenehmigung, etc.) kümmern will, über das wir uns natürlich auch schon Gedanken gemacht haben. “Wir machen das!”, versichern sie mir alle. Dass wir die Wohnung zur Verfügung stellen, ist schon so eine Erleichterung, alles andere werden sie übernehmen. Dann sind wir aber doch erstmal alleine mit Tatjana und den zwei Jungens, die vier und neun Jahre alt sind. Sie sind alle drei reizend. Niemand spricht Französisch oder Englisch, der Junge immerhin kann ein paar Brocken Schulenglisch, wir wurschteln uns so durch. Die Suppe ist gut, die Nudeln schmecken und der lauwarme Apfelstreusel ganz besonders. Merci, sagt der große Junge plötzlich in akzentfreiem Französisch und strahlt mich an. Ich muss mich zusammenreißen, um ihn nicht zu küssen und streichle auch nur ganz wenig über das blonde Flaumhaar des kleineren Jungen, der mit Pepita um die Wette maunzt und plötzlich laut pupst. “Oh!” macht er erschrocken und sieht schuldbewusst von mir zu seiner Mutter und zurück. Auch der große Junge hält kurz den Atem an. Was muss ihre Mutter ihnen nicht alles eingeschärft haben. “Benehmt euch, seid höflich und brav, gepupst wird nicht und schon gar nicht am Tisch!” Ich lache laut, uff, alle lachen und sind erleichtert. Tatjana entspannt sich zunehmend und umarmt mich plötzlich lange. Ich erinnere sie an die Großmutter, erfahre ich, an die Mutter ihres Mannes. Das ist ein Kompliment, vermute ich und bin gerührt. Gegen halb zwölf schläft der kleine Junge fast am Tisch ein und wir bringen die kleine Familie ins Erdgeschoss in ihre Wohnung.

Später gehe ich noch einmal nach unten und schließe vorsichtig die Fensterläden von außen, was ihnen, wie ich heute früh erfahren habe, Sorgen machte, weil sie dachten, sie müssten versteckt leben und dürften die Fensterläden nicht öffnen.

Eigentlich dachte ich, sie würden heute früh noch einmal zum Frühstück zu uns kommen, aber Tatjanas Bruder, Ivan, brachte schon eine Tüte voller Lebensmittel und außerdem Blumen für Tatjana und mich (es sei unser Tag, sagte er, klar, 8. März ist Weltfrauentag, war mir nicht besonders präsent dieses Jahr). Wir klären ein paar Fragen zur Heizung, Toilette, insbesondere die Mülltrennung beschäftigte sie. Ich frage, ob sie Nachrichten von ihrem Mann habe. Der Bruder nickt. Er lebt. Die Nacht war relativ ruhig, aber alle zwei Stunden gab es einen Alarm. Mehr erfahre ich erstmal nicht. Der Bruder hat heute einen Tag freigenommen und kümmert sich um das Dringendste. Ich frage wegen der Schule für die Kinder. Sie sehen mich skeptisch an. “So lange wird es doch nicht dauern”, winken sie ab. Ich fürchte, es wird noch sehr lange dauern, aber na gut, ich will sie damit nicht noch zusätzlich belasten. Eigentlich will Ivan zurück in die Ukraine, um sein Land zu verteidigen. “Alle meine Freunde kämpfen und ich tue nichts!” Aber erstmal wollte er seine Schwester in Sicherheit wissen. “Stabilität”, sagt er wiederholt. Sie brauche erstmal Stabilität. Erst dann wird er zurückgehen.

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Herzzerreißend

Des images déchirantes, sagen die Journalisten mehrfach. Herzzerreißende Bilder. Ich kann mich nicht erinnern, Journalisten jemals so tief ernst und berührt gesehen zu haben. Ich, emotional wie immer, habe Tränen in den Augen, während ich die aktuellen Bilder im TV sehe. Ein Franzose, der (im derzeit noch wenig betroffenen Lviv im Westen der Ukraine) eine französische Supermarktkette leitet, sagt, auf die Frage, warum er nicht nach Frankreich ausreise: “Alle meine Mitarbeiter sind da, niemand ist gegangen, alle sind mutig und engagiert; in einem Supermarkt geht es darum, die Menschen mit Lebensmitteln und allem Notwendigen zu versorgen. Das tun wir. Ich kann meine Mitarbeiter doch jetzt nicht alleine lassen.” Ob er keine Angst habe, wurde er auch gefragt. “Noch nicht”, antwortet er.

Das französische Filmarchiv INA hat heute eine (klick–>) Balade dans Kiew, einen kleinen Spaziergang in Kiew in den 60er Jahren, ausgekramt. Kiew gehörte damals allerdings zur UdSSR. (Achtung: Dies ist nur ein kopiertes Foto. Ich kann das INA-Video hier nicht direkt einbetten. Sie müssen bitte auf den oben angegebenen Link klicken und dort den Film öffnen.)

Die Ukraine habe so viele Eroberer gesehen, aber keiner konnte die Vitalität der Ukrainer zerstören, lautet einer der letzten Sätze. “Ruhm für die Ukraine!” ruft Vitali Klitschko stolz zum Abschluss seiner Posts auf Instagram.

Ich habe daraufhin ein paar aktuelle Reisevideos angesehen. Ich gebe Ihnen mal dieses hier, weil es am meisten von der Ukraine zeigt. Ich, die ich im Kalten Krieg aufgewachsen bin, habe ja immer noch diese grauen, tristen Bilder im Kopf von all diesen “armen” Ländern im Osten, die ich dann auch nach dem Mauerfall und der Öffnung des Ostens so gut wie nie besucht habe. Als eine (Internet-)Freundin vor ein paar Jahren sagte, sie habe sich “in Bukarest verliebt” (erst in die Stadt, dann in einen Mann) und dort hinzog, konnte ich es nicht fassen. Ich sehe immer nur Ceaucescu und diesen überdimensionierten Palast und all die hungernden Menschen vor mir. Geht aber nicht nur mir so. Manche Amerikaner, die Reisevideos gedreht haben, sind offensichtlich auch mehr als überrascht, dass sie dort im Osten etwas Richtiges zu essen kriegen und sogar schnelles Internet haben. Wow! Und alles ist so billig! Ich entschuldige mich für alle meine Vorurteile. Die Ukraine werde ich jetzt wohl nie mehr so sehen. (Achtung: Man konnte sogar Tchernobyl besichtigen. Das wird von uns bleiben, denke ich, im Fall dass …)

Bei INA gab es heute auch Serge Reggiani, der einen Text von Boris Vian interpretierte: le Java des bombes atomiques. Klingt, wenn man nicht auf den Text hört, wie ein heiteres Liedchen. Der Text hat es in sich. Er ist vor allem terrible. Schrecklich, furchtbar. Aus dem zunächst amateurhaft Bomben bastelnden Onkel wird ein Fanatiker, der seine Bomben immer weiter perfektioniert. Alle Staatsoberhäupter statten ihm einen Besuch ab. Der Onkel sperrt sie ein und bombt sie in die Luft. Es sei ein unglücklicher Zufall gewesen, stammelt er später vor Gericht, und dennoch sei er überzeugt, Frankreich damit gedient zu haben. Er wird verurteilt, amnestiert und … zum neuen Regierungschef gewählt.

Ist natürlich eine pazifistische Botschaft.

Fließender Übergang zur Wahlkampagne. Macron hat gestern Abend ein kleines erstes Video veröffentlicht, der Auftakt einer mehrteiligen Serie Le Candidat, deren Folgen immer freitags veröffentlicht werden. Man folgt ihm (und seinem Hund, nur kurz im Bild) in sein Büro im Elysée, sieht, wie er seinen Brief an die Franzosen verfasst und er spricht assez décontracté, ziemlich locker, zu den Franzosen. Über seine Erfolge in den letzten Jahren (niedrige Arbeitslosigkeit, viele Ausbildungsplätze) zum Beispiel. Er habe auch weiterhin ehrgeizige Pläne für Frankreich. Als amtierender Präsident aber müsse er, insbesondere in dieser außergewöhnlichen Situation, weiterhin seine Arbeit tun, er habe zum Beispiel lange mit Putin und mit Zelensky telefoniert, aber er verspricht, sein Programm vorzustellen und sich, wie die anderen Kandidaten, den Fragen der Franzosen zu stellen. Nichts sei bislang entschieden, sagt er, auf die Frage, ob er die Wahl nicht eigentlich schon “in der Tasche habe”.

Nun gut. Gerade steigen seine Umfragewerte, denn er macht als “Mediator” eine bemerkenswerte Arbeit. Insbesondere die älteren WählerInnen (die, die in der Regel auch wählen gehen) setzen auf Sicherheit und wollen keine Experimente mit einem neuen unerfahrenen Kandidaten oder einer unerfahrenen Kandidatin. Aber nichts ist sicher in dieser Welt, wie wir gerade erfahren. Alles kann passieren. Auch das Schlimmste.

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Stand With Ukraine

Über Macrons Brief an die Franzosen können Sie zum Beispiel hier nachlesen, das muss ich Ihnen nicht alles übersetzen. Es war auch noch nicht sein Programm, sondern nur seine Ankündigung, dass er wieder kandidiere, und dass sein Wahlkampf aufgrund der Situation nicht wie üblich stattfinden könne.

Süß, oder?

Habe ich gerade auf Etsy als digitalen Print erstanden. Hat die Tochter einer Kiewer Künstlerin gemalt, und es ist eine Möglichkeit direkt Menschen in der Ukraine zu unterstützen. Ich habe auch noch einen traditionellen Schal von einer anderen ukrainischen Etsy-Händlerin erworben. Es gäbe auch traditionell bemalte Holz-Ostereier, Stickvorlagen oder traditionelle Blusen … Etsy hat sich bereit erklärt, ukrainischen Händlern die Gebühren zu erlassen.

Derzeit quill Etsy über mit Blau-Gelben Kunstwerken, Schmuck und bedruckten T-Shirts #StandWithUkraine und F** Putin. Es ist zuweilen etwas unübersichtlich, wer daran etwas verdient. Ich war sofort sehr verliebt in ein kleines blau-gelbes Filzherz, es wurde aber von einer Italienerin in Italien genäht. Ich zweifle nicht an ihren guten Absichten, aber ich wollte lieber Menschen direkt in der Ukraine unterstützen.

Es sieht so aus, dass auch AirBnB derzeit bei Buchungen von “Feriendomizilen” in der Ukraine den “Gastgebern” die Gebühren erlässt und das Geld direkt überweist, ohne zu (er)warten, dass der/die Buchende dort wirklich eincheckt. Text dazu in Englisch.

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