
Nun, Sie wissen das alles schon: Emmanuel Macron ist gestern für ein weiteres Quinquenat, für weitere fünf Jahre, als Präsident gewählt worden. Wir haben, wie gehabt, im Bergdorf gewählt, und zwar im frisch renovierten Mehrzwecksaal, in dem ein altes Foto des Dorfes vor einer beeindruckenden blauen Wand hängt.

Wir kennen uns ja alle, bei 89 Personen, die auf der Wählerliste stehen, keine Überraschung. Insofern bleibt fast jede und jeder, nachdem sie oder er gewählt hat, für einen Moment im gut geheizten Wahlbüro hängen und man plaudert über dies und das. Wir verbringen dort am Nachmittag eine gute Stunde, und plötzlich erhalte ich auf dem Smartphone über einen Facebook-Freund via belgische Presse die Wahlergebnisse der Französischen Überseegebiete, France Outre-Mer, das wusste ich für die Staatsbürgerprüfung auch schon mal auswendig, wieviele es gibt und welches der Inselchen ein département und welches territoire ist, egal, ich verlinke es Ihnen hier, falls es Sie interessiert. Im Prinzip sind diese Inseln Überbleibsel einer kolonialistischen Zeit, und das Verhältnis zum “Mutterland” ist bis heute sehr kompliziert, um nicht zu sagen angespannt. Die Menschen in den Überseegebieten fühlen sich oft nicht gesehen und vergessen. Und sie haben entsprechend gewählt: In Guadeloupe haben 69 Prozent für Marine Le Pen gestimmt, es ist die erste Zahl, die ich sehe und mir bleibt der Atem weg. Ich prüfe, ob es ein Fake ist, denn wieso kann man denn diese Zahlen schon wissen? Nun, die Überseegebiete wählten aufgrund von Zeitverschiebung schon am Vortag, damit die Ergebnisse am Wahltag in Frankreich vorliegen. Und die Belgische Presse ist ja nicht verpflichtet, sich an die französischen Zeitvorgaben zu halten. Auf jeden Fall bewirken diese Zahlen, dass all meine Zuversicht in die letzten Umfragewerte zu sinken beginnt. Und wenn sich alle getäuscht hätten? Wenn die Wut der “kleinen Leute”, des “Volkes”, dem Marine Le Pen so aufrührerisch bei ihrem letzten Meeting zurief: “Peuple de France, lève toi!”, wenn die Wut also viel größer ist und wenn sich die ebenso wütenden Extrem-Linken viel stärker enthalten, als vermutet? Wir gehen bedrückt wieder nach Hause und ich putze in den nächsten zwei Stunden Fenster, um irgendwie beschäftigt zu sein. Zur Stimmenauszählung um 19 Uhr (in kleinen Gemeinden wurden die Wahlbüros schon um 19 Uhr geschlossen) finden wir uns wieder ein. Wir sind ungefähr so viel Publikum wie Wahlhelfer. Immerhin hat unser kleines Dorf mit 73 abgegebenen Stimmen eine Wahlbeteiligung von 80% erreicht, die Bürgermeisterin ist zufrieden. Die Auszählung ergibt: 37 Stimmen für Macron, 28 für Marine Le Pen, eine ungültige Stimme und ein paar “votes blancs”, also Wähler, die keinen von beiden Kandidaten gewählt haben. Das stimmt mich recht froh, wenn man bedenkt, dass in diesem Dorf im ersten Durchgang die Mehrheit für Zemmour und Le Pen war. Ist das ein Stimmungsbild für ganz Frankreich? Niemand im Saal gibt zu erkennen, ob er sich freut oder enttäuscht ist. Aber ich weiß in der Zwischenzeit, welcher meiner eigentlich sonst frequentablen Dorfmitbewohner wen wählt und halte mich im Kreise der rechten Wähler zurück. Man weiß ja auch noch nicht, wie es anderswo ausgegangen ist.
Was für eine Erleichterung, als um 20 Uhr die Wahlergebnisse offiziell sind! Und Macron hat einen ordentlichen Vorsprung, uff! Wir sind bei Freunden und trinken Champagner und ich stoße immerhin mit Champagner an (und trinke dann Wasser)!
Ich überspringe mal Marine Le Pen, die behauptete, der Wahlkampf sei illoyal und aggressiv ihr gegenüber verlaufen; etwas, was ich so nicht wahrgenommen habe, aber vermutlich hat es ihr nicht gefallen, dass Macron in dem Rededuell ihre Nähe zu Putin (sie hat einen Kredit für ihren letzten Wahlkampf von einer russischen Bank bekommen, den sie noch nicht zurückgezahlt hat) ausdrücklich erwähnte.
Macron erscheint kurz vor 22 Uhr symbolisch zu den Klängen der Europahymne, Freude schöner Götterfunken, auf dem Champ-de-Mars vor dem Eiffelturm. Er läuft langsam, hält seine Frau an der Hand, und sie sind umgeben von etwa zwanzig Kindern seiner Mitarbeiter: Sehr symbolisches Bild: Gemeinsam (sein Wahlslogan lautete auch “avec vous”) und vor allem mit der jungen Generation, Zukunft, unausgesprochen steht da auch Klima.

Heute sehe ich die Zahlen der anderen Städte und Gemeinden, in Paris wurde Macron mit 85% gewählt! Und selbst in Cannes hat Macron ein paar Stimmen mehr als Marine Le Pen bekommen! Ebenso in Nizza und noch hier und da, wie in unserem Bergdorf! Damit ist unser Département Alpes-Maritimes erstmals nicht komplett dunkelblau auf der Karte (bzw. nicht caca-d’oie, nicht gänsekackebraun, wie auf dieser Karte).
Heute wird den ganzen Tag schon darüber diskutiert, wen Macron als Premierminister ernennen wird. Der Premierminister stellt nämlich das Gouvernement zusammen. Sie erinnern sich, Mélenchon brachte sich selbst ins Spiel. Man spricht hier von einer cohabitation, wenn der Premierminister deutlich aus einem anderen politischen Lager kommt und damit die Position des Präsidenten schwächt. (Erläuterung dazu siehe auch hier unter dem Punkt “Stellung”). Es ist nicht vergleichbar mit der deutschen Koalition, die hier so nicht denkbar ist. Angeblich sind derzeit 66% der Franzosen für eine solche cohabitation, denn Macron sei mit vielen Stimmen von Menschen gewählt worden, die nicht explizit ihn und seine Politik, sondern ausschließlich Marine Le Pen verhindern wollten. Andere sagen, die Mehrheit habe nun mal Macron und sein Programm gewählt und man wolle, dass er das durchziehe. Dazu will man keinen geschwächten Präsidenten und sie lehnen daher eine cohabitation ab.
Trotz seiner Erfahrung und trotz der Ankündigung, dass seine zweite Amtszeit anders aussehen werde als die vergangene, dass er alle im Blick habe, auch die Wähler von Marine Le Pen, und dass er niemanden “am Wegesrand vergessen würde”, wird es sicherlich ein schwieriges Quinquenat für ihn und sein zukünftiges Gouvernement. Die ersten Demonstrationen haben schon begonnen.

Präsident Macron hat übrigens seinen Sieg gestern auch nicht ausschweifend in einem Luxusrestaurant gefeiert (wie etwa Sarkozy seinerzeit), und auch kein Bad in der Menge genommen, sondern sich alsbald zurückgezogen in La Lanterne, klingt ein bisschen wie eine Eckkneipe in Köln, Et Laternsche, ist aber bei aller “Nüchternheit des Rahmens” ein Jagdschlösschen bei Versailles. Sein letztes Meeting vor der Wahl hatte Macron hingegen in Marseille. Dort könnte er beim nächsten Mal vielleicht diesem Restaurant mit dem sprechenden Namen République einen Besuch abstatten: In Marseille versucht ein Restaurant Menschen zusammenzubringen, die sich sonst nicht begegnen. Eine Steigerung der Restos du Coeur, die so ähnlich angefangen haben. Den Hinweis (und den Text) verdanke ich Karin P. aus Genf. Und leider steht der feine Text zu diesem tollen Restaurant (derzeit noch?) hinter einer Paywall.
Argh. Ein r, ein r, warum sagte mir niemand, dass da ein r in der Überschrift fehlte? Na gut, jetzt ist es da.








































































