Liebe, Lust und Leiden Vier Filme – vier Erkundungen von Liebe, Freiheit und Selbstbehauptung in dunklen Zeiten. Franz Kafka und Dora Diamant begegnen sich in „Die Herrlichkeit des Lebens” inmitten von Krankheit und Endlichkeit des Seins. Thomas Brasch lebt in „Lieber Thomas” rebellisch gegen jede Grenze. In „Jahrgang 45″ träumt ein junger Mann von einem anderen Leben – sensibel, still und verboten. Und in „Spur der Steine” trifft Leidenschaft auf Parteilogik – eine Dreiecksgeschichte mit Sprengkraft. Ciné Croisette lädt am 27. und 28. September ein zu einem Wochenende zwischen Intimität und Ideologie, Gefühl und Funktion: Wie kann man lieben und leben, wenn das Private politisch wird?
Wie immer wird Wieland Koch (ehemals Defa-Stiftung) anwesend sein und jeweils eine kurze Anmoderation zu den Filmen geben, um sie richtig einzuordnen. Nach dem Film steht er für Fragen und Diskussionen zur Verfügung. Die Veranstaltung ist wie immer zweisprachig. Franka Günther vom Deutsch-Französischen Bürgerfonds in Erfurt wird in beide Richtungen übersetzen.
Wir freuen uns auf viele interessierte ZuschauerInnen!
Amour, plaisir et contraintes Quatre films – quatre explorations de l’amour, de la liberté et de l’autodétermination en des temps difficiles. Franz Kafka et Dora Diamant se rencontrent et s’aiment dans “Kafka, le dernier été” confrontés à la maladie et à la finitude de l’homme. Dans “Thomas, le dissident”, Thomas Brasch, écrivain en RDA, vit de manière rebelle contre toute limite. Dans “Génération 45”, un jeune homme rêve d’une autre vie – sensible, silencieuse et interdite. Et dans “Trace des pierres”, la passion rencontre la logique du parti – un triangle amoureux à la force explosive. Ciné Croisette vous invite les 27 et 28 septembre à un week-end entre intimité et idéologie, sentiment et fonction : comment aimer et vivre quand le privé devient politique ?
Comme toujours, Wieland Koch (anciennement Fondation Defa) sera présent et fera une brève introduction aux films afin de les replacer dans leur contexte. Après le film, il se tiendra à disposition pour répondre aux questions et discuter. Comme toujours, l’événement sera bilingue. Franka Günther, du Fonds citoyen franco-allemand d’Erfurt, assurera l’interprétation dans les deux sens.
Nous nous réjouissons d’accueillir de nombreux spectateurs et spectatrices intéressés !
Ich habe schon mindestens drei andere Blogtexte verfasst, nachts im Kopf, wenn ich nicht schlafen kann. Aber ich schaffe es nicht, aus den hingeworfenen Stichworten, die ich mir immerhin notiert habe, einen Text zu schreiben. Ich bin unkonzentriert und energielos. Irgendwann ist es dann auch nicht mehr interessant, dass ich das Wetterverhalten im August bipolar fand. Extreme Höhen, extreme Tiefen. Jetzt ist schon der 12. September. Ich konnte wieder nicht einschlafen – zu viel rattert in meinem Kopf. Um 0.50 Uhr bin ich dann aufgestanden und habe alles aufgeschrieben. Das hätte ich schon viel früher machen sollen und sollte es mir überhaupt wieder angewöhnen, drei Seiten jeden Tag zu schreiben, alles aufschreiben, was durch meinen Kopf rattert, damit ich denselben frei kriege, um tagsüber konzentrierter zu sein und nachts schlafen kann.
Zum Frühstück gibts dann erstmal ein paar Vitamine.
Der Blick aus dem Fenster. Schönstes Septemberwetter. Allerdings windig.
Wir planen den 80. Geburtstag von Monsieur am nächsten Wochenende. Es wird ein großes zweitägiges Fest im Bergdorf. Je näher es rückt und je konkreter es wird, desto besser geht es mir damit. Anfangs habe ich mich komplett überfordert gefühlt. Ich grübele erneut darüber, wo wir wen unterbringen werden und wie die Sitzordnung aussehen könnte, damit die Menschen, die stundenlang zusammensitzen, sich auch etwas zu sagen haben. Es wird nicht leichter dadurch, dass Leute absagen, andere dafür, französisch spontan, eingeladen werden.
Ich hänge Wäsche ab und später an derselben Stelle wieder andere Wäsche auf.
Wir nehmen den halben Cannoiser Hausstand mit, um das Buffet mit Platten und Schüsseln bestücken zu können, außerdem Bettwäsche und Handtücher. Und dies und das.
Ich war unterwegs, um für das Buffet Rotwein und Rosé im Karton zu erstehen. Rotwein gabs vom gewünschten Weingut, Rosé nicht. Das nicht gemachte Foto müsste mich vor dreißig Meter Roséwein im Supermarkt zeigen. Welchen soll ich um Himmelswillen nehmen? Da ich selbst keinen Alkohol mehr trinke, habe ich mich völlig desinteressiert und absolut keine Ahnung, welcher Rosé gut sein könnte. Ich rufe Monsieur an und er löst das Problem, indem er sagt: nimm keinen! Er glaubt, wir haben genug Flaschen. Ich hoffe, er verschätzt sich nicht. Die Flaschen sind eigentlich für das Essen am Sonntag gedacht. Was ich auch nicht bekomme, ist das alkoholfreie spritzige Apfel-Himbeergetränk. Dann eben nicht. Ich kaufe zwei Flaschen alkoholfreien Sekt, dann wird es eben nur den geben. Außer mir trinkt sowieso niemand “keinen Champagner”.
Und beim Metzger erstehe ich um kurz vor 13 Uhr ein gebratenes Hähnchen. Wir haben Hunger, essen spät, hastig und völlig stillos. Hähnchen, Tagliatelle, grüner Salat. Eis.
Sieste ohne Foto.
Ich kaufe dann im Gartencenter kleine Blümchen für die Tischdeko. Allerliebst. Ich lasse sie im Vorgarten, hoffe, dass die Blümchen unbeschadet noch eine Woche und vor allem den Klimawechsel in den Bergen überstehen werden und konstatiere nebenbei die Palme, die sich selbst ausgesät hat und wächst und wächst. Ich finde ihren Standort nicht ideal und hätte sie schon gleich zu Anfang entfernt, aber die französische Familie ist sich einig: Sie hat sich da angesiedelt, sie darf da bleiben.
Ich probiere Klamotten an. Und suche den passenden Schmuck. Leider fällt mir einer der Porzellan-Ohrringe, die ich seit den achtziger Jahren habe, auf den Kachelboden und geht kaputt. In den achtziger Jahren trug ich auch besonderen Ohrschmuck. Dann gab es eine lange nüchterne Zeit, in der mir selbst die kleinen blauen Ohrringe schon zu auffällig waren. Unvorstellbar eigentlich.
Abendessen. Ebenso pragmatisch. Gazpacho, Mais und Reste vom Hähnchen.
Im Fernsehen gab es hier heute den Film “Ein Tag im September”, der auf Französisch “De Gaulle et le Chancelier” heißt. Über den Beginn der deutsch-französischen Annäherung. Hat mich stellenweise erstaunlich berührt. Sehenswert!
Der Tag begann in den stillen Bergen und endete im schwülheißen und lauten Cannes. Heute wurde in den Bergen die neue Spülmaschine geliefert. Als ich aufwache, habe ich schon eine Nachricht auf dem Telefon, abgeschickt um 7 Uhr 46, dass die Lieferanten gegen 11 Uhr da sein wollen. Ich frühstücke, ausnahmsweise undokumentiert, gehe ins Bad und dann baue ich die alte Spülmaschine aus, leere das darin stehende (und stinkende) Wasser aus so gut ich kann, verstöpsele die Schläuche und wische den Boden sauber.
Ich gehe einmal durchs Dorf. Ich soll nachher, wenn ich wieder runterfahre, eine Freundin mitnehmen. Wir sind gestern von nachmittags ausgegangen. Ich will ihr sagen, dass wir auch früher losfahren können. Ich finde aber nur eine dösende Katze, sonst ist das Dorf wie leergefegt.
Ich sehe die blau-gelben Fähnchen und denke an meine ukrainische Familie, die dieses Jahr leider nicht kommen konnte, um ein bisschen unbeschwerten Sommer zu haben.
Die Maschine ist da und ich habe einen Mann in meinem Unterschrank, der sie nicht anschließen kann, weil der neue Schlauch zu voluminös für den Wasseranschluss ist. (Ich greife vor, dass ich mich abends zuhause anraunzen lassen muss, warum ich nicht die alten Schläuche der anderen Maschine zurückbehalten hätte.)
Sieht trotzdem schön aus.
Schnelles Mittagessen (zu spät dokumentiert) während ich den vorigen Text fertiggeschrieben habe.
Wir fahren um 14 Uhr los. Ich habe die Freundin zwischenzeitlich telefonisch erreicht. Sie muss zur Werkstatt, um ihr Auto abzuholen, und möchte auch zum Arzt, da ihre Katze sie gebissen hat, nachdem sie aus Versehen auf sie getreten ist. Jetzt hat sie einen dicken, schmerzenden Knöchel.
Unterwegs werden 41 Grad angezeigt, ich konnte es leider nicht dokumentieren. Verbringe zwei Stunden bei Ikea und erwerbe, wie immer, mehr als ich wollte.
Die Autobahn ist voll, ich komme aber gut durch.
Zuhause sind es um 19 Uhr (indoor) noch knapp 31 Grad.
Abendessen ist eher Picknick heute, aber Monsieur hat Küchlein vom Bäcker geholt.
Heute Abend läuft auf Arte „Fahrstuhl zum Schafott“. Vielleicht wird das unser Abendfilm, auch wenn wir den schon mehrfach gesehen haben. Kürzlich haben wir auf Arte einen alten Film (nach einem Roman von Simenon) mit Jean Gabin gesehen, den wir beide noch nicht kannten: „Le sang à la tête”, der auf Deutsch „Vulkan im Blut” heißt. Der hat uns gut gefallen! Er ist noch bis November verfügbar.
So viel für heute. Danke fürs Anschauen (es sind ausnahmsweise 13 Bilder)! Die anderen 12 von 12er finden Sie wie immer drüben bei Caro Kännchen.
Es wummert. Und das schon den dritten Tag. Wie jedes Jahr um diese Zeit finden die Plages Électro statt, die heutige Version des „Bal à la plage”, wie es zu meiner Zeit noch hieß. DJs legen auf mehreren Bühnen am Strand elektronische Musik auf, und täglich tanzen sich vermutlich überwiegend junge Menschen von 14 Uhr bis 5 Uhr morgens dazu in Trance. Und obwohl wir knapp zwei Kilometer vom Ort des Geschehens entfernt sind, kriegen wir auch etwas davon mit – je nach Windlage mehr oder weniger. Das Gewummer der Bässe haben wir aber immer.
Es wummert auch, wenn Autos mit brüllendem Autoradio und offenem Dach oder offenen Fenstern oder auch nur als musikgefüllte Box auf vier Rädern am Haus vorbeirauschen, vorzugsweise nachts. Die Musikfetzen hängen noch in der Luft, obwohl das Auto schon um die Kurve gebrettert ist. Immerhin gab es dieses Jahr noch keinen Autounfall in dieser Kurve, das muss auch mal gesagt werden.
Nach dem Tod der alten Dame, die seinerzeit meine Katzen dick und rund gefüttert hat, sind die Wohnungen im Nachbarhaus verkauft, renoviert und in AirBnB-Wohnungen umgewandelt worden. In den beiden Wohnungen im Vorderhaus wohnen häufig osteuropäische Urlauber:innen, die ihre Badeanzüge und Handtücher malerisch auf dem Dach ausbreiten. Viel mehr bekommen wir von ihnen in der Regel nicht mit. Die Wohnung im Hinterhaus teilt sich eine Wand mit uns und in gewisser Weise auch einen Innenhof, denn der Innenhof nebenan wird von unserem nur durch einen kleinen, aus Plastik-Wellplatten geschaffenen Unterstand abgetrennt, auf dessen Nachbarseite außerdem eine asthmatisch keuchende Waschmaschine steht, die vorzugsweise spät abends angeschaltet wird, wenn die Gäste nicht mehr im Innenhof sitzen, wir aber über das an unserem Haus befindliche Fenster unseres Bade- bzw. Schlafzimmers das große Wasch- und Schleuderprogramm in unsere Träume mitnehmen. In dieser Airbnb-Wohnung finden sich fast ausschließlich italienische Urlauber. Warum das so ist, fragen Sie mich nicht. Derzeit haben wir zwei nicht mehr ganz junge Paare, es ist erstaunlich ruhig. Letzte Woche waren es drei oder vier italienische Herren jüngeren Alters, die spät in der Nacht zurückkamen und sich bis zum Morgen noch laut und ausgelassen allerhand lustige Geschichten erzählten. Am letzten Samstagmittag brüllten sich dann die französischen Reinigungskräfte, die das anscheinend schlecht riechende und zugemüllte Apartment wieder in einen bewohnbaren Zustand bringen mussten, ihren Unmut zu. Arbeiten, wo andere Urlaub machen – so schön, ich sage es immer wieder.
Heute früh war ich etwas später als geplant für das morgendliche Schwimmen und habe den allerletzten nicht wirklich offiziellen Platz in einer Ecke auf einem Parkplatz ergattert. Halb neun am Sonntag ist definitiv zu spät, denke ich erneut, als ich die vielen Sonnenschirme am schmalen Stadtstrand sehe. Da ich ausnahmsweise allein bin, kann ich mein schmales Handtuch noch zwischen zwei Sonnenschirm-Stuhl-Handtuch-Installationen in der ersten Reihe quetschen. Am Strand sind auch erstaunlich viele italienische Töne zu hören. Das Wasser ist klar und sauber und sieht von weitem türkisblau aus. Um meine Füße schwimmen kleine Fische herum. Ich bin entzückt, schwimme lange (und quallenvorsorglich ganzkörperverhüllt) und gönne mir anschließend etwas Urlaubsfeeling, indem ich mir am Kiosk einen Cappuccino und ein Croissant zum Frühstück kaufe.
Ich trage übrigens in dieser Saison einen roten Badeanzug – Baywatch lässt grüßen – und stelle auf dem Weg zum Kiosk fest, dass ich mir weder ein Handtuch um die Hüften gebunden noch mein Kleid übergeworfen habe. Ich bin einfach aufgestanden und losgegangen. Vor aller Augen. So etwas war mir viele Jahre, um nicht zu sagen Jahrzehnte, nicht möglich! Ich hatte zu viel Scham, meinen Körper zu zeigen. Immer versuchte ich, mich unsichtbar zu machen. Jemand könnte etwas zu meinen schrecklichen Oberschenkeln oder meinem schrecklichen Körper denken oder sagen. Dabei war ich die meiste Zeit wirklich eine ganz normalgewichtige und schlanke junge Frau. Niemand hat je etwas Unfreundliches zu meinem Körper gedacht oder gesagt – außer mir selbst. Natürlich wurde es nicht besser, je älter und rundlicher ich wurde. Es ist in meinem Kopf. Oder besser gesagt: Es war in meinem Kopf, denn inzwischen habe ich mich davon befreit! Halleluja! Der Kurs, der mich vor ein paar Jahren von meinem Selbsthass befreit und mir die Liebe und den Frieden mit meinem Körper und mit mir selbst gebracht hat, war die sogenannte Style School von Stasia. Ich kann ihr nicht oft genug dafür danken. Der Kurs kostete ein paar hundert Euro, aber es war das am besten investierte Geld überhaupt!
Ohne zu viel über das Privatleben von engen Familienangehörigen ausbreiten zu wollen, so bin ich doch erschüttert, zu sehen, wie sehr man sich selbst auch im hohen Alter im Weg stehen kann und vieles (von dem Wenigen, was überhaupt noch geht) nicht unternimmt, weil „andere etwas über einen denken könnten”. Wenn man sich nie von diesen Gedanken befreit hat, dann bleiben sie eben auch bis zum Schluss lebensbestimmend. Ich bedaure heute, dass ich mich viele Jahre lang nicht ins Schwimmbad getraut habe und viele Gelegenheiten zum Tanzen verpasst habe, weil ich mich zu dick gefühlt habe und mich so nicht zeigen wollte. Das wollte ich mir erst erlauben, wenn ich abgenommen hätte. Drei Kilo oder fünf oder zehn. Aber selbst nachdem ich drei Kilo abgenommen hatte, war es noch nicht genug. Ich konnte mich immer noch nicht leiden und zeigen, was dazu führte, dass ich manches nie getan habe. In meinem ersten südfranzösischen Sommer war ich kein einziges Mal schwimmen, obwohl es so heiß war wie nie zuvor und obwohl es in der Nachbarschaft des Hofes sogar einen richtigen kleinen Pool gab. Aber ich wollte meinen (gefühlt) schrecklichen Körper niemandem zeigen. Herrje! Was für eine Vergeudung von Lebensfreude! Das Leben ist endlich, und ich habe nur dieses eine. Ich kriege keine zweite Chance. Es ist jetzt oder nie!
Das Leben ist wie eine Pralinenschachtel, das wissen wir ja. Nein, was ich meine, ist: Das Leben ist das Leben, und mein Körper hat sich in einen großmütterlichen Nach-Menopausenkörper verwandelt. Diesen ebenso anzunehmen, ist nicht jeden Tag leicht. Aber immerhin konnte ich mich heute am Strand vollkommen schambefreit bewegen. Das ist großartig, meine lieben Leserinnen und Leser! Dass ich das erreicht habe, dafür bin ich wirklich dankbar! Ich danke Stasia, dass sie diesen Kurs mit all ihrer Liebe geschaffen hat. Ich danke mir selbst, dass ich diesen Weg gegangen bin und diese Arbeit gemacht habe. Und ich danke dem Universum, dass ich im richtigen Moment auf diesen Kurs gestoßen bin!
Falls Sie also vielleicht auch einen kleinen Schubs in dieser Hinsicht gebrauchen können, kann ich Stasias Kurse aus tiefstem Herzen empfehlen! Es geht um so viel mehr als um Stil oder Kleidung. Im Herbst wird es übrigens wieder einen Kurs geben. Falls Sie jedoch keine (englischsprachige) Gruppe mögen (was ich verstehen kann), hat Stasia jetzt einen Kurs im Selbsterarbeitungsmodus geschaffen. Damit kann man die Übungen in seinem eigenen Rhythmus und weitgehend alleine erarbeiten. Trotzdem gibt es Live-Unterstützung, die wirklich live und nicht aufgezeichnet ist! (Sie wird aber aufgezeichnet, sodass man sie auch später oder mehrmals ansehen kann.) Ich habe mir den Kurs gekauft – für alle Fälle, sozusagen. Es kann ja sein, dass ich nochmal ein Tief habe, in dem ich mich so unwohl fühle, dass ich das eine oder andere noch einmal nachlesen oder nacharbeiten will – und zwar genau in dem Moment, in dem es notwendig ist. Der „Self-Paced-Kurs“, den man in aller Ruhe alleine machen kann, kostet derzeit nur 100 Dollar, das sind im aktuellen Kurs nicht einmal hundert Euro!
Diesen Text habe ich am Sonntag schon begonnen, dann aber nicht zu Ende schreiben können. Seit gestern Abend bin ich in den Bergen, nur ein aller-retour, es wird eine Spülmaschine geliefert – ins Hinterland liefern nur ganz wenige Händler, und noch weniger liefern kostenfrei, insofern sagt man nicht nein, wenn etwas zu einem Termin geliefert werden soll. Monsieur aber überwacht eine Baustelle in Cannes (der Grund warum wir wieder in Cannes sein müssen, trotz erneuter Canicule-Warnung!). Es ist von Montag auf Dienstag wieder erschöpfend heiß geworden. Ich genieße die etwas geringere Temperatur hier oben und vor allem genieße ich die Stille. Außer dem Brummen der Fliegen und dem Tippen auf der Tastatur höre ich gerade nichts. NICHTS. Was für eine Wohltat nach dem lauten wummerigen Cannes!
Hier aber trotzdem ein paar Sommer-Vibes … wenn man sich die Musik selbst aussucht, ist es ja nochmal was anderes, als wenn man von den Nachbarn beschallt wird
Wir sind wieder in den Bergen. Am vergangenen Wochenende wurde hier oben das große Sommerfest zu Ehren der Ste. Anne gefeiert. Sie kennen das ja bereits. Morgens findet im Oberdorf zunächst eine Messe statt, anschließend gibt es eine Prozession und danach wird gemeinsam gegessen. Nachmittags folgen offizielle Ansprachen, das Ablegen eines Gestecks am Kriegerdenkmal, das Absingen der Marseillaise, ein Apéro und später gibt es ein großes Essen und einen Ball auf dem Dorfplatz im unteren Dorf. Dieses Jahr war alles ein bisschen offizieller, da die Gîte, eine einfache Wanderunterkunft, nach umfassender Renovierung wiedereröffnet wurde. Die Unterkunft hat jetzt nicht mehr nur einen Schlafsaal mit Matratzenlager, sondern man hat zusätzlich zwei kleine Doppelzimmer mit eigenem Bad geschaffen und auch der Schlafsaal ist mit richtigen Betten deutlich komfortabler geworden. Außerdem gibt es jetzt eine kleine Küche, in der man sich selbst verpflegen kann. Diese Renovierung konnte nur mit finanzieller Hilfe der Region geleistet werden. Deshalb wurden zahlreiche „Élus”, gewählte Politiker, erwartet, die sich ansehen wollten, was mit den Subventionen geschaffen wurde. So kamen neben den uns bekannten Bürgermeisterinnen und Bürgermeistern aus den benachbarten Gemeinden auch Damen und Herren aus der Regionalpolitik in unser Dorf. Sie kamen mit zwei schwarzen Limousinen mit getönten Scheiben. Zusätzlich gab es einen Herrn, der das Prozedere überwachte. Die Politiker, einschließlich der Regionalpolitiker, die man hier nicht alle Tage sieht, wurden auch zum anschließenden Fest eingeladen, sodass alle etwas angespannter waren als sonst. Alles sollte perfekt sein. Wir dekorierten im Vorfeld die Gîte mit rot-weiß-blauen Wimpelketten und den Dorfeingang sowie die großen Zelte im Hof der ehemaligen Schule mit bunten Wimpelketten.
Doch dann wurde das Wetter, sagen wir, kapriziös. Wir starrten alle ständig auf die stündliche Wettervorhersage, die für den Festtag mehrfach Schauer vorhersagte. Die Bürgermeisterin schickte eine SMS herum und verlegte den Anspracheteil vorsorglich in die Kirche. Helfer schleppten die bereits installierte Technik eiligst von der Schule zur Kirche. Vor der Gîte wurde nun auch noch ein Schutzzelt aufgebaut – nicht gegen zu viel Sonne, sondern als Unterstand bei Regen. Auch der Aperitif sollte nun in der Kirche stattfinden. Es wurden zusätzliche Tische und Stühle dorthin transportiert und aufgebaut. Die neue Aubergistin bereitete alles in einem Seitenschiff der Kirche vor.
Wegen des schlechten Wetters gingen die morgendliche Messe, die Prozession, der Apéro und das gemeinsame Essen zügig vonstatten. Es gab keine Live-Musik und dieses Jahr auch keinen singenden Priester. Auch die Fraktion, die sonst gerne noch bei viel Rosé herumhing, erhob sich bereitwillig, als gegen halb drei schon wieder die Tische und Bänke zusammengeklappt wurden. Das Wetter war ungemütlich geworden: kühl, windig und die ersten Tropfen fielen.
Es blieb den ganzen Tag so. Zum offiziellen Festakt mit den Regionalpolitikern gab es trotz Sonnenschein einen kurzen Regenschauer. Alle rannten nach Hause, um Schirme zu holen. Schon war der Regen wieder vorbei. Die Sängerin, die mit ihrer Technik von vor der Schule in die Kirche gewandert war, sang dann letzten Endes doch wieder draußen.
Das Festkomitee, das das Sommerfest im unteren Dorf organisierte, war den ganzen Tag unentschlossen, ob es die Tische lieber unter freiem Himmel auf dem Platz oder doch unter den Zelten vor der alten Schule aufbauen sollte. Ambiente oder Pragmatismus?
Sie warteten den letzten vorhergesagten Schauer um halb sieben ab und entschieden sich dann, Tische und Stühle in Windeseile auf den Platz zu transportieren, aufzustellen und dort einzudecken. Wenn es trocken bliebe, würde sie um Mitternacht in den Brunnen steigen, schickte die Verantwortliche des Sommerfests ein Angebot ans Universum. Das Universum ließ sich darauf ein. Es war zwar kalt und windig – letztes Jahr habe ich an dieser Stelle über die Canicule, die Hitzewelle, geschrieben –, wir zogen uns alle noch einen zusätzlichen Fleece- oder Wollpulli an, aber es blieb trocken!
Wie jedes Jahr gab es ein üppiges und vielgängiges Essen. Da es so kalt war, tanzten die ersten schon früh zwischen den Tischen, um sich aufzuwärmen. Um Mitternacht stieg P., wie versprochen, in den Brunnen, tauchte einmal unter und die Musik wurde lauter. Bis auf ganz wenige Ausnahmen sprangen nun alle – alt oder jung – auf die Tanzfläche. Es war sofort eine Stimmung wie beim Kölner Karneval. Jedes noch so schlechte Lied wurde mitgesungen und gut gelaunt formierte man sich zur Polonäse, die hier La Chenille, also „die Raupe”, heißt. Das eingängige Lied dazu geht so:
Sie müssen es nicht zu Ende hören , aber wir sangen “à la queu-leu-leu”, drängelten und schaukelten uns alle einmal über den Platz und zurück. Das war erst der Anfang des Abends. Zum Glück gab es dann andere französische Klassiker, wie etwa diesen von Louise Attaque, der mir dieses Jahr zum Ohrwurm wurde.
Ich tanzte, bis mir die Knie wehtaten. Steinfußboden ist einfach nicht gut, selbst wenn ich nicht hüpfte, sondern nur mit dem Körper zur Musik wippte. Und dann wurde meine Losnummer aufgerufen. Ich gewann den „großen” Preis der Lotterie. Ich war ganz aufgeregt. Letztes Jahr gab es einen großen Fernseher, dieses Jahr wurde es jedoch nur eine kleine kabellose Lautsprecherbox. Ich gebe zu, ich war kurz perplex und habe den Preis später gegoogelt, weil ich dachte, vielleicht ist das ein wertvolles Ding und ich bin zu Unrecht enttäuscht. Aber nun ja, der Preis ist eher gering. Egal, ich habe mal was gewonnen und das Ding macht einen besseren Sound als unser Transistorradio. Gegen halb zwei Uhr morgens humpelte ich müde und zufrieden Richtung Bett.
Am nächsten Tag gab es auf dem Platz ein Atelier cuisine, es wurden die hier traditionellen Crouis produziert, selbst gemachte Nudeln, die mit dem Daumen in die Länge gezogen werden müssen, um mindestens sieben Fältchen hineinzuarbeiten.
Sie wurden später mit einer cremigen und knoblauchlastigen Walnusssauce verzehrt, wir aber bekamen Besuch und außerdem Zucchiniblüten geschenkt.
Wir frittierten die Zucchiniblüten in der Pfanne. Danach roch das ganze Haus zwar noch stundenlang nach Frittierfett, aber das ist hier kein Grund, ein Essen nicht zuzubereiten. Und natürlich schmeckte es super lecker!
Ich habe übrigens gelernt, dass man den sehr bitteren Blütenstempel besser vorher aus der Blüte zupft. Nur für den Fall, dass Sie mal Zucchiniblüten frittieren sollten. Bitte sehr. Wir verbringen den Nachmittag mit Essen und Quatschen, und jetzt bin ich erstmal müde sozialisiert, aber morgen geht es weiter, wenn auch aus traurigem Anlass. Die Gefährtin eines lieben Dorffreundes (beide 85+) ist in der vergangenen Woche überraschend gestorben. Wir werden also Beerdigungstourismus betreiben und in einer Fahrgemeinschaft zur Verdonschlucht fahren.
Gestern fuhren wir also einmal quer rüber über kurvige Bergstraßen. Auch wenn ich eher vorsichtig fuhr, verursachten die zwei Stunden Geschaukel den BeifahrerInnen auf den hinteren Plätzen Übelkeit (die auf der Rückfahrt durch Monsieurs dynamische Fahrweise noch gesteigert wurde, der dabei außerdem von einem Radar geflasht wurde, den ich auf der Hinfahrt nicht einmal wahrgenommen habe, das war aber das einzig Ärgerliche an diesem Tag). Wir fuhren vorbei an türkisfarbenen Stauseen, charmanten Dörfern und diversen Kirchlein auf hohen Felsen und dann hinein in die beeindruckenden Gorges du Verdon.
Ich erinnere mich, dass ich Mitte der achtziger Jahre hier eine lange Wanderung gemacht habe: den Chemin Blanc-Martel. Als ungeübte Bergwanderin verlangte die Wanderung mir einiges ab, aber ich war jung, hatte noch gesunde Knie und keine Höhenangst.
Ich habe gerade ein paar Videos des Wanderwegs angesehen und verlinke Ihnen eines, das nicht zu lang ist. Mir tun allein schon beim Anschauen die Knie weh. Zu meiner Zeit gab es, so glaube ich, an dem Geröllfeld noch keine Treppen, ich bin es zumindest todesmutig noch im Zickzack hinuntergerutscht. Danach war klar, es gibt kein Zurück.
Wir fuhren gestern noch ein Stück weiter nach La-Palud-sur-Verdon. „Sind Sie wegen Colette gekommen?”, wurden wir in einer kleinen Teestube nahe der großen Kirche gefragt, in der wir warteten und etwas tranken. Alle im Dorf seien erschüttert, dass die kleine, quirlige und lebenslustige Person so unvermittelt gestorben war, erfahren wir.
Die große und hohe Kirche wird restauriert und riecht nach feuchtem Zement. Auf den gefühlt winzigen Stühlen sitzen Familie, Freunde, Dorfbewohner und ehemalige SchülerInnen, denn Colette war eine beliebte Lehrerin. Der sichtbar alte Priester mit langem grauen Haar wird von einem Mann gestützt. Das Erste, was er – nicht nur zu meiner Verblüffung – sagt, ist: „Ich bin fast neunzig. Ich war heute Morgen beim Kardiologen. Der hat mir ernsthaft abgeraten, diese Beerdigung durchzuführen. Aber ich will Colette beerdigen!“ Während der gesamten Zeremonie, bei der man ihm das Mikrofon hält, ihn stützt und ihm zuflüstert, was er als Nächstes tun muss, habe ich Sorge, dass er zusammenbricht, während er Colette beerdigt. Es wird jedoch eine würdige, schöne, sehr persönliche und sehr berührende Zeremonie mit vielen weltlichen Liedern. Es erklingt sogar die englische Nationalhymne, denn Colette war in ihren jungen Jahren nach London gegangen, wo sie Französischlehrerin wurde. Später war sie als Englischlehrerin in Frankreich tätig. England war ihr Heimat geworden, genau wie Italien, denn ihr erster Ehemann war italienischer Abstammung. Ich hatte morgens ein Sträußchen Wiesenblumen gepflückt und in einer Kühltasche transportiert. Dieses lege ich neben all die gelben Sonnenblumengestecke.
“Sie war eine kleine Sonne” , sagten alle, die sie kannten. Wir haben sie auch so erlebt, obwohl wir sie nur kurz kannten. Sie war die späte große Liebe eines alten Freundes aus dem Dorf und sie waren ein charmantes und rührendes Liebespaar. Wir erfahren auch, dass der alte Priester sie im vergangenen Jahr gesegnet hatte. Dann durchquert der Priester (von einem Helfer gestützt) die Kirche, um allen Anwesenden persönlich die Hand zum Friedensgruß zu geben. „La paix du Christ” wünschte er jedem und blickte dabei jedem mit großer Ernsthaftigkeit und sehr wach in die Augen.
Hat mich das schon sehr beeindruckt, so bin ich es noch mehr, als ich erfahre, dass der Priester eine besondere Persönlichkeit ist: Le Pére Guy Gilbert ist als “Motorrad-Priester” und als Curé des Loubards, der Priester der kleinen Gauner, bekannt. Er hat sein ganzes Leben den “schwierigen” und straffällig gewordenen Jugendlichen gewidmet, denen er aus miserablen Verhältnissen, Drogen- und Alkoholsucht und Kriminalität helfen wollte und half. Sein Markenzeichen ist seine schwarze Motorradjacke sowie seine sehr direkte und umgangssprachliche Art sich auszudrücken. Die oben verlinkte Seite seines Vereins, die Association Père Guy Gilbert, und diese Reportage, die ich gefunden habe, gibt es leider nur in französischer Sprache, aber die Bilder sind meiner Meinung nach ausreichend aussagekräftig.
Colette wurde auf dem Friedhof neben der Kirche beigesetzt. Der Mistral blies, es wurde schlagartig kalt und wir zogen eiligst ein Wolljäckchen an. Auf dem Weg zu einer Auberge, in der wir uns alle zu einer kleinen Erfrischung trafen, bevor wir wieder zurückfuhren, kamen wir an der Bergerie de Faucon vorbei. Das ist ein besonderer Ort, an dem Père Guy Gilbert straffällige Jugendliche aufnimmt. Sie sollen dort mit Tieren arbeiten und ein Leben jenseits von Gewalt und Kriminalität kennenlernen. In der Reportage erzählt er auch, dass die belgische Königin ihn eines Tages wegen ihres jüngsten Sohnes aufsuchte. Er glaubte zunächst, man wolle ihn veräppeln, und gab der (wie er dachte) angeblichen Königin einen Termin im Pariser Banlieue. Doch Königin Paola kam tatsächlich. Über die Einzelheiten bleibt er jedoch diskret. Später verheiratete er Prinz Laurent mit der bürgerlichen Claire Coombs. Die Königin habe ihn nur gebeten, dabei nicht allzu vulgär zu sein und nicht ständig „putain” und „merde” zu sagen. Der Heilige Geist habe ihm dabei wohl geholfen, lacht er, denn es sei ihm gelungen, kein einziges Schimpfwort zu verwenden.. Kleiner FAZ-Artikel in Deutsch (allerdings nur über die Hochzeit).
Wie er der Gewalt der Jugendlichen begegne, wird er in der Reportage gefragt, und seine Botschaft ist (neben strikter Autorität und direkter Sprache) vor allem Liebe. Liebe ist auch die letzte Botschaft Colettes’ an uns. Ihr Lieblingslied aus dem Musical “Roméo und Juliette” wurde als letztes in der Kirche gespielt.
Bewegt fuhren wir wieder nach Hause.
Hier ist es (auch) kalt geworden, aber ich beschwere mich nicht, alles besser als die schwüle Hitze an der Küste, zu der wir in ein paar Tagen wieder zurückkehren (müssen).
Ich war in Berlin zu einer Gartenparty eingeladen, um das Leben zu feiern, nachdem es ein paar Jahre lang ziemlich anstrengend gewesen war. Die K-Krankheit auch hier. Jetzt sieht es aber wieder gut aus, Grund genug für ein Gartenfest im Sommer mit all den Menschen, die einen schon seit Langem begleiten.
Das Taute Heim war dieses Mal bereits ausgebucht, so dass ich mich im Literaturhotel in Friedenau einmietete, das schon seit Jahren auf meiner eigentlich nicht vorhandenen “Bucket-List” steht. Das Hotel wurde von der Autorin Christa Moog in dieser Form gegründet. Ich habe es vor ein paar Jahren entdeckt, als mir ihr Buch „Aus tausend grünen Spiegeln” wieder in die Hände fiel, das ich vor vielen Jahren, noch in einem vergangenen Jahrhundert, sehr gern gelesen hatte. Ich habe recherchiert, ob sie in der Zwischenzeit noch etwas anderes geschrieben hat, fand aber immer nur dieses eine Buch und den kleinen Erzählungsband „Die Fans von Union”, der auf seine Weise eindrücklich ist, aber nichts mit dem ersten Roman zu tun hat. Sie hat jedoch ein Literaturhotel gegründet, in dem es Lesungen und Literaturveranstaltungen in schönem Rahmen gibt, etwa im Uwe-Johnson-Saal oder im Garten. Und jetzt endlich habe ich es dorthin geschafft und bin sofort vom Charme des Hauses gefangen. Es gibt Biedermeiermöbel, Teppiche, Lüster und Spiegel, jede Menge Bücher und Fotos von Autoren. Der Empfang ist sehr freundlich, allerdings nicht mehr von Frau Moog, die sich vor einem Jahr auf Rügen zurückgezogen und die Leitung des Hotels in die Hände eines jungen Teams gelegt hat.
Mir gefiel die Atmosphäre, und auch das altmodische, aber sehr saubere Badezimmer (es erinnerte mich an unseres in Frankreich) und die tatsächlich sehr dünn gewaschenen Handtücher störten mich nicht. Es gibt weder Aufzug noch Klimaanlage, keinen Fernseher, keine Minibar und dergleichen Schnickschnack, den man in modernen Hotels finden kann. Dafür liegt es traumhaft in einem ruhigen Wohnviertel und hat einen schönen großen Garten, in dem man abends ausruhen und morgens frühstücken kann – sofern einen die Wespenhorden nicht stören. Ich gab es irgendwann auf und zog mich stattdessen in den Salon an einen der hübsch mit Goldrandservice gedeckten Biedermeiertische zurück. Das Buffet war vielfältig und sehr fein. Mir wurde auf Wunsch Hafermilch besorgt und anderen Gästen wurde Tee mit exakter Angabe zur Wassertemperatur und Brühzeit serviert. Ich las dort übrigens in Mascha Kalekos Briefen an ihren Mann. Sie reiste in den fünfziger Jahren aus den USA nach Hamburg und Berlin zurück und ihre Erlebnisse mit Hotels und anderen Vermieter:innen im Nachkriegsdeutschland passen gut zu der Berliner Hotelatmosphäre. (Das Literaturhotel hätte gut das Vorbild für das Hotel in meinem zweiten Krimi sein können, das ich mir damals weitestgehend ausgedacht habe )
In „Aus tausend grünen Spiegeln“ folgt man einer jungen Frau, die Anfang der Achtzigerjahre die DDR verlässt, um in Paris einen Mann zu heiraten, der sie tragischerweise gar nicht heiraten will. Sie entdeckt das westliche Europa und begibt sich auf die Spuren der von ihr verehrten Schriftstellerin Katherine Mansfield. Sie besucht alle Orte, an denen Mansfield in ihrem kurzen Leben war. Ihr Weg führt sie bis nach Neuseeland – und mich auch, denn ich fand die Beschreibung Neuseelands so anziehend, dass ich mich, als es mich einmal „ganz weit weg“ zog, für Neuseeland entschied. Die Entdeckungen der westlichen Welt, gemischt mit Erinnerungen an das zurückgelassene Leben in der DDR, werden in Briefen an eine zurückgelassene Freundin geschrieben. Der persönliche Stil hat mich sehr berührt, und ich habe das Buch, bei all den Tausenden, die man im Laufe des Lebens liest, nie vergessen. Interessanterweise ist es auch eines der wenigen Bücher, die ich beim letzten Umzug nicht verloren habe. Ich habe das vergilbte Bändchen mit nach Berlin gebracht und hätte es mir gern signieren lassen. Das war ja nun nicht mehr möglich, aber ich ließ immerhin meine Geschichte und meine Grüße an Frau Moog dort.
In Friedenau suchte ich dann auch das Haus auf, in dem meine Eltern 1960 gewohnt hatten. Sie waren nach ihrer Hochzeit nach Berlin gezogen. Mein Vater hatte bei Ullstein Arbeit gefunden und sie wohnten „möbliert” in der Fehlerstraße in der Wohnung einer alleinstehenden Dame, die viel auf Reisen war. Meine Mutter hat sie in liebevoller Erinnerung als „Tante Lottchen”. Doch dann wurde die Mauer gebaut, man wusste nicht, wie die Situation enden würde, meine Mutter war außerdem mit mir schwanger und sie fühlten sich nicht mehr wohl in Berlin, und vor allem so weit weg von ihrer Familie, sodass sie sich wieder Richtung „Heimat” aufmachten.
Schräg gegenüber des Hauses in der Fehlerstraße liegt übrigens der Friedenauer Friedhof an der Stubenrauchstraße, und dort ist unter anderem Marlene Dietrich beerdigt, die zwar in Paris verstorben ist, aber in Berlin beerdigt werden wollte. Da sie aus Schöneberg stammt und ihre Mutter bereits auf diesem Friedhof liegt, fand man ihr ein Grab in unmittelbarere Nähe zu ihrer Mutter.
Das Gräbergesetz der Bundesrepublik Deutschland verpflichtet die Bundesländer, die auf ihrem Gebiet liegenden Gräber der Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft zu pflegen und zu erhalten. Darunter fallen Kriegstote des II. Weltkrieges, die in Ausübung oder Folge eines militärischen oder militärähnlichen Dienstes ums Leben gekommen sind oder innerhalb eines Jahres nach Beendigung der Kriegsgefangenschaft gestorben sind,Kriegstote des II. Weltkrieges, die als Zivilisten durch Kriegseinwirkungen ihr Leben verloren haben.Opfer nationalsozialistischer Gewaltmaßnahmen. Opfer rechtsstaatswidriger Maßnahmen des kommunistischen Regimes. Vertriebene.
Nicht nur der Friedhof war eine grüne Oase, ganz Berlin ist derzeit sehr grün. Ich liebte die Alleen mitten in der Stadt, die breiten Fußwege aus Pflastersteinen und besonders die schönen Balkone.
Wegen meiner müden Knie (ich gab bei der Suche immer „möglichst kurze Gehzeit” an) und auch dank des Polizeieinsatzes, der die S-Bahn lahmlegte, fuhr ich dieses Mal erstmals vermehrt Bus. Es ist schon ein Vergnügen, ein gut funktionierendes, eng getaktetes Nahverkehrssystem einer Großstadt nutzen zu können. Auch wenn die Wege von A nach B für mich in der Zwischenzeit Kleinstadt-Provinzpflanze immer erstaunlich weit sind, unter einer Dreiviertelstunde Fahrzeit kommt man nirgends hin, und auch die Wege zur U-Bahn sind mitunter lang.
Am Tag nach dem rauschenden Gartenfest mit cooler Musik, Tanz, guten Gesprächen und einem überbordenden Buffet, gab es noch Reste von allem in chilliger Atmosphäre. Und alles war schon aufgeräumt.
Später dann flog ich wieder zurück, tschüss Berlin! Tschüss liebste Freundin! Tschüss Hotel!
Manchmal habe ich nicht nur das Gefühl, dass mich die Cookies ausspionieren, sondern dass irgendein großer Internet-Manitu mir ins Hirn schaut. Tagelang suchte ich in meiner Erinnerung nach einem deutschen Buchtitel für diese Überschrift: „Mit dem Diesunddas war Diesunddas.” Mehr wusste ich nicht mehr. Ich habe aber mit niemandem aus meinem französischen Umfeld darüber gesprochen, denn da hätte mir auch niemand helfen können. Endlich öffne ich die Google-Suche auf meinem Handy und was wird mir angezeigt, noch bevor ich irgendetwas eingetippt habe? „Doch mit den Clowns kamen die Tränen.” Ein Roman von Johannes Mario Simmel. Die Geschichte handelt von den folgenschweren Experimenten von Genforschern mit einem unheimlichen Virus, das, wenn es in die falschen Hände geriete, die gesamte Menschheit ausrotten könnte. Die Geschichte wurde bereits Mitte der Siebzigerjahre erdacht. Ist das nicht verrückt? Ich meine nicht die Virusgeschichte, sondern dass Google meine Gedanken zu lesen scheint. Da kann man schon Verschwörungstheoretikerin werden.
Egal, die Schafe zogen durch und hinterließen eine Spur von Schafskötteln in der Landschaft, wodurch die Fliegen angelockt wurden. Jedes Jahr dasselbe: Ich mag die Schafe, aber die Fliegen nerven mich entsetzlich. Sie kennen meine sommerlichen Berggeschichten, sie ähneln sich jedes Jahr, aber dieses Jahr gab es etwas Besonderes: Ein uralter Citroën aus einer aufgegebenen Autosammlung – ein Herr hatte 43 historische Autos gesammelt und sie seinen Kindern hinterlassen, die sie nun mühe- und schmerzvoll veräußern – wurde querfeldein herangekarrt und fand in einem Garten unterhalb des Dorfes sein neues Zuhause. Er soll ein privater Picknickort werden. Das wird sicherlich nett.
Dann organisierten die „Ecureuils en marche”, einer der Vereine des Dorfes, dem ich angehöre, mal wieder ein Loto. Loto ist im deutschen Sprachraum unter dem Namen Bingo bekannt Hier habe ich schon einmal darüber geschrieben.
Es ist ein ziemlich einfaches Zahlenspiel, das auch Kinder und Senioren problemlos mitspielen können. Letztes Jahr musste es kurzfristig wegen einer Coviderkrankung der wichtigsten Person der Veranstaltung abgesagt werden. Insofern hatten wir dieses Jahr sehr viel Zulauf (ich musste sogar schnell noch zweihundert kleine “Spielchips” aus Pappkarton schneiden, weil wir so zahlreich waren) und außerdem sehr üppige Gewinne zu vergeben. Einige Preise waren vom letzten Jahr übrig geblieben, andere wurden neu gekauft. Es gab unter anderem Olivenöl von einem lokalen Erzeuger, der weiter unten im Tal Olivenbäume besitzt (hier oben wachsen natürlich keine Olivenbäume mehr), Käse von der Schäferin, Wein und Champagner sowie Haushaltsartikel wie ein Käsebrett, ein Toaster und ein Soup-Maker – letzteres ein gewichtiges Ding, das ich persönlich mehr als überflüssig finde; Suppe kochen ist so einfach –, aber den Leuten gefiel es. Zusätzlich waren dieses Jahr vier Reisen der Hit, die in „Boxen” angeboten wurden. Drei Tage in Europa für zwei Personen oder eine Nacht mit vier Personen an einem besonderen Ort. Das kam gut an.
Pappkarton-Spielchips
Es ist ein Glücksspiel, aber die Preise wurden dieses Mal sehr ausgewogen gewonnen: Eine Familie von außerhalb gewann einen Preis, Bewohner aus dem Tal und Dorfbewohner andere. Eine ältere Dame freute sich über den Soup-Maker und ein jüngeres Paar, das aus Gründen noch eine Hochzeitsreise nachzuholen hat, freute sich über den Gewinn einer Reisebox. Anschließend hatten wir noch einen Aperitif angeboten, damit nicht alle sofort wieder verschwinden, sondern noch ein bisschen gesellig beieinanderstehen oder sitzen. Es war ein sehr schöner Nachmittag!
Am Abend schmückten wir den Platz noch schnell mit Wimpeln und Fähnchen und Kreppblumen für den Nationalfeiertag. Dieses Mal durfte ich nicht nur die blau-weiß-roten Kreppblumen basteln, sondern sie auch anbringen.
Am Nationalfeiertag selbst war im Nachbardorf Guillaumes ein Flohmarkt, den wir frühmorgens besuchten. Ich erstand einen Comic von Brétécher und Monsieur eine Kettensäge. Später fand auf unserem Dorfplatz eine kleine Ansprache statt, die Marseillaise wurde gesungen – ich stand neben einem jungen Mann, der so inbrünstig sang, dass ich den Text mitbekam – und dann gab es mal wieder einen Aperitif, bevor ich das letzte Mittagessen für unseren Sommerbesuch kochte (auch das ähnelt sich Jahr für Jahr). Nachmittags schnitt ich ein bisschen Lavendel, der schon leicht verblüht ist. Ich möchte wieder die kleinen Lavendel-Fläschchen als Mitbringsel machen. Ich dachte, ich hätte letztes Jahr ausführlicher darüber geschrieben, aber anscheinend nicht.* Ich schaffte es aber auch so, zumindest zwei Fläschchen zu flechten.
Und nun eine kleine Unterbrechung des Bergsommers: Der Gatte ist zu einem großen Fest eines alten Freundes irgendwo hinter Arles eingeladen und ich selbst mache eine kurze Stippvisite in Berlin. Wir sind also ins schwülheiße Cannes gefahren. Hier wird in Windeseile Wäsche gewaschen und getrocknet. Trotz der Hitze werden sogar ein paar Hemden gebügelt. Immerhin war ich gestern frühmorgens – quallenbedingt ganzkörperverhüllt – schwimmen.
À bientôt, wir lesen uns, so hoffe ich, in ein paar Tagen wieder!
*Eben gefunden: Geschrieben habe ich nicht wirklich, aber ein paar helfende Fotos gezeigt habe ich, allerdings schon ein paar Tage früher als erinnert.
Die Schafe sind da! Als wir gestern auf dem Weg ins nächstgrößere Dorf waren, haben wir sie schon gesehen. Sie machten nach dem frühmorgendlichen Aufstieg vom Fluss Var (auf etwa 800 Metern), wo sie ein paar Tage gegrast hatten, eine Pause auf dem Plateau, wo der Lavendel wächst (auf etwa 1200 Metern).
Am Nachmittag ging es dann weiter bis auf 1700 Meter ins Oberdorf. Dort werden sie auch ein paar Tage die Wiesen abgrasen, bevor sie noch weiter nach oben „transhumieren”. Was bedeutet nochmal Transhumance?
Transhumanz oder Wanderweidewirtschaft ist (nach der deutschen und romanischen Literatur) eine vorwiegend für den Markt produzierende Form extensiver Fernweidewirtschaft unter der Obhut von halbsesshaften oder halbnomadischen Hirten mit einem klimabedingten saisonalen Wechsel der in verschiedenen Klimazonen oder Höhenstufen liegenden Weidegebiete, weil diese jeweils nur während einer Jahreszeit ausreichend Futter bieten.
Auf dem Rückweg halten wir kurz an, begrüßen die Schäfer, die sich ebenso ausruhten, plaudern ein bisschen über das Metier, das nicht mehr das ist, was es mal war, seufzt der Senior, nicht nur der Wolf, auch die französische Verwaltung und die neuseeländische Konkurrenz machen ihnen das Leben schwer. Die Herde ist klein dieses Jahr. Ob ich mal “Touristin” spielen dürfe, frage ich, und zeige auf mein Smartphone. “Klar”, stimmt der Senior zu, “nehmen sie sie auf, wer weiß wie lange es uns und die Schafe noch gibt.”
Ich mache trotzdem nur ein paar Fotos der Herde, von dort, wo ich stehe und nähere mich nicht, ich will die Wachhunde und die kleinen Hütehunde, die die Herde umkreisen, nicht beunruhigen. Zwei der Schäfer nehmen den Schafen während der Ruhepause das Geläut ab.
Nachmittags wollen wir ins Oberdorf fahren, wird es Probleme geben, wenn wir später wieder runter fahren und der Schafherde begegnen? Eigentlich wissen wir es, wir haben schon oft genug Schafherden getroffen, wir fragen aber trotzdem. Nein, der Schäfer schüttelt dann auch den Kopf. Wir müssten im Zweifelsfall kurz stehenbleiben, würden einen Moment von Schafen überflutet, aber dann ziehen die Schafe weiter hinauf und wir können ohne Probleme weiter nach unten fahren.
So wird es dann auch. Wir treffen die Schafe allerdings schon ziemlich weit unten, wo es Ausweichstellen gibt, so dass sie einfach an unserem Auto vorbeitraben, blöken, bimmeln und brummeln.
Es ist wirklich nur eine kleine Herde, in weniger als fünf Minuten sind sie an uns vorbei und bereits den Feldweg hinaufgetrottet.
Ich veröffentliche hier noch einmal ein Filmchen, das ich schon vor ein paar Jahren gemacht habe, das die Schafe beim Aufstieg zum Plateau zeigt und wo man das Blöken der Schafe, das Glockengeläut und die Rufe der Schäfer hören kann. Das muss man sich bei den Fotos immer dazudenken.
Einmal bin ich einen Teil des Weges bei einer Transhumance mitgelaufen, das war im Juni 2009. Ich habe damals nicht davon berichtet, aber das Erlebte ist später in einen Kriminalroman miteingeflossen.
(c) Jean-Pierre Champoussin
Damals habe ich versucht, ein kleines Lamm, das von seiner Mutter nicht angenommen wurde, und am Straßenrand zurückblieb, zu retten, in dem ich es zur alten Schäferin Maria gebracht habe. Darüber habe ich hier schon einmal geschrieben. Es ist ein, wie ich finde, sehr berührender Text, den ich zum Tod der beiden Schäferinnen, Maria und ihrer Tochter Rosette, verfasst habe.
(c) Geneviève Sozzani
Sie merken schon, es wird ein erinnerungslastiger Sommer!
Man beachte den passenden Nagellack. Die Farbe heißt so frenchie : “Bardot”.
Ich sah sie und war schockverliebt. Die musste ich haben! Nichts Besonderes eigentlich, ein schlichtes Gebrauchsobjekt aus dem Beginn des letzten Jahrhunderts. Es gibt aufwändigere Formen und Verzierungen und doch bin ich dieser schnörkellosen Soupière mit diesem nostalgischen rosa-grauen Rosenmuster erlegen. Ja, richtig, wir reden von einer Suppenschüssel. Stolz und gerührt verließ ich den Trödelladen, Brocante, wie sie hier heißen, mit einem großen Paket unter dem Arm.
War ich eigentlich verrückt geworden? Was sollte ich mit einer Suppenschüssel und vier Tellern, wovon außerdem einer einen Sprung hatte?! Ich war mit dem Rucksack unterwegs! Für ein Jahr! Und bei meinem allerersten Besuch in einem Trödelladen kaufe ich eine Suppenschüssel! Ich esse nicht einmal gern Suppe! Abends zeigte ich meinen Schatz auf dem Hof. „Ich habe keine Ahnung, wie ich das je im Rucksack nach Hause kriegen soll“, sagte ich zu Anne, „aber ich musste das kaufen!“ Anne lächelte. „Es ist vielleicht ein Zeichen, dass du hierbleiben wirst.“ „Ach was“, wehrte ich ab und stellte die Suppenschüssel auf das Regal neben meinem Bett.
Eine Auszeit in Frankreich wollte ich machen und auf einem Bauernhof in den Alpen Südfrankreichs war ich gelandet. Mein Herz hatte sich dafür entschieden, obwohl ich nicht einmal ein Foto vom Hof gesehen hatte. Dann aber war es ein Schock, denn so einen kleinen und, in meinen großstädtischen und designverwöhnten Augen, ärmlichen und schlampigen Hof, so abgelegen, so alternativ und im besten Sinne an ein Freilichtmuseum erinnernd, hatte ich mir nicht vorgestellt. Dabei war es genau dieses ländliche Frankreich, wie ich es aus Filmen kannte und liebte, das mich so angezogen hat. Und nun war ich mittendrin. Wir saßen zahlreich am schweren Holztisch, alle sprachen durcheinander, es wurde gelacht, getrunken und gegessen. Viel gegessen! Die Hühner gackerten im Hof, die Enten und Gänse spazierten frei über die Wiese, es gab Hunde und Katzen, Kühe und Kälbchen und ein fettes Schwein. Und trotzdem. Wie fremd alles war. Fremde Sprache, fremdes Miteinander, fremde Gerüche, fremder Geschmack. Ich war angezogen und abgestoßen gleichzeitig, staunte, sah und hörte zu und versuchte mich einzufinden. Ich verstand so wenig und ich konnte noch viel weniger sagen. Stellte man mir eine Frage, stotterte ich hilflos herum. Ein paar Tage bleibe ich, dachte ich anfangs, nur bis ich weiß, wo ich stattdessen hingehen könnte. In der Zwischenzeit kletterte ich auf Bäume, um Kirschen zu pflücken, erntete ich im Garten Bohnen und Erbsen und Zucchini. Ich riss auf dem Feld wucherndes Unkraut heraus und ich half im Stall beim Melken und in der Fromagerie beim Käsemachen mit. Ich spielte mit kleinen Mädchen Fangen und Verstecken und putzte ihnen die Nase. Die Zeit verging, es wurde Herbst und ich war immer noch da. Ihre warmherzige Art, mit der sie mich selbstverständlich aufgenommen hatten, ohne mich zu kennen, war so wohltuend, dass ich mich trotz aller Fremdheit geborgen fühlte. Und ich genoss die Sonne und die Wärme des Südens. Noch im November aßen wir draußen auf der Veranda und die Sonne schien mir warm auf den Rücken. Ich konnte mir gar nicht vorstellen, dass es kalt werden würde. Wir waren doch in Südfrankreich! Aber dann wurde es Winter und es begann zu schneien. Das Leben wurde richtig anstrengend: Schnee schippen, Holz holen und Feuer machen, und trotzdem jeden Tag hinausgehen, die Tiere füttern, die Kühe melken und den Käse machen. In den langen Nächten habe ich so gefroren, wie noch nie in meinem Leben. Ich, die Deutsche, die aus dem Norden kam, fror im Winter in Südfrankreich. Sie lachten verständnislos. Als ich dachte, jetzt kann ich nicht mehr, kam das Frühjahr. Noch nie war ich so nah dran gewesen am Wetter, an der Natur und an ihren täglichen Veränderungen. Ich sah, wie das Grün explodierte, die Krokusse und die ersten Schlüsselblümchen auf den Wiesen wuchsen, lauschte dem Vogelzwitschern und dem Kuckuck, der ununterbrochen rief. Wie übermütig die Kühe auf der Weide sprangen, als sie erstmals wieder hinaus durften! Und auch mein Herz pochte stark. Ich hatte mich verliebt. In diese Menschen, in die Natur, in die Berge und den Himmel, in all das Fremde, das ich zu verstehen begann. Plötzlich war das Jahr um und ich wollte nicht mehr weg. Also blieb ich. Gegen alle Vernunft, gegen Sinn und Verstand. Seit vielen Jahren lebe ich nun in Südfrankreich. Und die Suppenschüssel habe ich immer noch.
Dies war der erste Text, den ich vor fünf Jahren für das Frankreich-Magazin geschrieben habe. Die Zeit fliegt, denn heute sind es auf den Tag genau zwanzig Jahre, dass ich nach Frankreich aufgebrochen bin – zwanzig Jahre Suppenschüssel sozusagen. Ein knappes Drittel meines Lebens habe ich in Frankreich verbracht. In der Zwischenzeit habe ich noch eine Waschschüssel und einen Krug im vermeintlich selben Muster erstanden. Ich habe mich aber getäuscht, die Waschschüssel hat ein (und wie ich finde noch schöneres) Nelkenmuster, die Suppenschüssel wie gesagt ein Rosenmuster. Ich habe sie zwar nie als Suppenschüssel benutzt, aber sie ist seit zwanzig Jahren Deko neben meiner (auf mehrere Orte verteilten) Bettflaschensammlung, von der man auf dem Foto auch etwas sieht.
Zwanzig Jahre sind vergangen. Und wir sind in den Bergen. So wie es sich gehört. Seit letztem Sonntagabend, als wir vor der Hitze an der Côte d’Azur hierher geflohen sind. Sie erleben das dieses Jahr auch. Ich muss Ihnen nicht erzählen, wie es ist, wenn es 31 Grad in der Wohnung und gefühlte 39 Grad draußen sind. Und dass es so gut wie keinen Luftaustausch gibt und die Nächte nicht kühl werden. Jetzt stellen Sie sich einfach vor, dass es für die nächsten zwei Monate so bleibt, dann wissen Sie, wie der Sommer hier ist. Ich schlief schlecht, wir stritten darüber, ob der Ventilator nachts anbleiben darf, und ich setzte schließlich durch, dass er so aufgestellt wird, dass ich ein bisschen, Monsieur aber eher wenig Wind abbekommt. Besonders hilfreich war es nicht, zu laut ist er außerdem. Ich schlief weiterhin schlecht, bekam Bläschen an Händen und Füßen und vor allem bekam ich, stets unausgeschlafen und schwitzend, schlechte Laune.
Am vergangenen Sonntagmorgen lungerte eine große Gruppe sehr junger Möwen elternlos am Strand herum. Ich hatte bedauerlicherweise, saisonbedingt, Sie erinnern sich, einmal beklaut, nie wieder, kein Handy dabei, um sie aufzunehmen. Sie flogen kleine und eher tiefe Runden und bewegten dabei schon die Flügel. Zuvor hatten sie eher auf die richtige Thermik gewartet, um abzuheben, so schien es mir zumindest, und glitten ohne einen Flügelschlag durch die Lüfte. Die großen Bojen im Meer sind alle heftig zugeschissen. Sie sind die rettenden Stopps, wenn die jungen Dinger sich bei ihrem Ausflug übers Meer mit ihren Kräften ein bisschen verschätzt haben.
Archivbild (keine jungen Möwen)
An diesem ganz frühen Sonntagmorgen schwamm ich noch eine Boje weiter und wurde dann zur Belohnung von einer Qualle am Knie geküsst. Herrje! Das gab mir den Rest. Es war noch nicht einmal Juli, und wir hatten Temperaturen wie im August. Der Körper war ständig feucht, es war nicht auszuhalten! Selbst das Meer war schon lauwarm, und die ersten Quallen sind da. Der Sommerumzug in die Berge ist logistisch immer eine Herausforderung, die ich gerne vor mir herschiebe, aber jetzt war ich bereit, auch wenn ich alles im Schneckentempo erledigte.
Wir fuhren durch das abendliche, immer noch 36 Grad warme und sonntäglich leere Hinterland. Ich starrte auf das Thermometer, das selbst in 800 Metern Höhe noch über 30 Grad anzeigte. Hier oben waren es dann 28 Grad. Ich zog die Flanell-Winterbettwäsche ab, stopfte das Deckbett in den Schrank und wir schliefen hier oben erstmals nur unter einem Leintuch. Nachts wurde es etwas kühler, doch am nächsten Morgen waren die Sonnenstrahlen bereits gegen 7 Uhr ziemlich anstrengend. Es blieb aber unter dreißig Grad, die Luft ist außerdem trocken hier oben, man kann atmen und die Bläschen an Händen und Füßen trocknen aus. (Das Quallengift kommt jedoch an anderen Körperstellen zum Vorschein. Ich habe überall juckende Quaddeln, die genauso aussehen und sich genauso anfühlen wie der Quallenstich. Das Projekt „Ganzkörperbedeckung im Meer” wird jetzt durchgezogen, sonst bekomme ich, befürchte ich zumindest, irgendwann einen anaphylaktischen Schock.)
Wie sehr habe ich vor zwanzig Jahren die Sonne gesucht und mich in ihrer Wärme gebadet! Jetzt schleiche ich, wie eine Katze, an den Hauswänden entlang durch den Schatten. Nachmittags verdichteten sich die Wolken, Wind kam auf, die Wolken wurden schwarz und schon kam ein Gewitter mit Regen, sodass es abkühlte! Hurra!
So ist es jetzt jeden Tag, seit wir hier oben sind: Mal kommt es früher, mal später, mal mit mehr Blitzen und Donner, mal weniger – aber immer mit Regen, einem kleinen Stromausfall und einer Internetpause.
So war es vor zwanzig Jahren auch schon. Wie sehr haben mich diese Sommergewitter, die regelmäßig mit kürzeren oder längeren Stromausfällen verbunden waren, verwundert! Vor allem, dass man das so hinnahm. Man kochte Tee, erzählte, sah dem platschenden Regen zu und wartete, bis er wieder aufhörte. Am nächsten Morgen schien zu meiner großen Erleichterung die Sonne erneut und ließ sich das Unkraut so viel leichter aus dem Boden harken, also arbeiteten wir etwas effizienter und schneller. Und wenn es nachmittags wieder regnete und der Strom ausfiel, dann war das eben so.
Und so ist es zwanzig Jahre später immer noch. Selten bekomme ich eine große wilde Möhre so komplett aus dem Boden gezogen! Allerdings wächst dank des Regens auch alles genauso schnell wieder nach. Heute habe ich schon die zweite Generation Gräser in diesem Sommer ausgerissen.
Die Handschuhe ändern sich, das (Un-)kraut bleibt gleich: Wilde Möhre
Was die jungen Frauen auf dem Hof damals en boucle, also ununterbrochen hörten, und was manchmal sogar die Mittagsruhe au dem abgelegenen Hof störte, weil eine von ihnen es laut aufdrehen und mitsingen musste, war das damals neu erschienene zweite Album der Sängerin Camille, Le fil; sie und ihr Album wurden damals genauso gefeiert wie heute Zaho de Sagazan. Ich verstand damals nur wenig von den poetischen Texten, aber die Musik rauschte durch meinen Körper und elektrisierte mich. Vor allem Ta douleur –
Lève toi c’est décidé Laisse-moi te remplacer Je vais prendre ta douleur
Doucement sans faire de bruit Comme on réveille la pluie Je vais prendre ta douleur
…
Si tu as mal là où t’as peur Tu n’as pas mal là où je chante!
Camille “Ta douleur”
Die Jungs hörten ebenso in Dauerschleife L’agriculteur von Ridan. Auch das sprach mich an.
Et puis merde! J’ai décidé de vivre loin sur la colline Vivre seul dans une maison avec la vue sur ma raison J’préfère vivre pauvre avec mon âme, que vivre riche avec la leur Et si le blé m’file du bonheur, j’me ferais p’têt’ agriculteur
Ridan l’Agriculteur
Landwirtin bin ich ja nun nicht geworden, aber immer noch habe ich diese große Liebe für mein französisches Dorf und das einfache und langsame Leben dort. Mit meinem vue sur la colline lasse ich Sie heute, höre en boucle Camille und Ridan und gebe mich meinen Erinnerungen hin
Die Möwen fliegen und kreischen immer noch höchst erregt durch den südlichen Himmel, um ihr Territorium und die Flugversuche ihrer Jungen zu verteidigen. Heute Morgen gegen halb acht war ich im Meer schwimmen und wunderte mich über die anhaltende Aufregung der relativ tief fliegenden Möwen ein Stück weiter rechts. Ich dachte, es sei vielleicht ein Fischschwarm dort und die verschiedenen Eltern stritten sich um die Fische für ihre noch ungeschickt danach tauchenden Kinder. Was man als Möwe eben so lernen muss – ich konnte es aus der Entfernung nicht erkennen. Auf dem Rückweg zum Strand attackierten die wütenden Möwen plötzlich direkt über mir einen komisch aussehenden Vogel, der ihnen gerade noch so entkam: eine Drohne! Man sollte sich nicht mit Möweneltern anlegen, sie sind nicht zum Scherzen aufgelegt! Ich weiß nicht, ob es dieses Jahr mehr Möwen gibt, aber das scheinbar endlose Möwengeschrei (bis spät abends) ist mir bislang noch nie so aufgefallen.
Nach Abgabe eines Textes habe ich mich gestern mit zwei Stunden klimatisiertem Kino belohnt und mir den gerade angelaufenen Film „Avignon” angesehen. Eine romantische Komödie, die im Theatermilieu des jährlichen Festivals in Avignon spielt. Es ist der erste Spielfilm von Johann Dionnet, der im Film selbst mitspielt. Der Film handelt von der Diskrepanz zwischen Boulevardtheater und klassischem Theater und von einem jungen Schauspieler, der in Avignon im Off-Programm ersteres spielt, in einem Stück mit dem Titel „Ma soeur s’incruste” (zu Deutsch etwa: „Meine Schwester zieht bei mir ein und bleibt”). Er gaukelt jedoch einer jungen, aufstrebenden klassischen Schauspielerin, in die er verliebt ist, vor, er spiele die Hauptrolle in dem klassischen Theaterstück schlechthin: „Le Cid” von Corneille, das in Avignon im renommierten In-Programm gespielt wird. Die Geschichte wird konventionell erzählt, ist aber kurzweilig, pfiffig und amüsant. Nebenbei wird die Realität der Schauspieler (und des Regisseurs) erzählt, die sich im Leben mit kleinen Rollen und anderen Jobs durchschlagen, finanzielle Probleme haben, und beim Theaterfestival in Avignon neben dem Proben und Spielen auch noch Plakate aufhängen, Handzettel verteilen und eine „Parade” machen müssen, um Zuschauer in den Saal zu locken.
Man glaubt es kaum, aber ich habe 2006 in Avignon in einem Boulevardtheaterstück mitgespielt. Wir waren nur eine Woche lang dort, mehr konnten wir uns weder zeitlich noch finanziell leisten. Man muss den Saal, die Unterkunft, die Anreise mit dem Auto, das Benzin und die Verpflegung vor Ort zahlen. Wir haben vorher mit Theaterspektakeln, die wir im Tal gegeben haben, Geld „gesammelt”, um uns Avignon leisten zu können. Wir, das war eine kleine Theatergruppe namens „L’illustre Troupeau”, eine Anspielung auf das „L’illustre Théâtre”, eine berühmte Theatergruppe um Molière, und eine Anspielung auf unsere landwirtschaftliche Herkunft – „troupeau” meint Herde, insbesondere Schafherde. Für die Parade hatten wir uns als Schafherde verkleidet. Es war sicherlich das erste Mal, dass in Avignon eine Gruppe mit „Bäh, bäh”-Rufen durch die Stadt zog. Ich habe hier schon einmal darüber geschrieben, als ich 2011, dieses Mal als Zuschauerin, ein paar Tage in Avignon verbracht habe. Damals wurden die Bilder noch ganz klein im Text angezeigt. Man muss sie anklicken, um sie richtig sehen zu können. (Erkennen Sie mich?) Unser selbst geschriebenes Theaterstück drehte sich um den Abbau der letzten Telefonzelle in einem Bergdorf (das war damals aktuell!), um vergessene Träume und den Verlust von Kommunikation.
Während ich „Avignon” sehe, tauche ich ein in das Avignon-Ambiente im heißesten Hochsommer, in die Schwierigkeiten der Boulevardtheatergruppe. Ich sehe den alten klapprigen Bus – so einen hatten wir auch – und muss lachen, wenn der Tontechniker im Film seinen Einsatz verpasst, so wie unser Tontechniker auch immer mal wieder seine Einsätze verpasst hat. Melancholisch denke ich an unsere Theatergruppe zurück, die sich, anders als die Film-Gruppe, die ihr Stück später in Paris weiterspielt, in Avignon vollkommen zerstritten hat.
Ein sehr netter Sommerfilm, den ich mir glatt noch einmal ansehen würde, so gut hat er mir gefallen, irgendwie möchte man die Personen im Film gar nicht verlassen (und zwei Stunden im klimatisierten Kino tun ihr Übriges).
Bei diesen bereits hochsommerlichen Temperaturen Mitte Juni gibt es immerhin eine nette Sache: Die Wäsche, sogar die großen Bettwäsche-Stücke – erinnern Sie sich? Die 2,20 Meter mal 2,40 Meter großen Deckbettbezüge, die man hier hat –, sie verdrehen sich in der Waschmaschine immer zu einem vollgestopften Klumpen, in dem sich alles sammelt. Man kann das Monster kaum aus der Waschmaschine ziehen. Diese Wäschemonster sind in der Regel mein Wäschealptraum: Sie sind nass und schwer, schwer aufzuhängen und sie trocknen schlecht. Jetzt sind sie in Rekordzeit trocken. Wir haben das Deckbett gerade erst gegen die leichtere Leintuch-Decken-Variante ausgetauscht. Ich kam noch nicht mal zum Waschen, da ist auch die leichtere Variante bereits zu warm und wir strampeln nachts die Decke weg. Der Sommer kam über Nacht. Und sofort ist alles zu heiß, zu schwül, zu anstrengend. Ich wedele mir zwar in dieser Saison erstmals mit einem Fächer lauwarme Luft zu, aber mit dem Ding in der Hand kann man nicht arbeiten. Heute Morgen habe ich deshalb den Ventilator aus dem Keller geholt und reaktiviert.
Ich wusch gestern drei (und heute bereits eine) Maschinen Wäsche, kriege alles in Nullkommanichts trocken und werde heute Abend, trotz Hitze und mit Unterstützung des Ventilators, die Sommerhemden des Gatten bügeln. Dazu schaue ich übrigens die Netflix-Serie „Pernilla”, die im norwegischen Original „Pörni” heißt, mit durchgestrichenem o. Die kennen Sie vermutlich alle schon, ich bin immer etwas spät dran. Es ist eine norwegische Dramedy, in der man einer vierzigjährigen alleinerziehenden Mutter und Sozialarbeiterin im Alltag zuschaut. Es gibt Trauer um die in einem Unfall getötete Schwester, einen Neffen, der zum Pflegesohn wird, einen Vater, der sich im hohen Alter als homosexuell outet, zwei sehr unterschiedliche Teenagertöchter, einen abwesenden, von ihnen verehrten, aber an ihnen uninteressierten Kindsvater und eine nicht so richtig funktionierende Liebesgeschichte mit einem deutlich jüngeren Mann. Das könnte trist und elend sein, ist es aber nicht (die kurzen Szenen, die Pernillas Arbeitsalltag mit vernachlässigten Kindern zeigen, sind allerdings herzzerreißend). Die erste Staffel habe ich fast in einem Rutsch durchgeschaut!
Wenn man derzeit durch Cannes Straßen läuft, hört man stets ein leises monotones Fiepen, in der Regel kommt es von oben. Hebt man den Blick, sieht man auf den Dächern plusterige graue Jungmöwen, die sich seelisch und körperlich auf ihren ersten Flug vorbereiten, aufgeregt unterstützt von den Eltern, die es, nicht weit entfernt, von einem anderen Dach etwa, ermuntern, loszufliegen. Leider kreischen sie ihre ängstliche Möwenbrut ziemlich laut an, das würde mich auch eher einschüchtern. Gleichzeitig werfen sie sich ebenso laut kreischend tieffliegend durch die Lüfte, um uns Menschen für alle Fälle gleichmal in Schach zu halten. “Hee! Achtung! Unser Kind wird gleich losfliegen, weg da! Wehe ihr rührt unser Kind an!” “Los jetzt flieg schon!”, kreischen sie dann wieder nach oben zu ihrem unentschlossenen Kind. “Wir können nicht ewig warten! Wir halten den Weg frei, aber du musst jetzt mal losfliegen! Los jetzt! Komm schon!” Irgendwann haben die Möwenkinder genug gefiept, die Eltern genug geschimpft und ermuntert. Dann heben die grauen, rundlichen Möwenbabys endlich ab. Noch ziemlich ungelenk fliegen sie mit ausgebreiteten Flügeln schnurstracks geradeaus. Man ahnt ihren panischen Blick und möchte nicht in ihrem Weg stehen. Sie können noch nicht manövrieren. Es würde unweigerlich zu einer Kollision kommen. Wahrscheinlich würde man gleichzeitig von den aufgeregten Eltern attackiert werden. Es ist viel los in den Lüften von Cannes und es ist ziemlich laut! Im Wikipediaartikel habe ich hübsche Hörbeispiele gefunden, und ich lerne außerdem, dass wir es erstens mit der Silbermöwe zu tun haben, zweitens, dass die grauen Möwenbabies vier Jahre brauchen, bis sie erwachsen sind, und dass das, was ich als lautes Kreischen bezeichne, eigentlich ein “Jauchzen” ist und Territorialabgrenzungen dient.
Das Jauchzen der Silbermöwe (Hörbeispiel[7]) kann mit aau aau au kjiiiau kjau kjau beschrieben werden. Es wird meist von einigen tief bellenden Lauten eingeleitet, denen ein sehr erregter, hoher Laut und dann eine in Intensität und Tonhöhe absteigende Rufreihe folgt.[1] Das einleitende Bellen, das auch mit hau oder bau beschrieben werden kann, ist auch separat als Aufforderung zum Abfliegen zu vernehmen. Im Flug wird es mit den Flügelbewegungen synchronisiert und ist dann ein zweisilbiges aa-o.[8]
Strandbaustelle mit Möwe
Und das Meer. Noch ist es kühl und erfrischend, und vorausgesetzt man ist früh da, am besten noch vor den Wasserski-Motorbooten, dann ist das Schwimmen eine echte Freude, es fühlt sich so viel entspannter und freier an, im Meer zu schwimmen als im Schwimmbad, wo ich zwar gestern Abend auch war, der Vorteil hier, ganz klar: keine Quallen, aber bisher habe ich im Meer noch keine gesehen; früh um Acht am Meer ist es wundervoll, alle sprechen noch leise und man sagt sich mit freundlichem Insider-Lächeln beim Schwimmen “guten Morgen” und “Ist es nicht ganz wunderbar?”.
Morgens am Meer mit Kormoran
Um zehn Uhr ist die erste Reihe bereits voll und ich halte es nicht mehr in der Sonne aus. Außerdem ist es jetzt laut. Ganz Cannes ist in dieser Saison (mal wieder) eine Baustelle. Der Markt ist nach wie vor wie ein Kunstwerk von Christo eingepackt und auch hier am Strand sind die Bauarbeiten für die nach zehn Jahren neu zu errichtenden Restaurants noch nicht abgeschlossen. Nur eines von zwei Restaurants ist rechtzeitig zum Saisonauftakt fertig geworden. Das relativ neue Loi littoral sieht vor, dass man am Strand nur noch in abbaubarer Leichtbauweise Restaurants errichten kann. In der Realität sind das ziemlich hässliche Container-Konstruktionen, die immerhin mit Holz verkleidet sind. Nach zehn Jahren muss man sie abreißen und wieder neu bauen.
Vielleicht werden die Konzessionen auch alle zehn Jahre erneuert, das entzieht sich meiner Kenntnis. Es ist auf jeden Fall eine gewaltige Investition für die Restaurateure, was erklärt, warum das Essen dort auch ziemlich teuer ist. Nach zehn Jahren alles neu zu machen (einschließlich der Fundamente), ist aber nicht verkehrt, in der letzten Saison war hier und da alles schon ziemlich schmuddelig, angerostet und windschief. Wind, Salz und Wellen sind eine Herausforderung für jedes Bauwerk am Meer. Dieses Jahr wird also bald alles nagelneu sein, einschließlich des Mobiliars und der Sonnenschirme, auf der Seite Richtung Mandelieu zumindest.
Alles neu macht der Junialles neu mit Sandsiebwalze
So viel für heute von hier, ab morgen erneut ein kleiner Deutschland-Aufenthalt, dann fliehen wir vermutlich vor der Hitze in die Berge – à bientôt!
Egal, ob wir vier oder vierzehn Tage in die Berge fahren, die Logistik ist immer dieselbe. Man schleppt immer Essen für mehrere Tage und eventuelle Gäste mit und Monsieur schleppt immer Werkzeug von A nach B und später wieder zurück. Dieses Mal kommen auch kleine, noch aufzubauende Küchenmöbel mit. Gewaschene Bettwäsche und Kleidung werden hochgefahren, ebenso die Bücher, die ich eigentlich lesen will, es dann aber nicht tue, weil ich stattdessen Unkraut jäte, Holz stapele, Möbel aufbaue, koche und mit den Nachbarn plaudere.
Immerhin wurde der mitgebrachte Laptop genutzt, um das Tennis-Finale der French Open zu sehen. Fünf Stunden lang prügelten Jannik Sinner und Carlos Alcaraz auf die kleinen gelben Bälle ein. Wahnsinn! Übrigens war dieses Mal ganz Frankreich aus dem Häuschen wegen Lois Boisson, dieser jungen Französin, die aus dem Nichts aufgetaucht ist und sich bis ins Halbfinale durchgekämpft hat. Haben Sie sie gesehen?
Und jetzt gibt es noch ein paar Bilder vom Juni. Es ist wunderschön im Juni in den Bergen. Alles ist grün und wächst. Kräuter, Gräser und Blumen sprießen überall.
Leinen-Blüten
Natürlich wächst es auch wieder auf der gekiesten Zufahrt. Aus Sicht der Natur ist es ein absolut sinnloses Unterfangen, inmitten von Wiesen ein Stück Land haben zu wollen, auf dem jetzt bitte möglichst nichts mehr wachsen soll. Während ich hier gerade Gräser herausreiße, weht der Wind schon wieder Grassamen von der Wiese nebenan, wo mir die Gräser bis zur Hüfte reichen, über den Kies. Eine Never-ending-Story.
Wilde Möhre (an der arbeite ich mich ab!)
Heute haben wir einen Ausflug in ein benachbartes Dorf gemacht, in dem ich bislang nur einmal mit Patrick, meinem ersten Mann, war. Das ist fast zwanzig Jahre her. Sie sehen, man kommt nicht so richtig herum, wenn man ein eigenes Berghaus hat, bei dem es immer etwas zu tun gibt. Ich hatte vergessen, dass die Straße dorthin so lang, so eng und so kurvig ist.
Am Wegesrand: Gedenken an Jean Vercelli, 20 Jahre alt, von den Deutschen im Juli 1944 erschossenBlick auf die Serpentinenstraße
Glücklicherweise kam uns niemand entgegen. In der Auberge, die leider keine Internetseite hat, gibt es nur ein Menü, das in den Grundzügen immer gleich ist. Aber es ist perfekt: Als Entrée gibt es selbst gemachte, mit Kürbis gefüllte Ravioli in einer Walnusssauce, danach Lammkeule und Zucchinigratin, grünen Salat und eine Auswahl von regionalem Käse. Zum Dessert gibt es selbst gemachte Apfeltarte oder Crème Caramel, Kaffee und wer mag, bekommt noch selbst gemachten Génépi zum Verdauen. Die Portionen sind üppig und danach rollt man zu einem kleinen Verdauungsspaziergang durch das winzige, absolut ruhige Dorf. Die Straße endet hier, es gibt also keinen Durchgangsverkehr.
Das Schild zeigt es richtig an: Der Wanderweg ist in der Tatder Wiesenpfad da rechts untenLinks Wanderweg nach Châteauneuf, geradeaus ist der Weg verboten, weil irgendwo Gelände abzurutschen drohtBlick auf Châteauneuf d’Entraunes
Dann fahren wir müde wieder nach Hause, machen eine lange Sieste. Später kommt eine Nachbarin vorbei und wir besprechen die Sommeraktivitäten des Dorfes (wir werden, wenn dieses Jahr alles gut geht, wieder einen Lotto-Nachmittag organisieren). Und heute Abend sind wir immer noch so satt von mittags, ich musste ausnahmsweise nichts mehr kochen! Hurrah!
So, da sind wir wieder. Der Stromausfall in Cannes und Umgebung hat es ja wohl sogar bis in die deutschen Nachrichten geschafft. Seit gestern haben wir wieder heißes Wasser und seit heute – nach einem langen Chat mit einem echten Menschen – funktioniert auch das Festnetztelefon wieder. Es war Sabotage. Für die Anschläge bekennen sich gleich zwei anarchistische Gruppen.
Falls Sie es nicht mitbekommen haben: Im Hinterland von Nizza wurde ein Hochspannungsmast angesägt, sodass er in Schräglage fiel, und in einem Elektrizitätswerk wurde Feuer gelegt. Damit wollte man bewusst das Festival treffen, aber nicht nur Cannes war am Samstag ab etwa 10 Uhr ohne Strom, sondern die ganze Region. Das Palais des Festivals, aber auch Polizei, Feuerwehr und Krankenhäuser, verfügen jedoch über Notstromaggregate. Trotzdem ging es am Tag, an dem abends die Goldene Palme verliehen werden sollte, natürlich hoch her. In Cannes ging von 10 Uhr bis etwa 15 Uhr nichts mehr. Blackout. Es gab keine Kaffeemaschine, keine Kasse, keinen Aufzug, keinen elektronischen Türöffner, kein Telefon und auch kein Mobiltelefon, da das Mobilfunknetz und Internet ebenfalls betroffen waren. Züge fuhren nicht. Auch Radio und Fernseher funktionierten natürlich nicht. Das Merkwürdige war, dass man so keinerlei Informationen darüber bekam, was eigentlich los war.
Ich hatte mich in aller Frühe am Gare Maritime angestellt, wo die Karten für die Goldene Palme an die Einwohner von Cannes vergeben werden. Um Viertel vor acht war ich da, um neun wird überhaupt erst geöffnet, aber schon zwei Menschenschlangen umrundeten das Gebäude. Zumindest sah es so aus, als ich ankam und man mich an eine andere Ecke als üblich schickte. Ich war schon leicht verzweifelt. Wenn an der anderen Seite schon kein Platz mehr war und man deshalb diese zweite Schlange geöffnet hatte, dann würde es dieses Jahr erneut nichts mit Karten werden. Die Ersten seien schon um sieben Uhr da gewesen, hieß es. Sie saßen teilweise auf kleinen Klapphockern und/oder standen in der prallen Sonne. Immer wieder klappten Personen zusammen, die dann in den Innenhof auf schattige Stufen vorgelassen wurden. Man plaudert ein wenig mit den Menschen, die vor und hinter einem stehen oder sitzen. Immerhin hatte ich dieses Mal zwei nette dänische Damen (mit Hund) vor mir.
Punkt neun ging es los. Man geriet in ein Labyrinth aus Absperrgittern, ähnlich wie am Flughafen. Die andere Schlange war nicht sehr lang, da die Jachtbesitzer untersagt hatten, dass stundenlang Krethi und Plethi vor ihren Schiffen stehen und gucken. Das will man nicht.
Daher standen wir dieses Mal entlang der Straße an. Nur die allerersten, die noch vor dem Sicherheitspersonal gekommen waren, wussten das noch nicht und hatten sich wie jedes Jahr auf der Jachtseite angestellt. Damit es logistisch korrekt zuging, blieben sie eben dort stehen.
Unsere Berechtigung als Einwohner von Cannes wird kontrolliert und wir werden in das Gebäude gelassen. Hurra! Um Viertel vor zehn habe ich zwei Karten für die Vorstellung um 18 Uhr ergattert! Abendgarderobe ist Pflicht! Na dann.
Ich gehe jetzt erst einmal frühstücken und bekomme vermutlich den letzten Caffè Crème des Tages, denn um zehn fällt der Strom aus. Ich telefoniere noch mit einer Freundin, die sich auf dem Weg zum Flughafen befindet. Die Verbindung bricht mehrfach zusammen, dann ist auch das Mobiltelefon stumm.
Es werden nur noch kalte Getränke serviert, und zwar so lange, bis der Kühlschrank leer ist. Für die Eisdielen ist es ein Desaster, weil ihnen das Eis schmilzt. Bezahlt wird bar, sofern man Bargeld hat. Abheben kann man auch keines mehr. Die Angestellten der Hotels sitzen draußen herum und Reisende können weder ein- noch auschecken. Die kleinen Geschäfte in der Innenstadt sind alle dunkel, die meisten haben geschlossen. Die Mitarbeiter eines Barbershops haben ihre Stühle nach draußen gestellt und schneiden Haare unter freiem Himmel.
Ich fahre nach Hause und finde es cool, wie die Franzosen an der großen Kreuzung mit sieben Straßen ohne Ampelschaltung (und bislang auch ohne Polizisten, die den Verkehr regeln) ein Verkehrsknäuel mit Bussen, Scootern und Autos flüssig und ohne Aggressionen bewältigen. Zuhause findet die Samstags-Nathalie es jedoch untragbar, dass sie mit einem Besen statt mit dem Staubsauger arbeiten soll. Ich kann sie nicht einmal mit einem Kaffee besänftigen, denn die Kaffeemaschine geht auch nicht. Gegen Mittag bricht sie ihre Tätigkeit schließlich ab. Immerhin kann ich das Mittagessen zubereiten, denn ich habe einen Gasherd. Später fahre ich Monsieur zum Bridge. Kartenspielen im dämmrigen Raum geht auch ohne Strom. Anschließend fahre ich an den Strand, sonne mich, schwimme (das erste Mal!) und lese ein Buch.
Abends geht der Fernseher wieder und ich schaue die Übertragung der Zeremonie der Goldenen Palme, die wie geplant stattfindet. Im Hintergrund gab es viel Chaos. Es sei die Hölle gewesen, werden die Schneiderinnen und Friseurinnen zitiert, die ohne Strom (und somit ohne Nähmaschine, Fön und Lockenstab) Kostüme anpassen oder Frisuren stylen mussten. Vermutlich hat Juliette Binoche deshalb wieder eine wenig glamouröse Frisur.
Sie wissen es natürlich schon: Der deutsche Film „In die Sonne schauen” von Mascha Schilinski hat den Preis der Jury bekommen! Wow! Glückwunsch! Auch wenn sie sich den Preis mit einem anderen Film „Sirat” von Oliver Laxe teilen muss. Die Goldene Palme wurde an den iranischen Filmemacher Jafar Panahi für „It Was Just an Accident” („Ein einfacher Unfall”) vergeben. Jafar Panahi hat seit Jahren Berufsverbot und muss seine Filme immer heimlich drehen. Er durfte den Iran jahrelang nicht verlassen und war dieses Jahr mit seinem Filmteam anwesend. Ich hätte vielleicht lieber „In die Sonne schauen” gesehen, bin aber mit dem iranischen Film durchaus auch zufrieden. Ich finde, es ist eine gute Entscheidung. Letztes Jahr konnte man sich nicht dazu durchringen, eine „politische” Goldene Palme an den Iraner Mohammad Rasoulof für „The Seed of the Sacred Fig” zu vergeben. Er hatte den Iran durch Flucht verlassen, bevor man ihn verhaften konnte. Er bekam letztes Jahr „nur”, so wie dieses Jahr der chinesische Film, einen kurzfristig erfundenen Sonderpreis.
“Das Wichtigste ist unser Land und die Freiheit unseres Landes. Ich wünsche allen Iranern und Iranerinnen, die sich für die Demokratie schlagen, egal woran sie glauben und wo sie sich gerade befinden, dass wir gemeinsam eine Zeit erleben werden, in der uns niemand mehr sagt, was wir anziehen sollen, was wir sagen sollen, was wir nicht tun sollen.”
Jafar Panahi, anlässlich der Verleihung der Goldenen Palme
Es ist immer wieder aufregend, die (schon etwas abgenutzten) roten Teppichstufen selbst hinauflaufen zu dürfen. Karnevalsstimmung liegt in der Luft, die Musik ist laut, alle lachen und freuen sich, haben sich herausgeputzt und machen Selfies, obwohl es eigentlich untersagt ist, aber niemand nimmt es so genau. Man kann sich natürlich auch von einem richtigen Fotografen ablichten lassen, der extra dafür bereitsteht.
Wir laufen die schöne Doppelhelix-Treppe hinauf, diese Art Treppe wurde übrigens erstmals im Schloss Chambord erbaut – kleiner Kulturexkurs, bitte sehr – und suchen uns Plätze im oberen Bereich. Und schon geht’s los.
Ich zitiere hier wie so oft Katja Nicodemus:
„It Was Just an Accident“ (Ein einfacher Unfall) ist eine Auseinandersetzung mit Jafar Panahis eigenen Gefängniserfahrungen und der Gewalt des Regimes.
Sein Held Vahid, ein Arbeiter, begegnet durch Zufall dem Mann, der ihn im Gefängnis gequält hat. Er entführt ihn mit seinem Lieferwagen. Um sicherzugehen, dass es sich wirklich um seinen Folterer handelt, kontaktiert er weitere Frauen und Männer, die mit ihm eingesperrt waren. Sie überlegen, was sie tun sollen: Sollen sie Rache üben und sich damit mit dem Regime gemein machen? Oder den mutmaßlichen Peiniger laufen lassen und das Risiko einer schweren Bestrafung eingehen?
„Ob wir einen schönen Film gesehen hätten”, fragte uns Monsieur, den wir später in einem Restaurant trafen. Schön, nein, schön ist der Film nicht. Er ist gewalttätig und da er heimlich gedreht wurde, ist er auch bildsprachlich wenig spektakulär. Aber es ist ein guter und wichtiger Film und er lässt mich lange nicht los. Ob Jafar Panahi nach allem, was er in diesem Film über die Folter in den iranischen Gefängnissen sagt, problemlos in sein Land zurückkehren kann?
Lesen Sie dazu gerne den Artikel über die zehn Tage in Cannes von meiner Lieblingskritikerin und ihr Interview mit Jafar Panahi. Es ist das erste Interview Panahis mit einem deutschsprachigen Medium seit 15 Jahren, denn eines der Verbote, denen Panahi unterlag, war auch, keine Interviews zu geben.
So war es. Das Festival ist vorbei. Die Stadt ist wieder leerer und ruhiger. Ich fliege morgen nach Deutschland, sodass Sie ein paar Tage lang nichts von mir hören werden. Bleiben Sie mir dennoch gewogen.
Eine der wenigen kostenlosen und für alle zugänglichen Veranstaltungen während des Filmfestivals in Cannes sind die Open-Air-Kinovorstellungen am Strand, das sogenannte Cinéma de la plage. Das Ambiente ist eigentlich toll, aber das Wetter macht den Vorstellungen oft einen Strich durch die Rechnung. Außerdem werden dort in der Regel bekannte Klassiker gezeigt, die ich entweder schon gesehen habe oder die mich nicht interessieren.
Die Vorstellung beginnt erst spät, wenn es wirklich dunkel ist. Man muss aber früh da sein, um überhaupt auf den Strand gelassen zu werden und um möglicherweise einen Liegestuhl zu ergattern. Dann wartet man lange, bis es losgeht. Hin und zurück geht es im Festivalgetümmel nur zu Fuß. All das hat dazu geführt, dass ich in all den Jahren bislang nur ein einziges Mal dort war.
Eine Freundin hat mich jetzt aber motiviert, hinzugehen. Der gestrige Film sei bestimmt ein toller Musikfilm und es gäbe außerdem ein Konzert im Stil der Gipsy Kings vorher. Außerdem sei es eine Vorpremiere, der Film komme erst im Juni in die Kinos. Ich lasse mich überreden und wir verabreden uns vorher im Suquet zum Abendessen.
Den ganzen Tag über weht ein starker Wind. Wir befürchten, dass der Film gar nicht gezeigt werden kann. Gegen 18 Uhr legt sich der Wind jedoch und kurz scheint die Sonne. Auf dem Weg zum Restaurant zieht sich der Himmel bedrohlich zu und ein Gewitter scheint im Anmarsch zu sein. Laut diverser Wetter-Apps, die wir konsultieren, wird es gegen 22 Uhr erwartet. Ob die Veranstaltung stattfinden wird, ist absolut ungewiss.
Wir gehen trotzdem rechtzeitig los, bleiben hier und da stehen und schauen dem heute eher schwach besuchten Festivalgetümmel zu. Das Festival neigt sich dem Ende zu. Die großen Produktionen wurden bereits gezeigt und die bekannten Stars waren auch schon da.
Gestern Abend wurde im Wettbewerb ein chinesischer Film gezeigt, der die Massen jedoch nicht anzog. Es war ziemlich leer um den roten Teppich herum, nur ein paar junge chinesische Mädchen, manche in traditioneller Kleidung, standen auf der anderen Seite des Palais und warteten auf Jackson Yee, einen sehr süß aussehenden jungen chinesischen Sänger und Schauspieler.
Dann erreichen wir den Kinostrand. Es sind erstaunlich wenige Menschen da – Wind und das drohende Gewitter haben wohl viele abgeschreckt. Die Sicherheitsleute am Eingang wissen auch nicht, ob alles wirklich stattfinden wird. Im Moment regnet es aber noch nicht, zucken sie mit den Schultern und überprüfen unsere Taschen, in denen wir Jacken und Decken mitgeschleppt haben.
Schon sind wir drin! Und oh Wunder, wir bekommen die letzten der gerade aufgestellten freien Liegestühle. Man merkt, dass alles auf den letzten Drücker entschieden wurde.
Die anderen, die jetzt noch kommen, müssen sich in den Sand setzen, der aber trocken sei, wie uns von der Bühne zugerufen wird.
Zunächst gibt der Hauptdarsteller des musikalischen Road-Movies, Arthur H., ein kleines Konzert, dann folgt ein spanisches Gypsie-Konzert, das auf den Film einstimmt.
Die Menschen vor der Bühne tanzen im Sand. In der Zwischenzeit ist es dunkel geworden. Man sieht die schwarzen Gewitterwolken nicht mehr. Laut einer Wetter-App sind sie auch gar nicht mehr über Cannes. Nun zieht man doch die Kinoleinwand hoch und dann beginnt der Film „Ange”.
Lustigerweise beginnt der Film mit einem wahnsinnigen Gewitter, ob das ein böses Vorzeichen ist? Arthur H. spielt einen seltsamer Musikhistoriker, der auf der Suche nach einem verschollenen Musiker-Freund mit einem alten Campingwagen durch die Gegend fährt. Er besucht zunächst seine frühere Geliebte. Zwölf Jahre hat er sich nicht sehen lassen und kein Lebenszeichen von sich gegeben. Dennoch fällt sie ihm voller Glück in die Arme. Da beginne ich, genervt zu sein. Das ist eine typische Männerfantasie der Männer (nicht nur?) meiner Generation. Der Mann, der einsame Cowboy, lebt sein Leben, kommt, wie es ihm passt, und die Frau erwartet ihn stets mit offenen Armen. Er erfährt, dass die Tochter (okay, es ist nicht seine Tochter, erfahre ich später) „Dummheiten” gemacht habe, und fragt ziemlich trottelig „Warum denn das?”. Klar, wenn man sich zwölf Jahre lang nicht um (s)ein Kind kümmert, kriegt man auch nichts mit. Und dann fängt es an zu regnen. Die Menschen verlassen fluchtartig den Strand – wir auch. Alle fürchten jetzt das große Gewitter und suchen Schutz. Aber es regnet überhaupt nur wenig und kurz. Pech ist nur: Einmal draußen, dürfen wir nicht mehr rein. Man kann natürlich auch von der Mauer aus zusehen, aber der Film ist sowieso nichts für mich. Ich verabschiede mich und laufe nach Hause.
Unterwegs werde ich Zeuge einer süßen Szene – zwei langbeinige Damen in fast durchsichtigen Kleidern lassen sich von einem Herrn filmen, immer wieder laufen sie vor dem hell erleuchteten Fenster von Prada hin und her. Ein kleines Mädchen ist fasziniert von den beiden Damen, die es vermutlich für Prinzesinnen hält und rennt spontan ins Bild, um sich stolz mit ihnen fotografieren zu lassen. Die beiden Damen waren sehr gerührt.
Und hier noch der Trailer von “Ange”. Vielleicht schaue ich ihn mir doch noch mal im Kino an.
Gestern Abend begann es zu regnen und heute Vormittag gab es ein wahnsinniges Gewitter und stundenlang schüttete es wie aus Kübeln. Es ist immer so während des Festivals, siehe diesen Beitrag von vor zwei Jahren, das ist vermutlich die ausgleichende Gerechtigkeit des Universums, das als Gegengewicht zum Glamour von Cannes den armen ambulanten Regenschirm-Händlern in Cannes das Geschäft der Saison verschafft. Im Nachbardepartement Var sind heute drei Menschen bei diesem Unwetter ums Leben gekommen. In Cannes ist vor ein paar Tagen ein chinesischer Film-Agent auf der Croisette von einer Palme fast erschlagen worden. Eine Windböe soll die Palme entwurzelt haben, die genau auf den Mann kippte und ihn “platt machte”, wie die Presse schrieb und sofort wegen des Ausdrucks kritisiert wurde. Der Mann kam mit starken Kopf- und Wirbelsäulenverletzungen ins Krankenhaus und die chinesische Delegation sagte sofort sämtliche Termine ab. In der Zwischenzeit konnte er das Krankenhaus wohl wieder verlassen, mehr war seither nicht zu erfahren. Mich erinnert es an die tragische Todesursache des Schriftstellers Ödon von Horvath, der aus Nazideutschland floh und in Paris von einem herunterfallenden Ast erschlagen wurde.
Was ist sonst noch so los? Bono von U2 war anwesend, um einen Film über ihn, kein Biopic, aber deutlich mehr als ein Konzertfilm heißt es, “Stories for Surrender” von Andrew Dominik vorzustellen, und er hatte Sean Penn und einige Soldaten aus der Ukraine eingeladen, um mit ihnen zusammen auf dem Teppich zu posieren, als Zeichen der Unterstützung für die Ukraine. Die Soldaten passten nicht zum geforderten Cannes-Dresscode, aber nun, es gibt wie immer Ausnahmen.
Tom Cruise war da (und mit ihm die nun wirklich letzte Folge der “Mission Impossible”), Angelina Jolie war da, ebenso Amal Alamuddin (besser bekannt als Amal Clooney), beide kamen allein und waren sehr elegant, wie die Vogue berichtete. Und ebenso Carla Bruni (allein, elegant in Rot). Carla Bruni sollte übrigens bei einer Veranstaltung in einem schicken Strandrestaurant singen, aber sie kam mit ihrem zarten Stimmchen nicht gegen die lauten Bässe der Musik des Nachbarrestaurants an, sie war dégoutée, beschwerte sich, und das laute Strandrestaurant wurde zur Strafe einen Tag gesperrt.
Isabelle Huppert trug einmal ein leuchtendes limettenfarbiges Kleid; btw. Grün in allen Schattierungen ist dieses Jahr übrigens sehr präsent, Charlotte Gainsbourg trug etwa einen grünen Kissenbezug, halt nein, ein kurzes Kleid von Yves St Laurent war es, und natürlich ist es ultraschick, genau wie der eigenartige Jeanslook den Isabelle Huppert ein anderes Mal präsentierte, langer Rock mit umgedrehter und verdrehter Jeansweste, so ließe meine Mutter mich nicht rausgehen, aber natürlich ist es Balenciaga und die Vogue schmachtete: “on adoooore”
Sie müssen bitte auf die Links klicken, um das alles zu sehen, die Fotos hier reinzusetzen ist nicht ganz legal, und ich befinde mich quasi schon mit einem Fuß in einem Abmahnungsprozess …
Denzel Washington flog kurz ein, um eine Überraschungs-Ehrenpalme entgegenzunehmen, zum Anzug trug er weiße Sneakers und Krawatte, was nicht dem Dresscode entspricht, Spike Lee trug ebenfalls nicht den geforderten Abendanzug, sondern ein buntes Streifenoutfit in den Farben seiner liebsten Baseballmannschaft. Rihanna trug ein blaues Kleid um ihr schwangeres Bäuchlein und ihr Gatte goldene Zähne (und auch nur eine Krawatte, herrjeh!) Hier sehen Sie übrigens schon den gestrigen Regen.
Rihanna et A$AP Rocky sur les marches du Festival de Cannes. (Le 19 mai 2025.) ABACA
Und während unsereins sich vermutlich vom roten Teppich scheuchen lassen müsste, wenn man den Dresscode nicht einhielte, so dürfen die geladenen Gäste dann doch irgendwie machen, was sie wollen. Übrigens sind Kleider mit langen Schleppen seit diesem Jahr auch nicht mehr gestattet, weil sie auf dem Teppich den Bewegungsfluss aller stören und man sie im Saal kaum auf einem Sitz unterbringen kann, aber man ließ es Heidi Klum noch einmal durchgehen. Nur die Presse fragte genervt: Hat sie eigentlich nichts verstanden?
Heidi Klum en Elie Saab sur le tapis rouge. (Cannes, le 13 mai 2025.) Marc Piasecki / FilmMagic
Heute Abend erklommen unter anderem Jodie Foster die roten Stufen und Scarlett Johannson. Letztere war dieses Mal nicht als Schauspielerin da sondern als Regisseurin. Sie hat ihren ersten Spielfilm abgeliefert, Eleanor the Great, über eine transgenerationelle Frauenfreundschaft. Ich bin dieses Jahr so gespannt auf so viele Filme und kann es kaum erwarten, sie in den Kinos zu sehen!
So viel für heute. Bonne nuit!
ps: Hab ich es nicht gesagt? Schon ist es passiert! Ein eingeladenes Starlet, schick, aber in Glamourkreisen noch eher namenlos, wurde wegen ihrer zu voluminösen Schleppe vom Sicherheitsdienst nicht auf den roten Teppich vorgelassen. Ihre Begleitung riss ihr kurzerhand die angenähte Schleppe ab (glücklicherweise ohne das Kleid dabei zu zerreißen), und verschenkte sie an irgendjemanden im zuschauenden Publikum. Zu sehen in einem TiktokVideo publiziert bei Elle.
Ich weiß nicht, wie viel von Cannes überhaupt zu Ihnen dringt. Wissen Sie beispielsweise, dass dieses Mal mehrere deutsche Filme vertreten sind? „In die Sonne schauen” von der bislang unbekannten Filmemacherin Mascha Schilinski wurde hier sehr gut aufgenommen. Dann gibt es noch „Amrum” von Fatih Akin, der aber nicht im Wettbewerb läuft, sowie Christian Petzolds Film „Miroirs No. 3”, der innerhalb der „Quinzaine des Réalisateurs” gezeigt wird.
Ich hatte mir gestern vorgenommen, für „Amrum” von Fatih Akin eine Karte zu erbetteln, so wie ich das letztes Jahr für die Verleihung der Goldenen Palme gemacht habe. Das hatte prima geklappt und so war ich guten Mutes mit meinem Zettel „Cherche Invitation Amrum” zum Palais des Festivals gelaufen. Ja, gelaufen, denn die Busse fuhren eher nicht, und nachdem ich eine Viertelstunde gewartet hatte, dachte ich, der Film würde ohne mich anfangen, wenn ich nicht losginge.
Ich bin zunächst ein kleines bisschen aufgeregt mit meinem Schild in der Hand, aber ich bin nicht die Einzige, die eine Karte sucht. Jemand möchte eine Karte für „La Petite Dernière“, ein Coming-of-Age-Film von Hafsia Herzi, und jemand anderes möchte eine Karte für „Eddington“, den „Le Monde“ für den schwärzesten Film in dieser Saison in Cannes hält. Ich stehe vor dem Zugang und versuche die Leute gewinnend anzulächeln. Ein junger Mann fragt mich, ob ich stattdessen einen anderen Film sehen möchte. Offensichtlich ist der Saal so leer, dass sie Zuschauer suchen. Ich lehne jedoch ab, da ich so fixiert auf „Amrum” bin und von dem Film, den der junge Mann mir vorschlägt, noch nie etwas gehört habe. Viele sehen mein Schild und gehen weiter. Aber eine Frau in Begleitung eines Mannes nickt mir zu. Sie hat drei Karten und könnte mir eine geben. Das Problem ist nur, dass die Karten alle digitalisiert sind. Mit einem Blick auf meinen Oberkörper, an dem kein Badge herumbaumelt, stellt sie fest, dass ich keine Akkreditierung habe. Also müssen sie mich mitnehmen, ohne sie käme ich nicht rein, sagt sie. Das Paar und ich eilen also zu einem anderen Eingang. In der Zwischenzeit ist vor dem Palais aber alles weitläufig abgesperrt. Wir müssen einen großen Umweg nehmen, auf der anderen Straßenseite am Palais vorbei und dann erneut die Straße überqueren, um hinter dem Palais zum direkten Eingang des Saales Agnes Varda zu gelangen. Es wimmelt vor Menschen. Ich habe Mühe, Schritt zu halten, und die beiden nicht aus den Augen zu verlieren. Sie tippt beim Laufen und schickt mir immerhin schon eine Karte via WhatsApp auf mein Handy. Der Mann, neben dem ich hereile, kommt mir bekannt vor, aber ich weiß nicht, woher. Ein Schauspieler? Außer Atem erreichen wir den Eingang und die Sicherheitskontrolle. Und dann komme ich nicht rein! Die Karte ist eines. Aber ohne Akkreditierung geht nichts. Auch wenn die Dame mich tapfer als ihre Begleitung ausgibt. Nichts zu machen. „Tut mir leid”, sagt sie schließlich achselzuckend und lässt mich am Eingang zurück. “Vielleicht klappt es an einem anderen Zugang”, sagt die Dame von der Sicherheitskontrolle und schickt mich wieder zurück, dorthin, wo wir hergekommen sind.
Aber jetzt rollen schwarze Autos mit getönten Scheiben auf der Straße vor dem Palais entlang. Hier komme ich nicht mehr über die Straße, signalisieren mir die strengen Polizeibeamten. Ich müsse entweder warten oder einen noch längeren Umweg nehmen. In fünf Minuten wird der Zugang zum Film geschlossen, aber ich brauche bei dem Umweg und all den Menschen mindestens fünfzehn Minuten, um überhaupt zurückzukommen. Ich stehe da und bin kurz verzweifelt. Dann atme ich aus, höre auf zu hetzen und lasse es gut sein.
Ich nehme den langen Weg zurück, gehe erstmal ein Eis essen und entscheide mich für Plan B: Ich fahre zum Kinokomplex Cineum in Cannes la Bocca, wo es in zwei Stunden auch eine Vorstellung von „Amrum” gibt. Vielleicht sind sie dort etwas weniger streng. Ich suche die Bushaltestelle, aber nein, hier fährt kein Bus, denn während des Festivals ist alles anders. Also laufe ich zurück zum Bahnhof, denn das ist der einzige Ort, von dem ich sicher bin, dass er von allen Bussen angefahren wird., Ich erwische gerade noch den richtigen Bus, der aber, wie ich bemerke, während des Festivals eine andere Route fährt und keinesfalls bis zum Kinokomplex. Eine Dame tröstet mich: Von der Endhaltestelle könne ich in gut zwanzig Minuten auch zu Fuß hinlaufen. Der Busfahrer schlägt mir jedoch vor, unterwegs umzusteigen und den extra dafür eingerichteten Shuttlebus zu nehmen. Das mache ich dann auch – und mit mir viele andere. Der Bus ist proppevoll und quält sich endlos durch den dichten Straßenverkehr. Vierzig Minuten später sind wir da.
Auch hier gibt es einen roten Teppich und ein Sicherheitsempfangskomitee, dem ich mein Anliegen vortrage. Sie schütteln den Kopf. Ohne Akkreditierung komme ich auch hier nicht rein. „Gibt es denn gar keine gedruckten Karten mehr?”, frage ich. Die jungen Menschen wissen gar nicht, wovon ich rede. Einer der Herren schlägt mir vor, ich könne doch einen anderen Film im Kinokomplex ansehen. Ja, das hatte ich mir als Plan C auch überlegt. Allerdings ist das Nachmittagsprogramm im Kinokomplex etwas mau. Der einzige Film, für den ich nicht noch einmal zwei Stunden warten muss, ist die Geschichte des “Gesang”-und-Tanz-Duos Milli Vanilli. „Girl, you know it’s true” ist vielleicht nicht nur der französische Titel. Die Dame an der Kinokasse empfiehlt ihn mir sehr. Sie bedauert, dass er in Frankreich keinen Erfolg hat.
Den jungen französischen Zuschauer:innen von heute sagt „Milli Vanilli” natürlich nichts, aber ich habe die Geschichte der beiden in meinen jüngeren Jahren live mitverfolgt, wenn auch nur am Rande meines Gesichtsfeldes; es war einfach nicht meine Musik. Dass sie damals aufgeflogen sind, weil sie überhaupt nicht selbst gesungen haben, sondern der Produzent Frank Farian oder andere Sänger, hat mich wenig berührt. Dass man darüber einen Film drehen kann? Aber es ist das oder nichts. Es ist ein deutscher Film und ich will jetzt einen Film sehen! Aber ich muss noch warten, bis der Saal frei ist. Leider muss ich direkt neben der Schlange der Festivaliers warten, die für „Amrum” anstehen. Das grämt mich sehr und ich spüre noch einmal meine große Enttäuschung. Fast kommen mir Tränen.
Wir gehen zeitgleich in unsere Säle: „Amrum” links, „Milli Vanilli” rechts. In meinem Saal bin ich ganz allein, das ist mir noch nie passiert. Und ich bleibe auch allein.
Vermutlich war ich psychologisch nicht wirklich für „Milli Vanilli” bereit. Zusätzlich ist es die französische Version. Ich finde den Film schlecht, und weder witzig noch anrührend, wie ich beim Nachlesen in allerhand guten Kritiken gelesen habe. Allerdings habe ich seit gestern „Baby, don’t forget my number” als Dauerschleife im Kopf.
Hier bitteschön, damit Sie auch etwas davon haben.
Danach steht mir eine erneute Bus-Odyssee bevor und es dauert etwa eine Stunde, bis ich müde zu Hause ankomme.
Zuhause suche ich den Namen der Dame, die mir die Karte via WhatsApp geschickt hat. Sie ist Politikerin (La Gauche républicaine et socialiste) und in ihrer Timeline sehe ich, dass sie an vielen Demonstrationen in Paris teilgenommen hat. Dort sehe ich auch immer wieder den Mann, der sie in Cannes begleitete. Auch er ist vermutlich Politiker, was erklären würde, warum ich glaube, ihn „vom Sehen” zu kennen. Vermutlich vom Fernsehen. Seinen Namen finde ich jedoch nicht.
PS: Der Film, den ich ausgeschlagen hatte, ist “L’Inconnu de la Grande Arche”, der von dem bis dahin unbekannten Architekten Johan Otto van Spreckelsen und den Bau des großen Triumphbogens, der Grande Arche, in La Défense (in Paris) handelt. Gerade gegoogelt: Der junge Mann, der mich angesprochen hat, war der Regisseur persönlich. Ach je. Ich schäme mich. Und es wäre vermutlich deutlich interessanter geworden als Milli Vanilli.
Dieses Mal waren wir wieder im Kino, ich finde das immer ziemlich genial, das Spektakel auf dem roten Teppich ist so laut, Musik wummert, die Fans, die Journalisten, die Fotografen, alle rufen und sprechen aufgeregt durcheinander, und man ist im Kino so nah dran, dass man wirklich glaubt, Robert de Niro, Quentin Tarantino und Juliette Binoche live gesehen zu haben. Aber natürlich bin ich hier schon wieder zu spät, Katja Nicodemus hat ihren amüsanten Text über die ersten Eindrücke in Cannes (es gibt deutsche Filme im Wettbewerb, außerdem Kakerlaken, frau darf erstmals auch in flachen Schuhen auf den roten Teppich, Luxusjachten sind dieses Jahr billiger zu mieten) wie sich das gehört, gestern Nacht schon geschrieben.
Die Eröffnunsgzeremonie, dieses Mal geleitet vom Schauspieler Laurent Lafitte (ihn kennt man vielleicht, weil er in einer Netflix Serie ziemlich genial Bernard Tapie darstellt), die letztes Jahr noch als “Wort- und Tränenreich” kritisiert wurde (Katja Nicodemus), schien mir dieses Jahr ziemlich rasant durchgetaktet zu sein. Die Jury, deren Vorsitz Juliette Binoche hat, wurde vorgestellt, Mylene Farmer sang ein Liedchen zu Ehren von David Lynch, dann kam schon Leonardo di Caprio auf die Bühne und überreichte dem sehr gerührten Robert de Niro die Ehrenpalme. Quentin Tarantino eröffnete danach ohne Umschweife das Filmfestival 2025 und warf das Mikro dramatisch auf den Teppich. Lafitte, Binoche und vor allem Robert de Niro hatten ernste Themen in ihren Reden, Kriege, Terrorismus, Faschismus, sie machten sich für die Kunst stark, für Freiheit und für die Demokratie.
Der Eröffnungsfilm “Partir un jour”, wie ich in einem Kommentar zum gestrigen Beitrag schon schrieb, ist vielleicht kein großer Kinofilm, ich mochte ihn aber dennoch gerne und zitiere erneut Katja Nicodemus:
Er handelt von einer aufstrebenden Pariser Köchin, die wegen ihres kranken Vaters zurück in das Fernfahrerrestaurant ihrer Eltern kommt. Außerdem sind da: eine ungewollte Schwangerschaft, die ehemalige große Liebe und das Leben überhaupt. Zwischen Tanz- und Gesangseinlagen und einer Küche, der man ansieht, dass dort wirklich gekocht wird, gelingt es dem Film, von Frankreich zu erzählen, von seiner Kulinarik, dem Verhältnis von Provinz und Hauptstadt, von denen, die dableiben, und denen, die eines Tages weggehen.
Es ist der erste Spielfilm der Filmemacherin Amélie Bonnin, außerdem eine Comédie Musicale, das heißt, es wird mal wieder gesungen. Das ist vielleicht nicht neu, ich kann mir auch vorher nie vorstellen, wie das passen soll, aber es passt. Ich habe begeistert mitgesungen (bekannte französische Chansons), war mittendrin und manchmal gerührt (etwa wenn der herzkranke Vater beim Kartoffelschälen in der Küche “Je veux mourir sur scène” von Dalida singt). Wir sehen eine neue und frische Schauspielergeneration, das Publikum im ausverkauften großen Saal des Cineum ist jedoch alles andere als neu und frisch und eher schwer zu begeistern für das Witzige im Film. Der Film bekam nur freundlichen Applaus, und das, obwohl hier und da heimlich Champagner gesüppelt wurde. Man schafft sich sein glamouröses Ambiente selbst, nicht wahr.
Heute lief ich dann kurz durch die Stadt und machte die üblichen Fotos. Doppelte Absperrgitter, lange Schlangen. Sehr großer Sicherheitsaufwand. Ich habe noch nie so viel Polizei gesehen.
Habs gestern Abend nicht mehr geschafft, den Artikel zu machen, auch wenn ich den ganzen Tag fotografiert habe. So reiche ich die zwölf Bilder vom zwölften Tag des Monats, die Caro vom Blog “Draußen nur Kännchen” so verlässlich sammelt, am 13. nach. Der Alltag ist ja weitestgehend zeitlos, das Tagesaktuelle nur knapp veraltet. Geht schon, oder?
Der Blick aus dem Fenster. Heute mit Taube. Es hat nachts geregnet und das Wetter sieht momentan nicht verheißungsvoll aus. Wir nähern uns dem Filmfestival, da ist immer schlechtes Wetter. Aber es hat sicherlich auch mit den Eisheiligen zu tun. Gestern war St. Pankratius, am Donnerstag ist noch die “Kalte Sophie”, dann erst wird es verlässlich wärmer. Das gilt in diesem Jahr besonders für Südfrankreich, das Schönwettermäßig etwas hinterherhinkt, in Deutschland erlebte ich in der Woche vor Ostern schon 28 Grad!
Ich fahre ein bisschen Indoor-Fahrrad im unordentlichen Badezimmer mit ohne Aussicht. Für mehr Realität im Internet.
Frühstück. Man brachte uns eine Brioche-Spezialität aus Lyon mit: eine Praluline. Eine Brioche mit Nüssen, Mandeln und roten “Pralinen”, berühmtes Zuckerzeug, das gerne für Gebäck eingesetzt wird. Ziemlich süß, aber nicht unlecker.
Ich schreibe einige wichtige Mails, sitze dafür an Monsieurs Schreibtisch, mein eigener Schreibtisch ist so zugemüllt, dass ich mich dort nicht konzentrieren kann.
Mittagessen. Es ist Frühling, es gibt wieder rohe Artischocken zum Entrée. Nachtisch Erdbeeren. Dazwischen gibts Hähnchenbrustfilets in Senf-Sahne-Soße und Tagliatelle.
Nach der Sieste fahre ich Monsieur zur Rhumatologin, die ihm die ersten zwei von sechs Hyaluronsäurepräparat-Spritzen in die Knie schießt. Während er wartet und dann dran ist, laufe ich ein wenig durch die Innenstadt und fange die beginnende Festivalatmosphäre ein. Das Wetter ist besser geworden, es ist recht warm und der Himmel schön blau.
Alain Delon ist überall. Die Ausstellung “Cannes fait le mur” ist dieses Jahr ihm und den Frauen seines Lebens gewidmet!
Es rollkoffert durch Cannes.
Das Bild für das diesjährige Plakat entstammt dem Film “Un homme et une femme” mit Jean-Louis Trintignant und Anouk Aimée. Und erstmals gibt es zwei Plakate – die Umarmung zeigt mal ihr, mal sein Gesicht. Aber ich finde immer nur dieses.
Nachmittags suche ich vergeblich unseren Namen bei der Kartenverlosung für das Filmfestival, wir haben auch dieses Jahr keine Karten bekommen. Ich reserviere aber schnell noch zwei Karten für die Eröffnungszeremonie (heute Abend), die auch in die Kinos übertragen wird, einschließlich dem Eröffnungsfilm “Partir un jour”. Der wird überraschend leicht, das freut mich, Monsieur verzieht ein bisschen das Gesicht.
Aus dem Fernsehen erfahren wir später, dass morgen, also in der Zwischenzeit heute (am Eröffnungstag) zusätzlich drei Filme über die Situation in der Ukraine gezeigt werden, darunter eine Doku über Zelensky. Leider sind alle drei Filme, wie alle anderen des Festivals auch, nur für Presse und akkreditiertes Publikum zu sehen. Aber arte zeigt die Doku über Zelensky am Eröffnungs-Abend (heute!)! Ich bin kurz enttäuscht, dass wir selbst an dem Abend im Kino einen so seichten Film ansehen werden, entdecke aber, dass die Doku bereits in der arte Mediathek zu sehen ist. Das Abendprogramm ist gerettet!
Kurz vor Acht gehe ich noch schwimmen. Es ist toll, nur wenige Menschen sind so spät da.
Wir essen dementsprechend sehr spät und hauen uns hungrig die Reste vom Mittag rein. Kein Foto.
Das war der gestrige Tag. Danke, wenn Sie auch nach dem 12. hier vorbeigeschaut haben! Die anderen Mai-12-von-12er finden Sie hier, ich bin die 145ste, unfassbar!
Ein Missverständnis hat dazu geführt, dass mir die Fahne eines Buches zugeschickt wurde, das gerade bei Kiepenheuer & Witsch erschienen ist: Die Geschichte der Schauspielerin Maria Schneider, geschrieben von ihrer jüngeren Cousine, der Journalistin Vanessa Schneider, übersetzt von Grit Weirauch. Der Zufall will, dass mich das Thema sehr interessiert, und doch ist es unbemerkt an mir vorbeigegangen, als das Buch in Frankreich erschien, immerhin schon 2018, genauso wie der Film, den Jessica Palud nach dem Buch gedreht hat und der letztes Jahr bei den Filmfestspielen in Cannes gezeigt wurde. Man kann also in Cannes leben und trotzdem einiges verpassen, dafür schäme ich mich ein bisschen, stürze mich jetzt aber mit umso größerem Interesse auf die deutsche Übersetzung. Auch wenn die Namen deutsch klingen, ist es eine sehr französische Geschichte. Maria Schneider kannte ich nicht, auch nicht den Film “Der letzte Tango in Paris”, in dem sie in den Siebzigern mit Marlon Brando spielte. Nie gesehen, nie gehört, nichts von der sexuellen Verruchtheit dieses Films drang zu mir durch. Gut, ich war 1972 ein braves Grundschulkind, die Eltern gut katholisch, Filme dieser Art wurden bei uns nicht einmal erwähnt. Aber auch später kreuzte dieser Film nicht meinen Weg.
Maria Schneider ist neunzehn, nach damaligem Recht noch nicht volljährig, als sie ihren ersten Film dreht. Es ist ein Erotikfilm, und sie steht gleich zwei Filmgiganten gegenüber: Bernardo Bertolucci, dem aufstrebenden Regisseur, und Marlon Brando, der ihren Partner spielt. Bertolucci ist Anfang dreißig, Brando immerhin schon 48. Mit ihm hat Maria mehrere Sexszenen in einer leeren Wohnung in Paris. Bertolucci will dem Film noch etwas mehr Pep geben und bespricht kurzerhand mit Brando, dass es eine inszenierte, heftige Analsexszene geben soll, von der die junge Maria allerdings nichts weiß. Sie ist völlig überrumpelt, als Marlon Brando ihr die Jeans herunterzieht, ihr Butter als Gleitmittel verabreicht und sich auf sie wirft. Sie ist schockiert, wehrt sich wie bei einer echten Vergewaltigung, schreit, heult und ist außer sich. Genau das wollte Bertolucci sehen und filmen und ist mit dem Ergebnis sehr zufrieden. Aber Maria fühlt sich gedemütigt und betrogen, ja sogar doppelt vergewaltigt von diesen Männern, die das hinter ihrem Rücken eingefädelt haben, und sie wird diese Szene nie verwinden. Sie spricht darüber, aber man hört sie nicht, die Siebziger sind sexuell freizügig, was soll’s, immerhin hat sie ihren ersten Film gedreht und dann gleich mit Marlon Brando, ist das nichts? Der Film ist ein Skandal, vor allem wegen dieser Szene, er wird in Italien und Spanien verboten, in Italien wird Maria in Abwesenheit zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Sie hat niemanden, der sie vor den Blicken und Kommentaren der anderen schützt oder ihr im Umgang mit der Presse hilft. Um sich zu rächen, lästert sie über Brando, macht alles kaputt, auch ihre zukünftige Karriere, aber was ist das schon für eine Karriere, wenn man ihr nur Filme anbietet, in denen sie nackt sein muss. “Angezogen interessiere ich niemanden”.
Um den Film und die widerliche Szene zu vergessen, stürzt sie sich ins Nachtleben, feiert, trinkt, Drogen kommen dazu, bald spritzt sie sich Heroin, aber sie entkommt dem Film und der Szene nicht, alle anderen führen sie ihr immer wieder vor Augen, etwa wenn ihr im Flugzeug mit einem anzüglichen Lächeln ein Päckchen Butter angeboten wird (ein Butterhersteller wirbt sogar mit ihrem Foto), und dass Journalisten und Journalistinnen sie auch nach dem Dreh anderer Filme immer wieder dazu interviewen wollen. Auch in einem späten Interview, das ich mir im Zuge der Recherche angesehen habe, wird sie von einer gestandenen Journalistin in heiterem Ton, fast lachend gefragt, warum sie Jahrzehnte später immer noch so unter dieser Szene leide, “das war doch nur eine gespielte Vergewaltigung, oder?”. Der abweisende Gesichtsausdruck Marias spricht Bände, aber die Journalistin verfügt über keinerlei Empathie. Erst über zehn Jahre später, 2017, wird man öffentlich über sexuellen Missbrauch (nicht nur) in der Filmindustrie sprechen, den Beginn der #meetoo-Bewegung hat Maria Schneider jedoch nicht mehr erlebt.
Ich habe das Buch von Vanessa Schneider in der deutschen Übersetzung von Grit Weirauch in einem Rutsch durchgelesen, was erwähnenswert ist, weil ich seit Monaten kaum noch etwas lese und schon gar nicht in einem Rutsch. Nur an zwei winzigen Stellen bin ich in der Übersetzung hängen geblieben, ich hätte nicht “das” Mousse auch Chocolat gesagt, sondern “die” und später liegt Maria mit ” Anziehsachen” am Strand, sagt man das heute so? Vielleicht hätte ich “Klamotten” geschrieben oder vielleicht, dass sie “angezogen” war. Ansonsten gefällt mir der Ton, den Vanessa Schneider anschlägt (und den Grit Weirauch perfekt übersetzt), eine liebevolle, fast zärtliche Hommage an die ältere Cousine, die sie verehrt und deren Verlorenheit sie schon als Kind spürt; Die Mutter wirft Maria mit 15 aus dem Haus, sie findet Unterschlupf bei der Familie eines Onkels, Vanessas Eltern, erst mit 16 lernt sie ihren leiblichen Vater kennen, Daniel Gélin, einen charismatischen Schauspieler, der seine frisch entdeckte Tochter sofort ins Nachtleben einführt, sie wie seine neueste Eroberung herumführt und auch mit der Filmwelt in Kontakt bringt, – aber es ist auch eine sehr französische Familiengeschichte, die uns mitten in die siebziger Jahre katapultiert. Vanessa Schneider erinnert sich an die Begegnungen mit Maria, aber auch an ihre eigene Familiengeschichte, die über mehrere Generationen dysfunktional ist, an die Hippie-Welt, in der sie aufwächst, in der ihr Vater mit anderen Linken die Revolution vorbereitet und weint, als Mao 1976 stirbt.
Maria hat ein wildes Leben, sie lebt ein paar Jahre in Los Angeles, lernt dort Pattie Smith kennen und Bob Dylan lieben, beide haben wohl Songs über sie geschrieben, Maria wirft ihr Geld mit beiden Händen zum Fenster raus und hat am Ende nichts mehr. Ihre Karriere ist zu Ende. Die Drogen haben ihre Schönheit und ihre Gesundheit zerstört, sie stirbt 2011 mit 58 Jahren, fast mittellos. Bei ihrer Beerdigung sitzt Alain Delon in der ersten Reihe und liest einen Brief von Brigitte Bardot vor, die Maria lange Jahre mit einer Art mütterlicher Liebe, Champagner und Lebensmittelpaketen versorgt hat. “Das ist doch normal”, antwortet Brigitte Bardot, als Vanessa Schneider sich dafür bei ihr bedankt.
“Ich hatte ein schönes Leben” sagt Maria, kurz bevor sie stirbt. Es ist der erste Satz in Vanessa Schneiders Buch.
“Du hast das nicht gesagt, um uns eine Freude zu machen oder dich selbst davon zu überzeugen, das war nicht deine Art. Du hast es anscheinend tief im Inneren empfunden. So lange hatte ich dich aus Gewohnheit bemitleidet, mir Sorgen gemacht um dich, mich in dein Unglück, das zu unserem geworden war, hineinziehen lassen. Du aber hast daran geglaubt. »Ich hatte ein schönes Leben.« Und es tut gut, dass du die Dinge so gesehen hast.”
Das friedliche Ende, das gleich zu Beginn den Ton angibt, tut der Leserin gut, die vor allem das Drogenelend kaum ertragen kann. Und die wütend ist auf die Männer, die ein junges Mädchen, das ihnen als leichtes Opfer erscheint, bewusst manipulieren und für ihre sexuellen Fantasien missbrauchen. Vanessa Schneider ist es gelungen, die tragische Geschichte ihrer Cousine sehr liebevoll und einfühlsam zu erzählen und sie geschickt mit ihren Erinnerungen an ihre eigene Kindheit und Familie zu verweben.
Den Film “Maria” von Jessica Palud habe ich mir auch angesehen. Er konzentriert sich (wie der Titel verheißt) allein auf Marias Geschichte, und ich hätte ihn mir vielleicht nicht so unmittelbar nach der Lektüre des Buches ansehen sollen, in dessen Stimmung ich noch gefangen war. Und, note to myself, grundsätzlich sollte ich mir das nicht spät abends antun, es dauerte die halbe Nacht, bis ich mich davon wieder so weit distanziert hatte, dass ich schlafen konnte.
In den letzten Jahren haben auch Vanessa Springora in ihrem Buch “Le consentement” (das später verfilmt wurde) und Judith Godrèche in der Serie “Icon du French Cinema” über ihre Missbrauchserfahrungen mit einem deutlich älteren Mann berichtet. Vanessa Springora war dreizehn, als der Schriftsteller Gabriel Matzneff, damals fünfzig, eine “Beziehung” mit ihr begann und über seine sexuellen Erfahrungen mit ihr ein Buch veröffentlichte, das damals von allen (nicht nur von den Männern) in den literarischen Feuilletons gefeiert wurde; die einzige Frau, die es damals wagte, öffentlich zu sagen, dass es sich um Missbrauch handelte, wurde als “reaktionär” und “schlecht gevögelt” beschimpft. Judith Godrèche ist fünfzehn, als sie ihren ersten Film mit dem 25 Jahre älteren Regisseur Benoit Jacqout dreht. Sie wird seine langjährige Geliebte.
In den siebziger Jahren hieß das alles “sexuelle Befreiung”. “Es war eine andere Zeit”, heißt es immer. Ja, es war sicher eine andere Zeit, auch Gérard Dépardieu, der hier gerade wegen Vergewaltigung und sexueller Belästigung bei Dreharbeiten zu einem Film von 2021 angeklagt ist und alles abstreitet, versteht wohl die Welt nicht mehr. In dem Film “Les Valseuses” von Betrand Blier aus dem Jahr 1974 (dt. “Die Ausgebufften”) durfte er all das noch ungestraft und vor laufender Kamera ausleben. Dass dieser “Kultfilm” über zwei Kleinganoven, die sich mit Klauen, Saufen und Ficken durchschlagen und dabei eine Menge Spaß haben, schon damals zumindest für Frauen nicht wirklich amüsant war, zeigt die heutige Reaktion von Brigitte Fossey, die in dem Film eine junge Mutter spielt, die im Zug von den beiden Ganoven sexuell belästigt wird. Sie kann sich die Szene nicht mehr ansehen, “horrible” findet sie sie noch heute, fünfzig Jahre später. Interessant ist, dass ihr Vater ihr vorwarf, in dieser Szene ein abwertendes Frauenbild zu vermitteln, anstatt sich über die sexuell aggressiven Männer zu ärgern.
“Überrascht” von all den #meetoo-Vorwürfen und vor allem nachdem Judith Godrèche letztes Jahr die beiden Filmemacher Benoît Jacquot und Jacques Doillon der Vergewaltigung Minderjähriger beschuldigte und in einer langen Anhörung unter anderem sagte: “Die Filmfamilie, in der man gemeinsam ein künstlerisches Projekt schafft, ist eine inzestuöse Familie”, wurde eine Untersuchungskommission über Gewalttaten in der Film-, Theater-, Kunst-, Mode- und Werbebranche eingesetzt, die nach der Anhörung von über 350 Personen aus der Film- und Fernsehbranche den ersten Band ihres mehrere hundert Seiten umfassenden Berichts veröffentlicht hat. „Moralische, sexistische und sexuelle Gewalt in der Kulturwelt ist systemisch, endemisch und hartnäckig“, lautet eine der Feststellungen von Sandrine Rousseau, der Vorsitzenden der Untersuchungskommission. Es werden Empfehlungen gegeben, wie Frauen und vor allem Minderjährige in Zukunft geschützt werden können. Ich empfehle: wachsam bleiben, hinsehen und immer wieder darüber sprechen. Und “Die Geschichte der Maria Schneider” lesen.
An jedem zwölften des Monats gibts 12 Bilder vom Tag. Kennense schon. Gesammelt wird das seit Jahr und Tag dankenswerterweise von Caro vom Kännchen-Blog.
Blick aus dem Fenster. Das Wetter ist weiterhin unfreundlich, aber zumindest regnet es heute morgen nicht.
Ich versuche schon eine Weile den Oatly-Drink, der mir politisch nicht mehr korrekt erscheint, gegen einen andern auszutauschen. Habe schon bestimmt zehn andere ausprobiert, keiner schmeckt mir so gut.
Frühstück.
Dann fahre ich eine halbe Stunde auf dem Heimtrainer Fahrrad, was ich so langweilig finde, dass ich es nur ertrage, wenn ich währenddessen das Internet durchscrolle. Seit dem Zelensky-Trump-Clash habe ich kritische Stimmen gesucht und glücklicherweise auch gefunden. @rongallo singt sanfte Protestlieder.
Später sitze ich am PC. Ich hätte so viel Dringendes zu tun, prokrastiniere aber (seit Tagen) und mache die unwichtigen Dinge zuerst, unter anderem beantworte ich Mails. Eine englische Mail, nicht ganz unwichtig immerhin, nimmt viel Zeit in Anspruch.
Mittagessen. Es gibt ein Schweinekotelett (geteilt), den Rest der gestrigen Kartoffeln zu Bratkartoffeln gebraten und dazu überbackener Fenchel.
Sieste. Das Prokrastinieren äußert sich dann spät abends in Panik und Einschlafstörungen, weshalb ich gestern um halb zwei Uhr morgens wieder aufgestanden bin, um noch etwas zu recherchieren. Habe insgesamt aber zu wenig geschlafen, deswegen schlafe ich während der Sieste lange.
Heute ist der Film “The last Showgirl” mit Pamela Anderson angelaufen, wir sind also in die Stadt gefahren; es war überraschend laut und lärmig und die Stadt voll mit schwarz gekleideten Herren (nur vereinzelt Damen), die sämtliche Bars und Restaurants bevölkerten und außerdem Boule spielten. Es ist Mipim in Cannes, der Marché International des Professionnels de l’immobilier, einer oder vielleicht der wichtigste internationale Immobilienkongress.
Eine Dame, vielleicht auf Suche nach Kontakt, führte mitten in der Stadt ihren Fashion-Hund aus.
“The last Showgirl”. Eine traurige Geschichte. Pamela Anderson spielt glaubwürdig und einfühlsam das alternde Showgirl Shelly, das in Las Vegas für eine Show nach dem Vorbild des französischen Moulin Rouge, mit viel nackter Haut, Strass, Pailletten und Federboas, alles gegeben hat. Nach dreißig Jahren ist die Show nicht mehr zeitgemäß, es kommen kaum noch Zuschauer und sie wird abgesetzt. Shelly muss sich damit auseinandersetzen, dass sie für andere Rollen in anderen Shows nicht mehr jung und sexy genug ist. Sie sucht den Kontakt zu ihrer Tochter. “War es das wert?” fragt diese, die in einer Pflegefamilie aufgewachsen ist, weil Shelly weiterhin in Las Vegas tanzen wollte, fassungslos, als sie die Show zum ersten Mal sieht. “Du hast diese geschmacklose Nacktshow unserem gemeinsamen Leben vorgezogen?”
Jamie Lee Curtis spielt Shellys Freundin Annette, eine ruppige, in die Jahre gekommene Kellnerin im Casino, der alte Männer noch Spielchips ins Dekolleté stecken, die aber auch schon mal früher nach Hause geschickt wird, weil jüngere Mädchen die Abendschicht übernehmen. “The last Showgirl” ist kein großer Film, zudem traurig und melancholisch, ich bereue es nicht, ihn gesehen zu haben, aber fröhlich macht er einen nicht. Pamela Anderson als Shelly hat mich am Ende zu Tränen gerührt.
Als wir aus dem Kino kommen, regnet es in Strömen, wir warten etwas, es siehr nicht so aus, als würde es bald aufhören, schließlich eilen wir durch den Regen zum Parkhaus. Davon gibt es kein Foto. Hier aber das Abendessen. Reste des Fenchels mit Reis.
Danke für Ihre Tipps, um die Doku über Pamela Anderson aus der Mediathek anzusehen! Ich werde erstmal auf Netflix “Pamela, a love story” ansehen. Dauert knapp zwei Stunden. Alles schaffe ich heute vermutlich nicht mehr.
So viel von heute und hier. Danke fürs Lesen und Schauen. Die anderen 12 von 12er finden Sie wie immer hier.