Heute Morgen, kurz nach acht Uhr, auf dem Weg zum Auto, um zum Strand zu fahren: Zwei junge Frauen wanken müde die Escaliers Continental hinauf. Sie haben Reste von dekorativer Schminke im Gesicht, eine schlenkert die Sandalen in der Hand und hat Mühe, geradeaus zu gehen. “Les plages électro?” frage ich. Sie nicken, “war mega!”, murmeln sie.
Gestern wollte ich nicht glauben, dass es 15 Stunden Musik am Tag gibt, aber nach den Konzerten, die von 14 Uhr bis 0.30 Uhr gehen, gibt es noch “After-Konzerte” bis 5 Uhr morgens! Übrigens sind alle drei Tage ausverkauft, und auch der Wettergott meint es gut mit den Festivalbesuchern: Das für heute Abend angekündigte Gewitter hat sich nach ein paar Windböen wieder verzogen.
Ich finde den letzten Parkplatz, aber dann ist fast kein Strand am Strand! Das heute türkisblau verwaschene Meer (leider keine Fotos, wenn ich alleine an den Strand gehe, nehme ich kein Smartphone mit) wirft für mediterrane Verhältnisse sehr hohe und kräftige Wellen, die schäumend und raumgreifend über den Sand laufen. Es gibt heute quasi nur eine Reihe, niemand will vorne liegen, alle drücken sich an die Begrenzungsmauer. Das Publikum ist heute auch ein anderes: kaum Senioren, dafür Familien mit Kindern. Als ich mein Quallenschutz-T-Shirt anziehe und mit Flossen bewaffnet losstapfe, rät mir die junge Mutter, deren Sohn völlig außer Rand und Band in den Wellen herumhüpft, und die ich nach der Quallensituation befragt habe (keine, sagt sie), vorsichtig zu sein. Es würde gleich sehr steil werden. Ich danke ihr, es befremdet mich aber auch. Neulich im Bus ist ein Mann für mich aufgestanden. Ein Mann, der schätzungsweise nur unwesentlich jünger war als ich. Da habe ich noch kategorisch abgelehnt, aber so weit sind wir schon! Seither habe ich im Bus einen Konflikt, für wen stehe ich noch auf? Oder kann ich ohne schlechtes Gewissen sitzen bleiben, weil die anderen in mir schon eine bedürftige Seniorin sehen? Einmal habe ich einer (in meinen Augen) älteren Frau, die zumindest älter war als ich, meinen Platz angeboten, aber auch sie lehnte ab. Vielleicht war sie auch gekränkt?
Ich gehe also vorsichtig ins Wasser, warte lange, bis ein paar weniger hohe Wellen kommen, und ja, es geht sehr steil ins Meer. Rein ist eher kein Problem, aber ich denke, dass ich da später nicht mehr rauskomme. Ich schwimme weit hinaus, weiter draußen sind die Wellen weniger stark und von dort schwimme ich in die nächste Bucht, weil ich sehe, dass die Wellen sich dort weniger heftig brechen. Allerdings ist das Meer hier sehr schmutzig, es ist als würde man durch Spülwasser schwimmen. Ich lasse mich von den Wellen an den Strand tragen und lande beinahe sanft, von dort laufe ich zurück.
Heute Nachmittag besuche ich eine Ausstellung zur Geschichte der “Libération”, der Befreiung Südfrankreichs von der Nazi-Herrschaft. Zum 80. Mal jährt sich das “Débarquement de Provence”, die Landung der Alliierten im Süden, die sogenannte Operation Dragoon, die am 15. August 1944 begann. Die Städte, Gemeinden und Dörfer im Süden wurden nach und nach befreit und feiern jeweils “ihren” Befreiungstag, für Cannes ist es der 24. August. Ich erwartete eine Fotoausstellung, immerhin wurde die Ausstellung mit einem Foto von amerikanischen Soldaten auf einem Panzer in der Rue d’Antibes beworben, aber ich fand nur etwa 80 Schaufensterpuppen in Soldatenuniformen verschiedener Länder und Einheiten. Dazwischen, neben Waffen und Fallschirmen, auch kuriose Objekte wie etwa eine Maschine zum Kodieren oder Dekodieren von Texten (ich habe es nicht ganz verstanden). Alle Uniformen sind Originale, einschließlich der Gürtel, Abzeichen, Schuhe usw. und wurden von einem einzigen Sammler zur Verfügung gestellt. Auch deutsche Soldatenuniformen und Uniformen der Hitlerjugend sind an blonden, blauäugigen Kinderpuppen zu sehen. Etwas schockiert bin ich, als ich dazwischen eine leidend aussehende Puppe in der KZ-Häftlingskleidung eines politischen Häftlings (roter Winkel) sehe. Zum ersten Mal sehe ich diese Kleidung direkt, ohne trennendes Museumsglas. Es ist ein grob gewebter Stoff, der mich an eine Wolldecke erinnert, fleckig und abgetragen, ausgefranst, an manchen Stellen geflickt.
Ob mir die Ausstellung gefällt, fragt mich eine der aufsichtsführenden Damen in diesem Moment. Ich bin schockiert von diesem “Ça vous plait?” Gefallen sei nicht das richtige Wort, antworte ich vorsichtig, aber ich sei beeindruckt von dieser Sammlung. Ich glaube dieses “gefällt es dir?” wird in Frankreich anders verstanden, als ich es empfinde. “Ça t’a plu?” fragt mich auch Monsieur, selbst nach den dramatischsten Filmen, bei denen ich zutiefst erschüttert aus dem Kino gehe. “Hat’s dir gefallen?” Jedes Mal denke ich, was ist das denn für eine gefühllose Frage. Aber vielleicht kann man im Französischen darauf einfach “ja” sagen, und in einem weiteren Satz die Erschütterung oder das Berührtsein ausdrücken. Es gibt noch viele Feinheiten zu lernen.
Als ich die Ausstellung wieder verlasse, habe ich das Bedürfnis ein bisschen Leben zu sehen. Die Musik von den Konzerten der Électro Plages wummert die Croisette entlang – ich gehe aber nicht so weit, sondern bleibe bei den Autos der Superreichen vor dem Carlton hängen. Der weiße Bugatti aus Saudi Arabien hat das Sonderkennzeichen V1! Ich versuchte zu googeln, wem es gehört (vermutlich dem König von Saudi Arabien persönlich), finde aber nur die Preise, für die es verkauft oder versteigert wird – es geht um das Nummernschild! Millionen Dollar für ein Nummernschild! Die kleinstmögliche Nummer muss es sein! Nicht nur das Auto kostet Millionen, sondern auch das Nummernschild! OMG. Und es ist nur ein Stück Blech, nicht einmal mit Diamanten besetzt.
Übrigens: Das teuerste französische Nummernschild kostete 15,90 €. Es wurde extra für die Firma angefertigt, bei der man Nummernschilder bestellen kann.
Hier ein paar nachgereichte Fotos vom 12. und ein paar vom 16.
Blick aus dem geöffneten Fenster, in der Hoffnung auf ein wenig Luftaustausch am frühen Morgen.
Frühstück im Bett. Ich bin schon angezogen, weil ich die Paketbotin erwarte, die manchmal schon um kurz nach Acht da ist. Sie kam aber nicht, das wissen Sie schon.
Wartezeit totschlagen mit Fensterputzen. Zumindest dort, wo die Sonne noch nicht scheint.
Mittagessen. Es gibt sehr feine Ravioli mit Daube gefüllt, das ist ein Rindfleischeintopf, die lagen noch im Tiefkühlfach, dazu fertige Tomatensoße aus dem Glas. Schnell und lecker. Dazu Wasser. Nachtisch: Eis.
Sieste. Die Fenster fest geschlossen. Es ist ätzend heiß, aber von draußen kommt nur noch heißere Luft rein. Man lebt im Sommer so in einem steten Halbdunkel und schleppt den Ventilator mit sich herum.
Pflanzen gießen (Blumen gibt es keine mehr), ich hoffe, wenigstens einen Rosmarin zu retten.
Später sehe ich einen Film von Louis Malle aus den Siebziger Jahren, den ich noch nicht kenne: Lacombe Lucien. Die Geschichte eines Bauernsohns, der zur Resistance will, aber als “zu jung” abgelehnt wird, dann zufällig in die Hände der deutschen Polizei gerät, wo er zunächst unter Alkoholeinfluss Mitglieder der Resistance verrät, und den ihm angebotenen Posten in der deutschen Polizei stolz annimmt und die damit verbundene Macht genießt. Es wird kompliziert, als er sich in eine junge Jüdin verliebt, die mit ihrem Vater und der Großmutter in dem Dorf untergetaucht sind. Der Film ist auf arte Replay noch bis zum 10. November 2024 zu sehen. (hier der Link zur deutschen Version).
Ein Gewitter kündigt sich an, aber es wird kein Tropfen fallen an diesem Abend!
Das war es vom 12. August 2024.
Heute ist der Sechzehnte, es ist Freitag, ich war kurz in der Innenstadt, wollte eigentlich Fisch auf dem Markt kaufen und kam dann aber überraschend nur mit einem Tischläufer von Fragonard wieder nach Hause (bizarre Spontankäufe, das kann ich mir auch nur durch die Hitze erklären), den ich morgen früh wieder zurückbringen werde, er gefällt mir leider nicht auf dem Tisch und mit den Stühlen. Zu bunt, sieht nach Kindergeburtstag aus.
Der Markt Forville ist derzeit eingepackt wie ein Kunstwerk von Christo, das finde ich noch ganz spannend, vor allem auch die alten Ansichten des Marktes, die man dort angebracht hat.
Er wird komplett renoviert und auf dem Dach, seinerzeit ein Parkplatz, soll eine begrünte Terrasse errichtet werden. Die Händler findet man nun in einem Zelt an den renovierten Allées de la Liberté, also laufe ich dorthin. Die Luft in dem Zelt ist schrecklich, es gibt auch schon keinen Fisch mehr, ich fliehe und lasse etwas Wasser bei einem der kleinen Springbrunnenbecken über meine Füße laufen.
Es gibt so tolle miroir d’eau, wörtlich Wasserspiegel, meint Wasserspiele, etwa in Bordeaux und in Nizza, und es ist eine Freude für Kleine und Große, sich im Sommer dort zu erfrischen, in Cannes haben sie nur so halbherzige Mini-Installationen hingekriegt: um den Musikpavillon spucken ein paar verlorene Fontänen eruptiv etwas Wasser, die niedrigen rosa-violett-blauen Wasserspiele erinnern mich leider an Quallen, und sie sind vielleicht für Kleinkinder nett, ganz blöd finde ich aber zwei lange schmale Wasserbecken, in denen eigentlich nichts passiert, außer dass man sich darin den Fuß brechen kann, wenn man nicht aufpasst und hineinstolpert.
“Baden verboten” steht dann auch noch auf dem Täfelchen. Super.
So viel aus dem heißen Sommer-Alltag aus Cannes. Die Musik von den heute beginnenden dreitägigen Plages Électro wummert schon heftig durch die Luft. Die größte Strandparty Frankreichs, 60.000 Leute werden erwartet, 15 Stunden Musik non stop (täglich?) heißt es. Wir haben auf jeden Fall alle etwas davon. Nun gut. Genug gemeckert.
Letzten Freitag bin ich in aller Frühe runter gefahren, ich brachte den jungen Mann zum Zug und wollte ein Paket abholen. Das Paket war aber nicht in der Postfiliale, die auf dem Zettel angegeben war. Man konnte es aufgrund der Trackingnummer zwar in einem Verteilerzentrum orten, aber mehr erfahre ich nicht. “Ils font n’importe quoi les facteurs!” schimpft die Postdame und füllt freundlicherweise für mich einen Reklamations – bzw Nachforschungsauftrag aus. Ich erfahre, dass die “Mist machenden” Paket- und Briefboten (im Sommer gerne Aushilfskräfte) und die stationären Postfilialen zwei unterschiedliche Unternehmen sind und nicht miteinander kommunizieren. Man kann also nicht im Brief- oder Paketverteilerzentrum anrufen und mal bei einem Kollegen nachfragen. Ist nämlich kein Kollege, und es gibt kein Telefon. Alles nur noch per Mail. Na danke schön. Ich bin noch nicht zuhause, da erhalte ich die automatische Nachricht, dass nur der Absender des Pakets einen Nachforschungsauftrag stellen kann, und ich möchte mich bitte an ihn wenden. Dies ist eine automatisch erstellte Nachricht, bitte antworten Sie nicht auf diese Mail.
Wir hatten das schon einmal, das verlorene Paket mit einem Smartphone ist nie wieder aufgetaucht, und ich sehe schwarz für dieses Paket, in dem sich ein ungerahmtes Bild meiner israelischen Lieblingskünstlerin befindet. Ja, man kann vielleicht finanziell entschädigt werden, aber ein einzigartiges Kunstwerk ist im Gegensatz zu einem Telefon nicht mit Geld aufzuwiegen. Es wird ein doppelter Verlust sein, für die Künstlerin und für mich.
Dann besuche ich, einer Eingebung folgend, “meine” Postfiliale, eigentlich eine klassische Bar-Tabac, in der man Zigaretten und Glückslose kaufen, einen Kaffee, ein Bier oder ein Glas Wein trinken kann. Die Kundschaft, die dort den ganzen Tag rumhängt, gefällt mir nicht so sehr, aber das Pächterehepaar ist sehr nett. Als die Postfiliale im Viertel geschlossen wurde, haben sie dort eine “Poststelle” eingerichtet, und auch wenn sie dort nicht alle Postdienstleistungen anbieten, ist die kleine Postecke in der Bar-Tabac eine hundertprozentige Verbesserung für das Viertel, viel bessere Öffnungszeiten, alles geht schneller und die Freundlichkeit der Dame ist jedes Mal eine Freude, auch wenn es nicht schwer war, die Freundlichkeit des ehemaligen Postangestellten, so unwillig und schlecht gelaunt wie er war, zu überbieten. Die Dame hat auch kein Paket für mich, ist aber hilfsbereit und schickt mich zur Hauptfiliale in der Innenstadt, “dahin verirren sich manchmal Pakete”.
So weit bin ich letzten Samstag gekommen, habe den Text mühsam in mein Handy getippt, denn ich hatte den Laptop nicht mit nach Cannes genommen, weil ich dachte, dass ich am Samstag natürlich gleich wieder in die Berge fahren würde. Nix wars. Eine Woche später bin ich immer noch im unerträglich heißen Cannes, das von einer neuen Canicule heimgesucht wird, der wohl größten Hitzewelle dieses Sommers, ich weiß, bei Ihnen ist es auch heiß. Aber hier ist es so heiß, wie ich es schon lange nicht mehr erlebt habe. Ich erinnere mich an meine Reise nach Burkina Faso, wo ich auch nur erschöpft herumsaß und der Schweiß in kleinen Bächen an mir herunterlief. Man duschte oder wusch sich (im Dorf bekamen wir zu dritt einen Eimer Wasser), fühlte sich für eine Sekunde erfrischt und weniger klebrig, und schon war der nasse, feuchte Körper wieder im selben Zustand. So ist es jetzt auch hier. Im finnischen Blog las ich neulich (in einem Reise-Blogeintrag vom letzten Jahr), dass Frau Mäusedoktor gerne in der 38 Grad Hitze Griechenlands “gebadet” habe, so geht es einem wahrscheinlich, wenn man das ganze Jahr in Finnland lebt und sich nach Wärme und Sonne sehnt (ich erinnere mich an meinen ersten Sommer in den Bergen Südfrankreichs, da konnte ich von Hitze und Sonne auch nicht genug bekommen), ich bade ja in gewisser Weise auch in der Hitze, nur in der Form, dass das Wasser in kleinen Bächen am Körper herunterläuft. Siehe oben. Das alles noch dazu in Erwartung des 15. August, dem Feiertag, an dem nun wirklich alle im Süden und am Strand sind, und kurz vor der Eröffnung der dröhnenden Electro-Plages-Tage (und -Nächte), besser geht es kaum. Erschöpft und lustlos tippe ich noch ein paar Stichworte ein, dann lasse ich es.
Nur am Samstag und am Sonntag, an denen ja kein Paket geliefert werden sollte, bin ich ganz früh morgens schwimmen gegangen: das Meer war sauber, klar, ohne Wellen und fast ohne Quallen, dafür schwammen große Fische um meine Füßen herum, nur warm war es, die 30 Grad Wassertemperatur, die gerade durchs Internet geistern sind vielleicht nicht so weit entfernt; so früh morgens ist man zwar in der Hochsaison auch nicht mehr alleine, es wurden schon Stühle, Handtücher und Sonnenschirme in der ersten Reihe installiert, weiter hinten liegen ein paar jüngere Leute, die wohl die Nacht dort verbracht haben, schlafend herum, aber alle unterhalten sich noch leise und man sagt sich sogar hin und wieder lächelnd “Guten Tag” wenn man im Wasser aneinander vorbeischwimmt. ,
An den anderen Tagen versagte ich mir das Schwimmen und erwartete brav zuhause den bzw. die (in der Regel frühe) Paketbotin, und dann noch den normalen Briefträger gegen 13 Uhr, denn da glaubte ich noch, was der freundliche Postbeamte der Hauptpostfiliale mir gesagt hatte, nämlich dass die Reklamation vom Freitag bewirke, dass das Paket am Montag oder Dienstag geliefert würde.
Den Rest des Wochenendes verbrachte ich wie ein lichtscheuer Vampir in der Wohnung und zog beim kleinsten Sonnenstrahl eilig die Fensterläden zu. Raus wollte ich auf keinen Fall, auch wenn ich grundsätzlich gerne braun werde, aber ich kann die Sonne im Juli und August einfach nicht mehr ertragen.
Ich beschäftige mich damit, den nachmittags zwar heißen, aber immerhin schattigen Hof zu säubern, der seit dem letzten Sahara-Regen braun und sandig ist. Wenig bekleidet und barfüßig mit viel Wasser schrubben und putzen ist gar nicht so unangenehm. Am Sonntag putze ich dann in aller Frühe die Fenster. Alle Arbeiten mit Wasser gehen. Nachmittags nehme ich mich nochmal dem Hof an und kümmere mich um die Pflanzen, die bislang überlebt haben. Dazwischen dusche ich (an manchen Tagen konnte ich es nicht mehr zählen, wie oft ich mich unter die lauwarme Dusche gestellt habe, lauwarm, weil auch das kalte Wasser warm geworden ist) döse oder ich sehe vom Ventilator umweht erfrischende Olympia-Beiträge (Synchronschwimmen, Beach Volleyball). Ich kriege so dann doch noch eine ganze Menge von Olympia mit, freue mich über die gute Stimmung, die schönen Bilder, fiebere mit der französischen Frauen-Basketballmannschaft, die beinahe Gold geholt hätte, und bin auch ein bisschen gerührt, zumindest vom Anfang der Abschlussveranstaltung. Ich bin ein großer Fan von Zaho de Sagazan.
Ich schaffe es dann nicht bis zum Schluss, 31 Grad indoor noch um 23 Uhr, machen den Kopf dumpf und den Körper müde, und ich muss daher alles anderntags in den Medien nachlesen. Da erfahre ich dann auch, dass Mireille Mathieu, der alternde Spatz aus Avignon, gerade im Süden Ferien macht, und natürlich enttäuscht war, dass man Celine Dion und nicht sie für die “Hymne an die Liebe” auf dem Eiffelturm gewählt hatte, sie hat das Lied noch in ihrem Repertoire und schmetterte es der Interviewerin ungefragt vor.
Jetzt, wo alles ohne Attentat über die Bühne gegangen ist, kann ich mich auch freuen. Ich gebe zu, ich hatte eine Heidenangst, schon als bei den endlosen olympischen Fackelübergaben immer ein Tross von zwar sportlich aussehenden und gekleideten (verkleideten) Sondereinsatzpolizisten mitrannte, die man an ihren ernsten, unbewegten Gesichtern (während alle anderen lachten und strahlten) und dem Knopf im Ohr erkennen konnte; und als dann kurz vor der Eröffnung in ganz Frankreich Anschläge auf den Bahnverkehr verübt wurden, mon Dieu, da musste ich an die Olympischen Spiele 1972 in München denken, an die Spiele, die fröhlich und heiter sein sollten, offen für alle, mit einer leichten Architektur und einem freundlichen Design. Wir waren damals dort (ich als Grundschülerin). Und dann kam das Attentat. Wie konnte man damals eigentlich “einfach” weitermachen? Hier ein (zwei Jahre alter) Beitrag vom Deutschlandfunk, falls Sie das noch einmal nachlesen möchten.
Ich hatte sehr große Angst vor Anschlägen und Chaos, ich hatte auch Angst, dass nichts klappen würde, der Nahverkehr zusammenbricht und dass alles miserabel organisiert wäre und ich mich schämen würde – Frankreich eben. Und dann hat doch alles geklappt, alle waren begeistert und sogar die Franzosen, eben noch schlecht gelaunte Meckerer, die Macron ausbuhten, jetzt jubelten und feierten sie, waren stolz auf die Athleten und Athletinnen und ihre schöne Stadt und was dort alles vor und in sagenhafter Kulisse stattfinden konnte. Es klappt ja dann doch alles irgendwie. Niemand muss sich schämen. Frankreich eben.
“Wann kommt denn jetzt dein Paket?”, fragt mich montagsnachmittags unwirsch Monsieur am Telefon der Freundin, die ich als persönliche Nachrichtenüberbringerin zu ihm schicke. Wir haben in den Bergen kein Telefon, wenn ich mit dem Handy nicht zugegen bin, ist der Mann nicht erreichbar. “Was weiß denn ich!” gebe ich ebenso unwirsch zurück, “ich habe mir das nicht ausgedacht, falls du das glaubst!” Die Hitze macht mich schnell aggressiv.
Ich mache den ganzen Tag Fotos für “12 von 12”, an dem ich dann nicht teilnehme, weil ich außerstande bin, das alles auf dem Smartphone zu regeln. Vielleicht liefere ich die Fotos nach.
Am Dienstagabend kommt auch noch der Gatte aus den Bergen, Handwerker haben sich überraschend für einen Tag vor dem 15. August in Cannes angemeldet, wo gibts denn sowas. Besser, man ist selbst da. Er kommt mit wenig Gepäck, aber immerhin bringt er den Topf Basilikum und meinen Laptop mit, hurra! Gestern wurde tatsächlich ein Gerüst aufgestellt und der Bürgersteig vor dem Haus aufgerissen. Heute ist entgegen der vollmundigen Ankündigung natürlich niemand gekommen, wir haben Feiertag, klar. Außerdem gab es heute in aller Frühe ein Gewitter. Blitz und Donner satt, viel Wind und ordentlich Regen. Da kommen die Handwerker normalerweise auch nicht. Ich reiße überall die Fenster auf und versuche die Wohnung zu lüften, ich japse wie ein Fisch auf dem Trockenen nach frischer, kühler Luft, mein Mann schließt sofort alle Fenster hinter mir, für das großzügige deutsche Lüften, abqualifiziert als krank machender Durchzug, hat man in Frankreich einfach kein Verständnis. Immerhin schaffe ich es, unsere Wohnung auf 29 Grad herunterzukühlen, zwei Stunden später ist es draußen schon wieder so heiß wie vor dem Gewitter.
Das Paket ist übrigens nicht gekommen. Ich war nochmal auf der Post und deute an, dass es vielleicht damit zu tun haben könnte, dass das Paket aus Israel käme, und man uns einfach ein bisschen ärgern wolle. Es sei nicht unmöglich, seufzt der nette Postbeamte. Ich schlucke. Das will man ja doch nicht wirklich hören. Seine Mutter lebe in Tel Aviv, aber er würde derzeit nichts nach Israel senden, vertraut er mir an. Ich habe die Künstlerfreundin unterstützen wollen, sage ich. Ja, er versteht das. Aber es ist kompliziert. Er breitet hilflos die Arme aus.
Zuhause schreibe ich jetzt den Service Client an, anscheinend die übergeordnete Instanz, die mit den stationären Postfilialen UND den Paketboten kommunizieren kann. Mal sehen, was passiert.
Heute Nachmittag waren wir im Kino, dass mir das nicht schon früher eingefallen ist, um mich für zwei Stunden abzukühlen, kann ich mir nur mit zu viel Hitze erklären. Da arbeitet das Gehirn einfach auf Sparflamme. Im stark klimatisierten Saal sahen wir ein Melodram, Le roman de Jim, nach einem Roman von Pierric Bailly – die Geschichte von Aymeric, einem sanften und melancholischen jungen Mann, der nach großem Liebeskummer (ich überspringe ein paar Details) eine ehemalige Arbeitskollegin wiedertrifft, die wiederum von einem Kollegen schwanger ist, der sich aber nicht von seiner Familie trennen will. Das alte Lied. Aymeric ist bei Jims Geburt dabei und wird sein Ersatzvater, sie leben zu dritt ein einfaches, idyllisches Leben im Jura, bis der leibliche Vater des Jungen nach sieben Jahren überraschend bei ihnen auftaucht. Überzeugender und berührender Film über Vaterschaft. Toller Soundtrack. Aymeric wird von Karim Leklou großartig gespielt.
Als wir aus dem Kino kamen, liefen wir der Prozession anlässlich Marias Himmelfahrt in die Arme, die wohl einmal quer durch die Innenstadt Cannes’ prozessionierte – auch wenn ich vor kurzem selbst singend an der Prozession für die Sainte Anne teilgenommen habe, kommt mir diese hier inmitten all der verständnislos starrenden Touristen sehr bizzar vor.
Und eben gab es noch ein bollerndes Feuerwerk, wie immer am 15. August. Ich habe nichts davon gesehen, nur die Donnerschläge gehört. Gleich haben wir ihn geschafft, diesen lauten und heißen Tag!
Das über Stunden gehende monotone Fiepen am späten Abend, das ich neulich nicht einordnen konnte, stammt von einer Zwergohreule! Es reicht heutzutage, so etwas Unqualifiziertes wie “montones Fiepsen nachts Vogel” bei einer Suchmaschine einzugeben und man bekommt ein exaktes Ergebnis inklusive Rufton: es ist die niedliche Zwergohreule, von der ich nicht mal wusste, dass sie existiert. Ich verlinke Ihnen mal hier den Ruf (inklusive Hundebellen). Sie ist so klein, dass sie in eine Hand passt. Hier ein kleines Filmchen über eine Zwergohreule, die in einer Greifvogelstation aufgepäppelt wurde, nachdem sie gegen eine Fensterscheibe geflogen war und ein Schädel-Hirn-Trauma erlitten hatte. Am Ende ist sie schon wieder ganz lebendig und soo süß! Sie ist die zweitkleinste Eule und steht auf der Roten Liste der gefährdeten Tierarten. Und im Wäldchen unterhalb unseres Hauses sitzt eine und ruft sich einen Freund oder eine Freundin herbei. Dass es ein bisschen monoton ist und kein Ende nehmen will, nehme ich jetzt hin. Es gibt eben nicht mehr so viele von ihnen, da kann es schon mal dauern, bis man sich gefunden hat.
Wir sind immer noch in den Bergen, tagsüber ist es immer noch heiß (30 Grad auf 1300 Metern!), auch wenn die Nächte etwas kühler werden. Aber jetzt im August sind viele Leute im Dorf und auch in den anderen Dörfern sind die Urlauber angekommen. Vor einer Woche haben sich noch alle Ladenbesitzer und Gastwirte über die wenigen Leute beschwert, jetzt sind sie da, und wenn ich wie früher um zehn Uhr einkaufen gehe, bekomme ich nichts mehr. Die Schlangen vor dem Gemüsehändler, dem Bäcker und dem Metzger sind noch länger geworden, und wenn man dann beim Bäcker oder Metzger drin ist, sieht man hilflos zu, wie alles, was man haben wollte, weggekauft wird, bevor man an der Reihe ist. Ich hatte das Brot telefonisch bestellt, aber der Anrufbeantworter funktioniert nicht mehr, meine Bestellung ist im Nirgendwo gelandet und jetzt stand ich da mit Gästen und dem jungen Mann, der morgens schon vier Scheiben Brot und ein Müsli isst, und hatte kein Brot. Die Logistik, wer hier wann geöffnet hat und was es wann und wo gibt ist mühsam: Gemüse dienstags, donnerstags und samstags (wie übrigens auch die Post), Brot in der Cooperative nur mittwochs, der Lebensmittelladen wird nur donnerstags beliefert, wenn die frische Milch dienstags schon ausverkauft ist, gibt es vor Donnerstag keine neue, und ich, die ich nur einmal in der Woche einkaufen wollte, bin bestimmt drei und viermal im Dorf, weil ich Nachschub brauche, denn entweder kommen Gäste oder wir sind eingeladen, und ich soll ein Dessert mitbringen; man bietet hier immer an, das Dessert mitzubringen, und es wird in der Regel gern angenommen. Ich mache gerne Nachtisch, das stört mich nicht weiter. Aber ich musste dafür runterfahren, um im Lebensmittelladen auf Knien die letzten zwei Packungen Löffelbiskuits ganz hinten und unten hervorzuklauben, und um Kakao und Mascarpone für das Tiramisu zu kaufen. Das ich im übrigen gerade gemacht habe. Eine Tarte mit den überreifen Pfirsichen habe ich vorhin auch schon gebacken. Es war so warm in der Küche, dass der Teig nicht fest werden wollte, also legte ich ihn kurz ins Tiefkühlfach, dort wurde er so hart, dass er brach, kaum draußen, war er auch schon wieder zu weich. Ich schaffte es dennoch so etwas wie einen großes Plunder zusammenzubasteln. “Rustikal” ist das Wort, mit dem derart handwerklich grob aussehenden Tartes im Internet bezeichnet werden. Hauptsache, sie sind lecker und das war sie! Die Schlagsahne, die ich dafür schlagen wollte, wurde Butter. Sagte ich schon, dass es heiß ist?
Gerade ploppte in meinem Handy der Wetterbericht für morgen auf: Es bleibt bei 30 Grad! In den Bergen!
Awww, die kleine Zwergohreule scheint sich gerade mit einem Uhu zu unterhalten. Der macht húhu, Betonung auf der ersten Silbe. Weiß ich auch nur, weil ich heute die verschiedenen Eulen und Käuzchen durchgeschaut und durchgehört habe. Und das alles immer zweisprachig, die Zwergohreule heißt Petit-duc, der Uhu Grand-duc oder Hibou Grand-duc, falls Sie das mal brauchen sollten. Immer zu Diensten. Ich bin keine Biologin, für mich ist die Eulenfamilie noch etwas unübersichtlich, aber die beiden habe ich erkannt! Djü … Húhu … Djü … Húhu
Sie kennen diese Überschrift schon, was ich eigentlich den ganzen Tag mache, kurz WmdedgT, fragt Frau Brüllen seit Jahr und Tag verlässlich am 5. jeden Monats. Tagebuchbloggen ist angesagt.
Es ist August. Wir sind noch in den Bergen und haben sozusagen Urlaub (sagen wir mal so, ich empfinde das nicht so, wenn Besuch da ist). Der eine (nicht mehr ganz so) junge Mann (zumindest nicht mehr jung an Jahren, aber sozial noch nicht ganz ausgereift), der noch eine Woche bleibt, ist heute früh zu einer großen Wanderung aufgebrochen. Wir haben das gestern vorbereitet, und als ich heute Morgen aufwachte, war er schon weg. Ich muss zugeben, es ist eine gewisse Erleichterung, dass ich in Ruhe meinen Kaffee trinken kann, ohne wieder interagieren zu müssen, ich mag es, wenn der Tag ruhig beginnt.
Monsieur kennt meine Morgenmuffeligkeit und hat gelernt, damit umzugehen, auch wenn er, kaum wach, schon einsatzbereit ist. Nach meinem Kaffee unterhalten wir uns ein wenig über ein unangenehmes Thema, das uns seit einiger Zeit belastet. Monsieur will den Brief, den wir in den letzten Tagen formuliert haben, deutlich aggressiver gestalten, ich seufze, aber ich fürchte, er hat Recht. Aber jetzt geht er erst einmal etwas abschleifen oder absägen, ich weiß es nicht, aber es wird laut.
Erstmal beantworte ich in Ruhe zwei Mails, über die ich nachdenken musste. Auch das geht besser, wenn niemand um mich herumwuselt und meine Aufmerksamkeit einfordert.
Dann durchquere ich das Dorf, das am Montagmorgen wie ausgestorben ist, was mich nicht stört. Ich bin auf dem Weg zur Mairie. In Frankreich ist es mittlerweile Pflicht, seinen Kompost zu sammeln, nächste Woche ist eine Versammlung, bei der uns jemand von der örtlichen Mülldeponie eine Kompostschulung anbietet und man könnte auch kostenlos einen Kompostbehälter bekommen. Ich will mich für den Kurs anmelden, obwohl ich eigentlich weiß, wie man kompostiert, wir haben einen Kompost in unserem Vorgarten in Cannes, aber ich will keinen Behälter, wir sind viel zu selten hier, als dass er jemals voll werden könnte. Aber ich bin bereit, meine Küchenabfälle in einen Kompost bei den Nachbarn zu geben, so wie ich das früher mit dem Hühnerfutter gemacht habe. Zwei der vier Hühner sind inzwischen von Hunden getötet worden. Das Experiment “Hühner im Dorf” hat damit ein jähes Ende gefunden. Die beiden anderen Hühner wurden an die Schäfersleute abgegeben, die etwas außerhalb wohnen.
Die Sekretärin der Mairie notiert, dass ich keinen Behälter will, bittet mich aber trotzdem, mich bei der Mülldeponie anzumelden. Hier oben bin ich bei der Mülldeponie als “Kundin” eingeschrieben, anders als unten in Cannes, wo ich eine Erlaubnis des Gatten brauche, wenn ich Müll wegbringen will, Sie erinnern sich. Aber die Seite der Mülldeponie funktioniert nur mit den Daten, die ich vor Jahren eingegeben habe, und die muss ich jetzt wiederholen, und anscheinend habe ich die Adresse vor Jahren anders eingegeben, keine Ahnung, jedenfalls blockiert die Seite jetzt und verlangt einen neuen Wohnsitznachweis. Die können mich mal. Dann eben nicht. Ich werde einfach so zur Versammlung gehen, ich will sowieso keinen Container.
Der junge Mann schickt uns von weit oben Fotos und Nachrichten (erstaunlicherweise funktioniert das Telefonnetz auf über zweitausend Metern und mitten im Nirgendwo besser als hier im Dorf) auf der Suche nach dem spärlich markierten Weg. Wir machen Ferndiagnosen, ich war noch nie da oben, Monsieur zuletzt vor zwanzig Jahren.
Es gehen einige Mails hin und her, die das zukünftige deutsche Filmfestival (nicht nur Defa) im September betreffen, das wir mit der neuen Präsidentin des Kinoclubs auf die Beine stellen wollen. Es ist alles etwas holprig in diesem Jahr, aber wir sind guter Dinge, dass es klappt.
Und schon hat Monsieur Hunger, es ist ja auch schon Viertel nach zwölf. Ich mache ein schnelles Mittagessen (es gibt Bavette, das ist ein Stück langfaseriges Rindfleisch, Nudeln, Käse und zum Nachtisch überreife Pfirsiche).
Der junge Mann verkündet, dass er nicht mehr weiterwandern wird, weil die Wolken zu dicht werden, er Angst vor Gewitter hat und bald zurück sein wird. Nun gut. Gewitter im Gebirge sind nicht zu unterschätzen.
Ich organisiere mir Termine für Freitag in Cannes, wo ich dringend ein Paket abholen muss, bevor es zurückgeschickt wird, weil es sonst niemand für mich abholen kann. Gleichzeitig bringe ich den jungen Mann zum Zug und fahre am nächsten Tag zurück.
Kurz vor vierzehn Uhr mache ich eine Sieste. Monsieur hat sich gleich nach dem Mittagessen hingelegt. Ich schlafe erstaunlich lange. Gegen 15 Uhr wache ich wieder auf, lese etwas im Internet. Es klopft. Die Nachbarn von rechts sind gekommen und laden uns für heute Abend zum Apéro ein.
Man hat mir einen Film geschickt (den ich vorab für das Filmfestival ansehen soll), ich bin erstaunt, dass ich ihn ohne Probleme herunterladen kann und bin hin- und hergerissen, ob ich den Film anschauen, Papiere sortieren (dringend nötig, ich habe extra vier große Ordner mitgebracht, weil ich dachte, ich hätte Zeit dafür) oder lieber aus den überreifen Pfirsichen einen Kuchen backen soll. Ich bin vernünftig und ordne Papiere! Bis wir zum Apéro gehen.
Der junge Mann kommt vom Wandern und hat Erzählbedarf. Ich bin aber so konzentriert in den Papieren, dass ich nur wenig zuhören kann. Ich will das fertig haben, bevor wir zum Apéro gehen.
Der wird dann sehr nett und wir plaudern bis 20 Uhr draußen im Garten, erstmals in diesem Jahr wurde es so frisch, dass die Nachbarin zwischendurch Schals aus dem Haus holte, die wir uns über die Schultern legten. Später zuhause war ich so ausgefroren, dass ich mir ein Wolljäckchen anzog!
Dann mache ich schnelles Essen, eine große Schüssel Nudeln mit Tomatensoße für den ausgehungerten Wanderer (und Monsieur), ich esse Reste von gestern. Danach gibts wieder Käse und Pfirsiche. Tisch abräumen, Spülmaschine einräumen, anstellen, Küche saubermachen, Tisch abwischen. Beide Herren ziehen sich schon zurück. Und ich schreibe hier. Draußen fiept irgendein Tier monoton, es klingt aber nicht so richtig nach Vogel. Ich will es trotzdem mit der App versuchen, aber ich habe sie neulich gelöscht, weil ich nicht damit zurecht kam (zu viel Lärm in Cannes).
Die Spülmaschine ist fertig (Kurzprogramm 36 Minuten reicht im Normalfall immer). Die werde ich noch ausräumen, dann schaue ich den Film an!
So war mein Tag.
Danke fürs Lesen! Die anderen TagebuchbloggerInnen finden Sie zuverlässig hier.
Das Internet ist extrem schwach, ich habe zwei Finger meiner rechten Hand in heißes Frittieröl getaucht und war danach nicht in der Lage, längere Texte zu tippen. Das Wenige, was ging, wurde in eine Übersetzung investiert – dieses “Ich habe ein Problem mit meinem neuen Teichfilter, es ist ein deutsches Produkt, kannst du mal eben die Installationsanleitung übersetzen? Es ist nicht viel” – es ist nie viel. Es sind immer nur fünf Seiten voller Fachbegriffe, die ich noch nie gehört habe und deren französische Entsprechung ich nur dank Übersetzungsprogrammen (danke künstliche Intelligenz!) im Internet finde. Toll ist auch immer, dass die “Hinweise” und “Achtung” nach der jeweiligen Anweisung kommen: “Sägen Sie das Zuleitungsrohr an geeigneter Stelle ab. Achtung! Vor dem Absägen darauf achten, dass Zulaufrohr und Schlauch (nicht im Lieferumfang enthalten) den gleichen Durchmesser haben”.
Anyway. Alles hängt immer mit allem zusammen, es ist erstaunlich. Ging es gestern in den Kommentaren des letzten Blogtextes auch um Ameisen und Nacktschnecken (die Enkelin, die gerade von einem Praktikum bei einem deutschen Gemüseanbauer zurück ist, erzählte gestern von der Nacktschneckenplage im Salat), so wird mir heute dieser Artikel in der ZEIT zugespielt: Die Weinbergschnecke schmeckt nach Wald.
Außerdem hat mich gestern eine Wespe in die Kniekehle gestochen, sie hatte sich wohl unter mein weites wehendes Kleid verirrt und als ich mich hinsetzte, habe ich sie eingeklemmt. Glücklicherweise kam gestern auch das kleine Ding, das aussieht wie ein USB-Stick, und Insektenstiche mittels Hitze so “bearbeitet” (also im Prinzip funktioniert es über Reizunterbrechung im Gehirn), dass der Juckreiz nachlässt. Es funktioniert zuverlässig bei klassischen Mückenstichen (sofort getestet) der Wespenstich erfordert etwas mehr Einsatz. Das Ding heißt “heat it”. Werbung unbeauftragt und unentgeltlich. Kennen Sie vielleicht auch schon. (Und es ist so winzig klein, dass es in diesem großen Haus auch schon wieder verloren gegangen ist. Herrjeh.)
Doch nun zu meinem persönlichen Glücksmoment in diesem Sommer. Ich hätte nie gedacht, dass ich noch einmal ein kleines Stück des GR 52 A gehen könnte. Eigentlich nur ein ganz kurzes Stück, aber der Weg führt meistens über Geröll oder Schotter und außerdem, wie im Gebirge so üblich, immer auf und ab. Eigentlich sind wir nur losgegangen, um rund um den alten Friedhof im Oberdorf Lavendel zu schneiden, der junge Mann, der mich begleitete, rannte aber ohne sich wirklich um den Lavendel zu kümmern, wie eine junge Gämse ohne Weg und Steg über den Berg, nur um mal kurz zu sehen, was hinter der Kuppe ist (Landschaft), und war verschwunden; wir hatten immerhin vereinbart, uns nach einer Stunde wieder an der gleichen Stelle zu treffen.
Ich genoss den Lavendel, der gerade in voller Blüte stand, ich war bislang noch nie zur richtigen Zeit dort gewesen, ich genoss das Summen der Bienen und Hummeln, die vielen Schmetterlinge, die Aussicht, die Stille, machte Fotos und irgendwann wurde es mir zu langweilig, und ich lief ein Stück den Wanderweg entlang, einfach so, ohne Ziel.
Doch dann traf ich Freunde (winzig klein in der Bildmitte), die mit ihren Enkelinnen ein Stück weiter oben bei den Ruinen des ehemaligen Bauernhofes übernachtet hatten, und sie erzählten mir, dass sie den Abstieg zur kleinen Kapelle zugänglich gemacht hatten. Ich wusste nicht einmal, dass das Häuschen, das ich schon oft fotografiert hatte, eine Kapelle war (als ich noch gut zu Fuß war, habe ich jedes Jahr die Ruinen des Hofes dokumentiert, der ursprünglich der Familie Monsieurs gehörte und der durch Erbstreitigkeiten verloren gegangen war). Das wurde also mein Ziel.
Wirklich nicht weit, vielleicht zwei Kilometer hin und zurück, aber durch unwegsames Gelände. Und es ging! Ich hatte Wanderstöcke dabei, aber natürlich auch den Korb voller Lavendel, den ich dann irgendwo am Wegesrand stehen ließ und auf dem Rückweg wieder mitnahm.
Und so ging ich also bis zur Ruine des Hofes und wagte den kurzen aber steilen Abstieg zur Kapelle, denn der Eingang liegt nicht oben am Weg, sondern unten. Wie schön war und ist sie geschmückt! Mit Lilien, genauer gesagt Lys Martagon, auf Deutsch Türkenbundlilie, die hier im Frühling oft blüht, wir haben auch eine vor der Tür. Ansonsten ist es natürlich eine Ruine, wie der ganze Hof, die weiter verfallen wird, spätestens wenn das morsche Dach eingestürzt ist.
Wenn man kaputte Knie hat, weiß man: Hoch geht’s noch irgendwie, aber zurück und runter nicht mehr. Und es ging doch! Nicht schnell, ich hatte auch den Blick auf den Boden gerichtet und nicht in die Ferne, aber es ging! Ganz, ganz stolz und glücklich und zufrieden!
Den Lavendel musste ich dann feucht einpacken, denn ich kam nicht dazu, ihn zu verarbeiten. Ständig ist Besuch da, angekündigt und unangekündigt, es wird geplaudert, gekocht, gegessen oder manchmal gehen wir auch essen (zum Glück). Aber heute Nachmittag, während Monsieur Tennis schaute (Djocovic-Alcaraz) machte ich mich daran, neue Lavendelfläschchen zu machen. Sie wurden ein bisschen unförmig, aber gut, Übung macht die Meisterin, weiß man ja.
Ok, Sie wollen noch südfranzösischen Alltag lesen, bitte sehr! Aber Vorsicht! Sensible Menschen könnten heute schockiert sein! Zum ersten Mal konnte ich kein Mittagsschläfchen halten, die Fliegen sind so zahlreich und aufdringlich, es ist schrecklich. Ich arbeite jetzt mit einer Fliegenklatsche, sehr effizient und vor allem befriedigend, wenn man eine erwischt hat. Aber während des Mittagsschlafs kann ich sie nicht benutzen. Ja, sorry, ich töte Tiere. Aber den Tausendfüßler Spinnenläufer in der Badewanne habe ich gerettet, ich schwöre! Der neue Kühlschrank, der eigentlich so leise ist, dass ich manchmal schon nachgeschaut habe, ob er überhaupt funktioniert, hört bei der Hitze gar nicht mehr auf zu brummen, das macht mich nervös. Und das Summen der Fliegen. Das macht mich nervös und aggressiv. Ich wiederhole mich, aber es ist schon wieder so heiß wie gestern, und Hitze hat einen schlechten Einfluss auf das Gehirn. Wird es ein Gewitter geben? Rechts von mir scheint noch die Sonne, links zieht es sich etwas zu, aber nicht so stark wie gestern.
Heute morgen habe ich ein bisschen geputzt und zwei Maschinen Wäsche gewaschen und aufgehängt, danach bin ich erneut nach unten gefahren, um in der Coopérative das bestellte Brot abzuholen und um außerdem einen neuen Stiel für den Rechen zu kaufen. Ich töte hier übrigens nebenbei Fliegen. Mir kommen Titel wie “Sieben auf einen Streich” oder “Leichen pflastern meinen Weg” in den Sinn, vielleicht muss ich die Überschrift nochmal ändern.
Wenn es hier stark regnet, kann es immer sein, dass am nächsten Tag die Straße gesperrt ist, weil zu viele Steine und Geröll von den Hängen gerutscht sind. Auf unserer Straße liegen Steine und an einigen Stellen ist Geröll von den Hängen gerutscht, man kann zwar noch fahren, aber in den Serpentinen stehe ich nez à nez, wie man hier sagt, einem der Straßenarbeitswagen gegenüber, die mit einer Art Baggerschaufel, Bürsten und einem Wassertank ausgerüstet sind und mit denen die Straße gereinigt wird. Unten im Tal hat es vor ein paar Wochen einen größeren Erd/Steinrutsch gegeben, dort ist derzeit nur eine Spur befahrbar.
Für die Fahrt nach unten, den Einkauf und wieder hoch brauche ich mehr als eine Stunde, zumal ich unterwegs noch Fotos mache – denn, heute mal ein strenger Content, ich nehme die Fahrspuren auf, die diverse Campingcars vor Jahren schon in eine Wiese gefahren haben, immer wieder standen hier Vans, bis die Gemeinde die Wiese eingezäunt hat. Liebe WohnmobilfreundInnen, ich weiß, dass wir alle immer auf der Suche nach idyllischen und einsamen Plätzen sind, aber bitte bedenken Sie, dass Wiesen, Wälder und all das weite Land immer jemandem gehört, entweder Privatpersonen oder eben der Gemeinde, auch wenn es nicht eingezäunt oder als “Privatbesitz” gekennzeichnet ist. Oft handelt es sich um Nutz- und Weideland. Und insbesondere Wiesen sind nicht zum Picknicken da, auch nicht zum Abstellen von Wohnwagen oder zum Aufstellen von Zelten, sondern hier wird zu gegebener Zeit Heu gemacht. Bei uns im Dorf macht das der Schäfer. Er füttert damit seine Schafe im Winter. Die Spuren, die die Campingcars hier hinterlassen haben, sind auch nach Jahren noch zu sehen.
Und die zweite Sache heute, bitte nehmen Sie Ihren Müll nach dem Picknick oder nach der Wanderung wieder mit. Ich weiß, dass Sie das tun, aber es gibt immer wieder Leute, die denken, was sind schon zwei Fischdosen und ein Joghurtbecher … das macht mich wütend!
Das habe ich also dokumentiert (den Müll habe ich mitgenommen und entsorgt), dann treffe ich schon wieder das Straßenreinigungsfahrzeug, DDE heißt der Dienst übrigens, Direction départementale de l’Equipement. Ein großer Arbeitgeber auf dem Land!
Er lässt mich überholen, wir winken uns noch einmal zu und zu Hause mache ich mich an die Zubereitung des Zitronen-Thymian-Hähnchens. Ich habe die Garzeit des großen Hähnchens (eineinhalb Kilo) unterschätzt und wir essen sehr spät, es ist auch weniger zitronig als erhofft – aber es bleibt genug übrig, um heute Abend noch ein Essen damit zu bestreiten. Ich mache noch eine kleine Bemerkung, als einer der Jungs meint, er müsse alle Aprikosen aufessen, weil sie schon zu reif seien. “Ich gehe aber erst am Samstag wieder einkaufen”, sage ich streng. Können die nicht ein bisschen mitdenken und haushalten? Ich erinnere mich wieder an meine Schwiegermutter. Wie sehr mich die Rationierung der Lebensmittel geärgert hat. Ich weiß noch, dass ich damals gesagt habe: “Dann fahre ich eben runter und kaufe ein, wenn was fehlt”. Damals erschien mir das Einkaufen ein netter kleiner Ausflug zu sein, mal weg von der Familie. Heute gehe ich auch nicht ungern hier einkaufen, aber einmal die Woche reicht.
Monsieur, den die Fliegen in der Sieste nicht gestört haben, arbeitet nun hinter mir mit seinem Lieblingsprodukt, PF3, einer Spachtelmasse, die man auf Unebenheiten an Wänden aufträgt, um sie anschließend kräftig abzuschleifen. Der weiße Staub ist überall fein verteilt. Es hat nicht geregnet. Ich hätte Lavendel schneiden können.
Nachdem ich seit einiger Zeit von einem Haufen russischer Besucher heimgesucht werde, die sich unter anderem an dem Artikel “gelesen und gehört” festgebissen haben, werde ich nicht nur diesen Besuchern etwas Input geben. Dirk von Iberty reist mit Madame über Helsinki nach Estland, Lettland und Litauen. Die meiste Zeit mit dem Zug. Dort wurde auch ein Artikel über die unterirdische Stadt in Helsinki verlinkt. Es gibt sogar ein unterirdisches Schwimmbad! Spannend!
Ich muss zugeben, dass ich mir Finnland, wahrscheinlich beeinflusst durch Aki Kaurismäki, immer als ein eigenartiges, unwirtliches Land vorgestellt habe, in dem es monatelang dunkel und kalt ist und schneit, in dem es im Sommer dafür ständig regnet oder man eine Mückenplage hat, und in dem die Menschen schweigsam und depressiv sind. Da ich früher im Sommerurlaub auf keinen Fall noch schlechteres Wetter haben wollte, als es das ganze Jahr über in Deutschland ist, kam ein Sommerurlaub in einem nordischen Land für mich nie in Frage. Aber jetzt folge ich auf Instagram einem jungen Reiseblogger-Paar, das ganz vernarrt in Finnland ist, Anna hat dort sogar ein Schüleraustauschjahr verbracht, verrückt, oder? Und jetzt, wo ich in einem so sonnigen und warmen Land lebe, sind die nordischen Länder für mich auch im Sommer attraktiv geworden. Waren Sie schon einmal in Finnland?
Anderes Thema: Gerne gelesen habe ich auch das hier.
Es zeigt die Komplexität der menschlichen Beziehungen in Israel und Palästina. Die Interviews wurden bereits 2018 geführt. Nichts ist einfach. Und nach dem 7. Oktober wurde es nicht einfacher.
Den Artikel über die Hitze und die Auswirkungen auf das Gehirn habe ich zwar wiedergefunden, aber ich habe ihn nur quergelesen, er ist mir ehrlich gesagt zu anstrengend. Die Quintessenz steht in den einleitenden Sätzen: “Extreme Hitzewellen sind großer Stress für den Geist. Das Denken fällt schwerer, die Psyche leidet.” Jo. Isso. Kann ich bestätigen. Es geht im Artikel auch noch um den Klimawandel. Hier, in den Bergen haben wir gerade nie dagewesene 28 Grad Innentemperatur und draußen irgendwas um 33 oder gefühlte 35 Grad. Ich habe das elektronische Thermometer auf den Gartentisch gestellt und es hat quasi sofort den Geist aufgegeben. Ich war aber heute in Guillaumes einkaufen, dort ist es im Winter so kalt (es liegt so eingeklemmt zwischen den Bergen, dass die Sonne im Winter kaum hinkommt) im Sommer aber so unerträglich heiß (die Sonne knallt gnadenlos auf das schmale Straßendorf), dass es einem nach gut zwei Stunden dort unten hier oben dann wieder frisch vorkommt. Gerade (17 Uhr) zieht, wie schon gestern, ein Gewitter regenlos an uns vorbei. Es hat aber immerhin schon das Internet durcheinandergebracht.
Ich wollte ja noch ein paar Sätze zu Olympia gesagt haben. Die Eröffnungsfeier habe ich nur auf meinem Handy gesehen, da fehlte vielleicht ein bisschen der Wow-Effekt, den man vor dem Fernseher haben kann. Gleichzeitig hat es mich an die Synchronschwimmgala meiner Enkelin erinnert, die wir jahrelang besucht haben, wo man auch immer nur Bruchstücke der Choreographie gesehen hat, weil ein Teil unter Wasser war und die Formation auch durch das ganze Becken ging, außerdem war alles, was am anderen Beckenrand dekoriert war und sich dort abgespielt hat, so klein, dass man es nicht richtig gesehen und nur ungefähr verstanden hat. Das sagten übrigens auch die auf den Tribünen im strömenden Regen ausharrenden, vermutlich allesamt ausländischen, Zuschauer (die Pariser haben, so sie konnten, Paris verlassen, einerseits weil sie das im Sommer immer tun, andererseits weil sie Paris kaum noch durchqueren konnten, ohne QR-Code und was weiß ich, welche Auflagen es noch gab; viele Restaurateure sind sauer, weil man sie die Terrassen abbauen ließ und ihnen gleichzeitig die Lauf-Kundschaft nahm, die ohne den richtigen QR-Code nicht mehr kommen konnte), zurück zu den ausländischen Zuschauern, die beklagten, dass sie für einen wahnsinnig hohen Ticketpreis im Prinzip nichts (Besonderes) gesehen haben. Verstanden haben sie vermutlich auch nicht viel. Die Meinungen über die Zeremonie sind so gespalten, wie das Land politisch gespalten ist. Für die Älteren und Konservativen war es ein großer Mist, unwürdig und peinlich, die jüngere Generation war begeistert, wie jung, modern und divers sich Frankreich gezeigt hat. Nur ein Beispiel: Die Rapperin Aya Nakamura, die von konservativer Seite wegen ihrer Sprache kritisiert wird, sang und tanzte vor der Académie Française, der Institution für die französische Sprache, begleitet von der Garde Républiquaine, einer Abteilung der Gendarmerie Nationale, die bei Ehrungen und Zeremonien auftritt. Ich meine, kontroverser kann es kaum sein. Nun gut. Einig war man sich nur darin, dass die von ihrer Krankheit gezeichnete Céline Dion, die auf dem Eiffelturm die Hymne an die Liebe sang, zum Heulen schön war.
Die Seine ist leider aufgrund des Regens wieder sehr verschmutzt. Vielleicht erinnern Sie sich an das Bild, das ich kürzlich gezeigt habe, auf dem der Fluss Var, vom Regen verschmutzt, in das türkisblaue Mittelmeer mündet und das Meer unschwimmbar macht. Ähnlich verhält es sich mit dem Regenwasser und dem Abwasser in Paris, die sich unangenehm vermischen. War vor kurzem noch von der Regattastrecke als Ausweichort die Rede, so ist davon jetzt wohl keine Rede mehr, die Wettkämpfe werden vorerst verschoben, vielleicht sogar abgesagt. Das ist nicht nur für die Freiwasserschwimmer blöd, sondern auch für die Triathleten, die gezwungenermaßen zu Duathleten werden. Wenn das Schwimmen ihre Stärke war, haben sie Pech gehabt.
Ich bin kein großer Fan der Olympischen Spiele und finde es auch problematisch, dass Frankreich nun auch die Olympischen Winterspiele 2030 ausrichten wird. “Hurra, wir haben den Zuschlag bekommen”, jubelte die regionale Presse vor einigen Tagen. Ja, wir haben den Zuschlag bekommen, aber es gab auch nur einen Bewerber, nämlich Frankreich, haha. Und jetzt wird in den nächsten Jahren in die maroden Anlagen der Skigebiete investiert, es wird wohl jahrelange Großbaustellen geben, obwohl wir uns einig sind, dass der ganze Skizirkus der Natur nicht gut tut, vom Klimawandel ganz zu schweigen. Schnee gibt es schon jetzt kaum noch, meist wird er von Schneekanonen produziert.
Es hat dann doch gewittert und geregnet, lange und nicht zu knapp. Abkühlung! Ich habe alle Fenster aufgerissen, und wir konnten das Wohnzimmer drei Grad runterkühlen. Man kann wieder atmen. Internet aber war weg. Es hat sich quasi mit dem ersten Donnergrollen verabschiedet. Es kam erst nach 21 Uhr wieder.
Wir haben Sommerbesuch, das ist hier so üblich. Normalerweise frühstücken Monsieur und ich nicht mehr am Tisch sitzend, jeder von uns macht sich in der Küche stehend seinen Kaffee, ein Brot oder ein Müsli, wie und wann er will. Monsieur isst oft gar nichts. Aber wenn Besuch kommt, decke ich wieder den Frühstückstisch, und zwar unbewusst nach deutscher Art, die Tasse neben den Teller, weil ich auch nach neunzehn Jahren immer noch denke, dass der Teller für das Brot da ist, aber hier kann ich Teller hinstellen, so viele ich will, das Brot wird gnadenlos auf dem Tisch zubereitet, die Teller dienen immer nur dazu, den Bol, die Kaffeeschüssel darauf zu stellen, weil man das Brot nachher in den Kaffee tunkt, und das ist immer eine ziemlich suddelige Angelegenheit, an die ich mich auch noch nicht gewöhnt habe.
Mit dem Sommerbesuch mache ich natürlich auch wieder viel Essen und vor allem viel mehr Essen. Ich bin immer wieder erstaunt, was die jungen Männer alles in sich hineinstopfen können. Das Brot, das ich für eine Woche eingeplant habe, ist nach drei Tagen weg. Ebenso der Käse. Mit Schrecken sah ich die Vorräte dahinschmelzen und fühlte mich zum ersten Mal wie meine verstorbene Schwiegermutter, die uns das Essen immer streng rationiert hat. Man kann hier nicht einfach so einkaufen, man muss immer eine halbe Stunde runter ins Dorf fahren, wo man natürlich auch nicht alles bekommt (Fisch zum Beispiel gibt es nicht), also überlegt man sich im Voraus, wen man in den nächsten Tagen eventuell bewirten muss, was man wann kochen könnte, bestellt Fleisch beim Metzger und Brot beim Bäcker oder bei der Coopérative (im Sommer liefert ein Bäcker Brot von der anderen Seite des Cols, über den wir neulich gefahren sind) und kauft alles Mögliche ein und versucht, damit auszukommen. Junge Männer mit großem Hunger zweimal am Tag zu bekochen (und das trotz der Hitze warm!), bringt meine Planung etwas durcheinander. Deshalb war ich schon heute einkaufen und nicht erst am Donnerstag, wenn hier Markt ist.
Hier übrigens noch ein bisschen (trotz Hitze leicht verständliche Information) über das gestern erwähnte Sternbild des Großen Hundes. Das man bei uns aber nur im Winter sehen kann.
Hitze sei nicht gut fürs Gehirn, habe ich kurz in einer Überschrift gelesen, jetzt finde ich den Artikel schon nicht mehr. Klar, mein Gehirn ist schon aufgeweicht von zu viel Hitze. Canicule heißt die Hitzewelle auf Französisch, Hundstage heißen die heißen Tage auf Deutsch, Dog Days auf Englisch. Was hat eigentlich der Hund mit dem Wetter zu tun? Den Zusammenhang wollte ich herausfinden, habe ich auch, aber es hat mich sehr erschöpft, die französische Erklärung zu übersetzen und (hoffentlich) sinnvoll wiederzugeben, zu viel Hitze, ächz. In Canicule steckt immerhin das lateinische Wort für Hund, canis. Canicula sei die Verkleinerungsform und bedeute “kleine Hündin”, so der Figaro, den ich hier zitiere. Was hat die drakonische Hitzeperiode, die bis in den August andauert aber mit dem Tier zu tun, das als bester Freund des Menschen gilt? Ein Blick in den nächtlichen Sommerhimmel:
Canicula ist der Name des hellsten Fixsterns, des Hauptsterns im Sternbild Großer Hund, der sich in einer Entfernung von mehr als acht Lichtjahren befindet. Außerdem ist er der fünftgrößte Stern in der Reihenfolge seiner Entfernung zur Sonne. Und das ist nicht ohne Bedeutung. Laut dem Trésor de la Langue française beobachteten die Alten schon in der Antike, dass der Zentralstern unseres Sonnensystems mit dem Sternbild Großer Hund zwischen dem 22. Juli und dem 23. August auf- und untergeht. Dies ist die Zeit der großen Hitze.
Claire Conruyt, L’étonnante origine du mot “canicule”. In: Figaro, 08.06.2021, von mir aus dem Französischen übersetzt
Dog day afternoon
Wir sind nicht in Cannes, wir sind, Sie denken es sich, wie jedes Jahr vor der großen Hitze in die Berge geflüchtet, aber jetzt ist es auch hier so heiß, dass man es draußen kaum aushält. Sogar die Hunde sitzen von der Hitze erschöpft im Wasserbecken. Und bis Mittwoch soll es so heiß bleiben. Ein angekündigtes Gewitter zog heute Nachmittag unverrichteter Dinge vorbei, wir hatten hoffnungsvoll Fenster und Türen geöffnet, kein Lüftchen kam, nur ein Haufen Fliegen.
Ansonsten ist hier alles wie immer, am vergangenen Wochenende war das Patronatsfest des oberen Dorfes, Ste. Anne, es wurde im oberen Dorf mit Messe, Prozession und gemeinsamem Mittagessen gefeiert. Keine besonderen Zwischenfälle.
Abends dann im unteren Dorf wieder Ehrung vor dem Kriegerdenkmal unter Anwesenheit der Gendarmerie und Absingen der Marseillaise, ein offizieller Teil mit kurzer Rede, und wir sangen gemeinsam “La montagne” von Jean Ferrat (nicht nur ich war gerührt), und später dann das große Essen auf dem Dorfplatz, mit anschließender Musik und Tanz bis spät in die Nacht.
Gestern haben wir ein atelier lavande veranstaltet – ich wollte immer schon lernen, wie man die Lavendel”päckchen” macht, bouteilles (Flaschen) heißen sie mancherorts oder auch fuseaux (Raketen), wir haben die ersten Exemplare mit dem schon leicht verwelkten Lavendel von “hier unten” fabriziert.
Sie sind noch ein bisschen grob handwerklich, oder sagen wir artisanal geworden, duften aber dennoch ganz wundervoll! Ende der Woche, wenn es hoffentlich weniger heiß ist, werden wir weiter oben Lavendel schneiden, dort steht er gerade in voller Blüte.
Heute ist Gestern war der letzte Tag der Tour de France, das Einzelzeitfahren zwischen Monaco und Nizza ist war aber ehrlich gesagt ein bisschen langweilig, zumindest vor dem Fernseher, hundertmal den Aufstieg zur Turbie und nach Èze, immer dieselben hysterischen Fans am Straßenrand, und nur sehr wenige Landschaftsaufnahmen. Hier Èze.
(Und wie man auf dem Fernsehfoto sieht, werden hier die Tage bis zur Eröffnung des nächsten Sportevents, den Jeux Olympiques, schon runtergezählt.)
Die Journalistin, die die Radfahrer in Nizza kurz hinter der Ziellinie mit falschen Informationen und eher unhöflichen Fragen abfängt, war mir unerträglich: “Wow, Sie sind die beste Zeit gefahren!” “Nein, ich bin vierter!” “Sie sind erster!” “Ah bon?” Der Radfahrer schaut irritiert und informiert sich: “Nein, vierter!” sagt er dann. Später passiert ihr das noch einmal mit einem sichtlich enttäuschten Fahrer: “Glückwunsch, Sie sind elfter!” “Ich bin keinesfalls elfter, es sind ja noch zig Fahrer unterwegs”. Sie unbeirrt: “Na, im Moment sind Sie jedenfalls elfter!” Und dann zum selben Fahrer: “Die Tour ist nicht so gut gelaufen für Sie, was? Sind Sie enttäuscht?”
Es ist schon den ganzen Tag bedeckt, zumindest in Cannes, die angesagten Gewitter, die die schwüle Hitze mal kurzfristig unterbrechen könnten, wollen aber nicht kommen. Was allerdings beim offenen Fenster kommt, sind Stechmücken und die wummernden Bässe von irgendeinem Electro-Plage-Konzert. Leben, wo andere Urlaub machen, so schön.
Ok, so viel war gestern, es hat dann nicht geregnet, zumindest nicht bei uns. Dafür sollen es heute 32 Grad werden. Ächz.
Bucket Lists oder “Löffellisten”
Im Grunde habe ich keine Wunschliste mit Dingen, die ich vor meinem Tod noch erlebt, getan oder gesehen haben möchte. Oder nicht mehr. Dass ich “ein Jahr im Ausland leben” wollte, wissen Sie. Das war, lange bevor es diese “Bucket Lists” oder “Löffellisten” gab, mein unausgesprochener Lebenswunsch (übrigens: “Löffelliste”, für die, die es nicht wissen sollten, ist die Wunschliste der Dinge, die man noch tun möchte, bevor man “den Löffel abgibt”). Dadurch, dass ich das gemacht habe, ist die “Löffelliste” ziemlich leer geworden, und dadurch, dass ich in diesem Land geblieben bin, mit all den Herausforderungen des täglichen Lebens, sind andere große Wünsche gar nicht erst aufgekommen. Große Reisen oder eine Weltreise zum Beispiel. Um Gottes willen! Ich bin immer noch jeden Tag in einem fremden Land unterwegs. Das reicht mir, ich muss nirgendwo mehr hin. Jedenfalls nicht mit der Dringlichkeit, mit der ich damals hierher musste. Ich habe ein anderes Leben gefunden, einen lieben Mann, und damit es nicht zu langweilig wird, eine herausfordernde Familie, aber vor allem habe ich hier Frieden mit mir selbst geschlossen und anderen vergeben. Genug für ein Leben, denke ich. Ich könnte durchaus den Löffel abgeben.
Aber kleine Wünsche sind manchmal da. Vor einigen Jahren habe ich in einer dieser Sendungen, die man sich manchmal aus Verlegenheit am Freitagabend anschaut, einen Holzbildhauer entdeckt und seitdem den Wunsch, eines seiner Werke zu besitzen. Ich erkundigte mich und erhielt eine Liste seiner Werke. Große und kleine, alle sehr originell, und es waren Werke dabei, die in meinen finanziellen Möglichkeiten lagen, aber ich bin ein haptischer Mensch, es sind Holzskulpturen, ich hätte sie gerne vorher gesehen und angefasst. Der Künstler lebt in einem Dorf in den Bergen bei Grenoble, es lag nie auf dem Weg, es gab Wichtigeres, und die Tatsache, dass Monsieur nicht annähernd von der Idee beseelt war, dorthin zu fahren, “haben wir nicht schon genug Kunst?”, verhinderte, dass wir beim letzten Familientreffen, wo wir schon einmal ziemlich nah dran waren, nicht noch ein Stündchen weitergefahren sind. Im Nachhinein habe ich mich sehr geärgert, dass ich es nicht durchgesetzt hatte.
Kürzlich waren wir wieder in der Gegend, und ich dachte, wenn wir es dieses Jahr nicht machen, dann machen wir es nie, und so habe ich zusätzlich ein kleines Ausflugsprogramm für uns zusammengestellt, die Anreise und die Übernachtungen geplant, und siehe da, Monsieur war einverstanden. Zuerst fuhren wir nämlich an einen Ort, den er schon immer mal sehen wollte, an den Genfersee, ans französische Ufer und über Evian und Montreux nach Vevey. Die Fahrt dauerte viel länger als erwartet, es gab Baustellen und die Fahrt am See war mit Stop and Go nicht so idyllisch. Später hat es auch noch geregnet. Evian und Montreux erinnerten mich dezent an Cannes, wir hielten nicht an, fuhren einfach durch und weiter. In Vevey, besser in einem Stadtteil von Vevey, soll das Grab von Graham Greene sein. Wir kamen zur besten Mittagszeit an, stiefelten aber pflichtschuldigst erst einmal zum gut ausgeschilderten Friedhof, denn dort liegt auch Charlie Chaplin nebst Gattin begraben.
Deren Grab fanden wir schnell, das Grab von Graham Greene nicht. Vergeblich suchten wir alle Gräber des kleinen Friedhofs ab, der sich an der Aktion “Mähfreier Mai” beteiligte.
Das kleine Rathaus, in dem wir uns hätten informieren können, hatte bis 14 Uhr Mittagspause, auch wir gingen erst einmal etwas essen. Im Rathaus hat man später nie etwas von Graham Greene gehört. Ich hatte in der Schweiz kein Internet, aber ich schwöre, dass ich diese Information im Internet gefunden habe. Irgendjemand hatte Mitleid und suchte und fand die erlösende Nachricht: Graham Greene liegt nicht in Corsier-sur-Vevey, sondern in Corseaux, einem anderen Ortsteil, ein paar Straßen weiter, mit einem eigenen kleinen Friedhof. Und dort liegt er. Graham Greene. Monsieur ist nicht nur ein Fan, sondern auch ein Forscher, der vor zehn Jahren ein Buch veröffentlicht hat, das, wie das Grab des Autors, ein wenig brach liegt. Monsieur hat sich aber sofort daran gemacht, das Grab ein wenig vom wuchernden Unkraut zu befreien.
Eigentlich würden wir beide jetzt gerne in Vevey bleiben, für den Tag reicht es, meinen wir, aber ich habe bei der Planung unsere (vor allem meine) Energie über- und die Straßenverhältnisse völlig unterschätzt und uns mutig ein Zimmer in einem Bergdorf in den Chartreuses gebucht. Da wir am nächsten Abend in der Villa Puebla in Barcelonette und am Samstag in unserem Bergdorf sein wollen, gibt es keinen zeitlichen Spielraum. Also fahren wir zurück Richtung Chambéry und dann in die Berge, und dort zu einem winzigen Dorf. Auch die Bergstraßen, deren Enge und Kurven mir überhaupt keine Angst machen, nerven mich am Ende des Tages. Das ist schade, denn die Landschaft ist wunderschön, und dass das kleine Hotel, das ich mir abgelegen und ruhig vorgestellt habe, an diesem Abend für ein Fest privatisiert wurde, so dass wir dort auch nicht essen können, lässt mich nur noch stöhnen.
Der Zugang zu den Zimmern läuft über Codes, die mir angeblich aufs Handy geschickt wurden, aber ich finde sie nicht, kann mir die Erklärungen des ungeduldigen jungen Mannes, der sechzig Gäste zu bewirten hat, nicht mehr merken und fühle mich alt und nur noch sehr müde. Viel passiert an diesem Abend nicht mehr, ich will weder irgendwohin laufen noch fahren, dabei wäre das Dorf sicher einen Spaziergang wert, und nur dem Sculpteur, der nichts von unserer Ankunft ahnt, schicke ich noch eine Nachricht, ob wir am nächsten Tag bei ihm vorbeischauen dürfen. Das dürfen wir, antwortet er kurz darauf. Glücklich schlafe ich ein.
Am nächsten Morgen fahren wir noch ein Dorf weiter, nichts weist auf einen Künstler oder ein Atelier hin. Wenn nicht das Navigationsprogramm meines Telefons darauf bestanden hätte, wären wir daran vorbeigefahren. Aber es ist hier. Mitten im Nirgendwo. Thierry Martenon kommt mit dem Fahrrad angefahren und zeigt uns seine Werkstatt und einige Werke in seinem Ausstellungsraum.
Sie sind in jeder Hinsicht großartig. Und groß! Sehr groß! Eines dieser monumentalen Werke habe er gerade nach Südafrika verschickt, erzählt er. Die Liste der Kunstwerke, die er mir 2017 zugeschickt hat, er kann sich natürlich nicht mehr daran erinnern, ist längst nicht mehr gültig. Er stellt jetzt in Paris und New York aus und er hat keine Werke mehr einfach so herumstehen oder hängen. Er macht große und sehr große Auftragsarbeiten, aber er würde für mich etwas Kleineres kreieren – wir besprechen Holz und Struktur, Farbe und Form, ich mache Fotos und verspreche, ihm die Maße für eine Wand zu senden, an der ich das Kunstwerk sehe. Er ist natürlich, zugänglich und freundlich, und er schenkt uns zum Abschied sein Buch. Auch Monsieur, der mir zunächst sehr reserviert folgte, ist begeistert von seiner Arbeit, seinen Werken und seiner Art. Es war eine absolut bereichernde und beglückende Begegnung.
Ich verlinke Thierry Martenon, wie jeden “Geheimtipp”, mit gemischten Gefühlen: klar, er hat eine Website, klar, er hat ein Buch veröffentlicht, klar, er gibt manchmal Interviews im Fernsehen. Letzteres habe sein Leben und seine Arbeit verändert, sagt er. Seine Werke verkaufen sich nun in alle Welt. Das Holz für seine Arbeit findet er längst nicht mehr (nur) in seiner Umgebung. In der Zwischenzeit arbeitet er auch mit einem Assistenten. Thierry Martenon wollte immer nur “in den Bergen leben und mit Holz arbeiten”. Für das langsame Leben in den Bergen, das Wandern, Radfahren, Einatmen und Ausatmen will er auch weiterhin noch genug Zeit haben.
Heute habe ich mir zur Entspannung noch einmal die Tour de France auf dem Sofa angeschaut – und natürlich auch, weil sie auf dem Col de la Couiolle endet, einem kleinen Pass unweit unseres Bergdorfes, über den ich in meinem ersten Jahr in den Bergen ständig gefahren bin, weil ich an den Sommerwochenenden in einem Berghotel (Lo Robur in Roure, ich verlinke es nicht, weil es schon so oft den Besitzer gewechselt hat, damals gab es einen fantastischen Koch, aber das Haus war sehr einfach) in einem anderen Tal gearbeitet habe, dem Tal de la Tinnée, “dem Tine-Tal”, so hat es meine Freundin Tine getauft.
Dass ein Col kein Gipfel sondern eben ein Pass ist, habe ich in diesem ersten Jahr auch gelernt, nachdem ich über mehrere Cols gefahren bin und jedes Mal enttäuscht war. Ich erwartete immer irgendetwas Besonderes, einen Gipfel vielleicht (aus heutiger Sicht eine verrückte Idee) – ich wusste nicht, was ein Pass eigentlich ist, ich, Städterin, wusste damals aber auch nicht, was ein Tal ist.
Als Gebirgspass, Passübergang oder kurz Pass bezeichnet man den Übergang in das aus Sicht des Talbewohners jenseits des Gebirges liegende Tal. Als Übergang oder zur Überfahrt geeignet ist eine möglichst tief gelegene, gangbare oder befahrbare Stelle eines Bergkamms, Höhenrückens oder Gratverlaufs zwischen zwei Bergstöcken oder -ketten.
Danke Wikipedia
Die Journalisten bissen sich heute zu Beginn der Übertragung der Etappe über vier Pässe bzw. Cols (Col des Braus, Col de Turini, Col de la Colmiane, Col de la Couiolle) immer wieder lachend auf die Lippen und schoben die Aussprache des Zielpasses gerne einem anderen in der Runde zu. “Couiolle” kommt dem Wort “couille” sehr nahe, das vulgär für – hüstel – Hoden steht, oder auch “couille molle”, was man mit “Weichei” übersetzen könnte. Die im Französischen häufig verwendete Redewendung “Il nous casse les couilles” bedeutet wörtlich “er geht uns auf den Sack”, meint natürlich, auf die Nerven.
Der Col de la Couiolle, eher bescheiden und unspektakulär (abgesehen von der seit einigen Jahren existierenden Spitzenküche in einer von außen schlichten Unterkunft), sorgte heute also für Gesprächsstoff und Gelächter. Ich freute mich vor allem auf die allerletzte kurvige Bergstrecke bis zum Ziel auf diesem Col, denn ich bin sie schon so oft gefahren, mag sie sehr und fand sie immer ein bisschen verwunschen mit den grün bewachsenen Felswänden, den kleinen alten gemauerten Brücken und den Wasserfällen, den winzigen Tunnels und zu meiner Zeit wenig Gegenverkehr. Außer ein paar Motorradfahrern fuhr kaum jemand auf dieser schmalen, kurvenreichen Straße, die an ein paar einsamen Bergdörfern (Roure, Roubion) vorbeiführt. Heute dann ein paar verrückte Radfahrer, für die, so scheint es, die Straße neu geteert und hier und da verbreitert wurde. Ich habe mich schon vor vielen Jahren von der Tour de France “verabschiedet”, die Zeiten, in denen ich die Teams und ihre Fahrer kannte, sind lange vorbei. Damals wurde mir zu viel gedopt und der junge Mann, der heute zum fünften Mal die Tagesetappe gewonnen hat, erscheint mir auch zu leichtfüßig im Vergleich zu den anderen, die sich deutlich mehr quälen. Aber was weiß man schon.
Was mich heute beim Zuschauen genervt hat, war die Präsenz des Supermarkt-Sponsors Leclerc, der das diesjährige “gepunktete T-Shirt” für den besten Bergfahrer gesponsert hat (das hässlich und billig aussieht und mich an eine Salamiverpackung erinnert) – und dass sie es wohl entlang der Tour an fast alle ZuschauerInnen verteilt haben, die es auch brav getragen haben. Sie wissen es vielleicht, aber bevor sich die Radfahrer den Berg hinaufkämpfen, fahren erst einmal wie beim Karneval jede Menge Sponsorenautos an den seit Stunden ausharrenden ZuschauerInnen vorbei, und normalerweise werden dann zur Bespaßung großzügig Kamelle, äh, Werbeartikel oder Käse oder Salami (in Plastikverpackung) verteilt – das sollte aber auf den südlichen Bergstrecken, die durch den Nationalpark Mercantour führten, vermieden werden, insofern gab es wohl “nachhaltige” T-Shirts. Man sah nur das, fand ich, Leute in billigen Salamiverpackungs-T-Shirts. Ätzend. (Und nein, ich zeige Ihnen jetzt nicht auch noch ein Foto davon!)
Hier jetzt aber unsere Col-Überquerung vom Ubaye- ins Vartal von Anfang Juni. Die Strecke von Barcelonette zum Col de la Cayolle (Achtung, nicht verwechseln!) ist toll schön, spektakulär, und die meiste Zeit einspurig, die Monsieur mit einer wieder neu erwachten Rennfahrerleidenschaft fuhr. Nicht nur, dass ich kaum sinnvolle Fotos machen konnte, (bitte verzeihen Sie mir die Unschärfe!) mir wurde erstmals auch schlecht und ich bat ihn inständig, weniger ruppig zu fahren, denn sonst hätte ich mich am Straßenrand übergeben müssen.
Alles Schöne und Besondere (“Halt an! Eine Schlüsselblumenwiese!”) wurde mit “kennen wir schon!” abgetan und durchgebrettert, als gäbe es einen Rekord zu brechen.
Oben auf dem Col lagen nur noch ein paar schmutzige Schneefelder, grün war es Anfang Juni noch nicht.
Die “andere” Seite, das Var-Tal – letzte Berge vor dem Meer
Für den Enzian, den sieht man nicht so oft, hielt Monsieur tatsächlich mal kurz an, so dass ich ein Foto aus dem Fenster machen konnte. Da waren wir aber auch schon auf der anderen Talseite, fast “zu Hause” und durften uns einen Verschnaufer gönnen.
Die tief hängenden gelblich-grauen Wolken auf beiden Seiten des Cols waren übrigens voller Saharasand und regneten in der Folge mehrfach ab.
Wer derzeit die Tour de France schaut, ist meiner französischen Bergwelt ganz nah. Da in Paris die Vorbereitungen für die Olympischen Spiele laufen, wird die triumphale Schlussetappe der Tour de France, die traditionell immer auf den Champs Elysées in Paris stattfindet, kurzerhand in den Süden nach Nizza verlegt. Und auch die letzten (nicht nur bergigen) Etappen finden hier im Süden statt. Gestern habe ich die Tour (im Französischen ist die Tour übrigens männlich,leTour de France heißt es!) aus allen möglichen Gründen verpasst, aber heute habe ich wenigstens ein bisschen davon gesehen (es ging über den höchsten Col Europas, den Col de la Bonette). Vor dem Fernseher natürlich. Ich gehe nirgendwo hin, leider auch nicht zu der sommerlichen Hochzeit. Die Gründe kann man sich an zwei Fingern abzählen. Kein Kommentar.
Gestern war die Tour in Barcelonette angekommen, einer Kleinstadt im Ubaye-Tal (sprich etwa: Ü-baij), das von Nizza aus gesehen hinter dem Col de la Cayolle liegt und nicht nur deshalb ein eher seltenes Ziel für uns ist, auch weil es für uns in den Wintermonaten unzugänglich ist (der Col de la Cayolle ist eine von mehreren Etappen der Route des Grandes Alpes und in der Regel von Oktober bis Ende Mai wegen Schnees gesperrt). Im Juni dieses Jahres waren wir in der Nähe von Grenoble unterwegs, und der kürzeste, aber fahrerisch anspruchsvollste Rückweg in unser Bergdorf (wo wir zur Europawahl hinfuhren! Können Sie sich daran noch erinnern? Was ist seither nicht alles geschehen und auch nicht geschehen! Die politischen Diskussionen zur Regierungsbildung nehmen kein Ende!) – der kürzeste Weg also führte von den Chartreuses über Barcelonette und den Col de La Cayolle.
In Barcelonette hatte ich uns eine Übernachtung in einer der “mexikanischen Villen” gebucht, so dass wir dort zum ersten Mal einen Abend und eine Nacht verbrachten. Von den Villen wusste ich, und dass man auch in einer komplett erhaltenen Villa übernachten kann, die zu einem Guesthouse oder auf Französisch chambres d’hôtes umgebaut wurde, hatte ich kürzlich in der Sendung Echappées belles gesehen. Ich hoffe, Sie können sich die verlinkte Sendung anschauen, es ist natürlich auf Französisch, um die mexikanischen Geschichte von Barcelonette, die Villen und die Villa Puebla im Besonderen geht es aber erst ab 1:23:10 und es ist auch der letzte Beitrag der Sendung.
Die Villa bekam eine Heizungsanlage, die Zimmer bekamen Bäder, die Betten neue Matratzen, die Küche wurde durch einen Wanddurchbruch vergrößert und außerdem modernisiert, aber das Haus war und ist, auch mit seiner Einrichtung, unverändert erhalten geblieben.
Sogar die originalen Tapeten konnten mit Tapetenrollen, die man auf dem Dachboden gefunden hatte, und die wie durch ein Wunder weder von Mäusen zerfressen noch von Schimmel befallen waren, repariert werden.
Natürlich gibt es keinen Fernseher im Haus, aber es gibt W-lan, und Monsieur konnte Motorsport, ich glaube, es war der Grand Prix von Monaco, auf seinem Laptop sehen.
Währenddessen bin ich ein wenig durch Barcelonette gelaufen, das an Markttagen sehr belebt sein kann, aber an diesem Freitagabend sehr verschlafen war, nicht nur wegen des regnerischen Wetters. Aber es hat mir gefallen, vor allem, weil man von jeder Gasse aus einen Blick auf die Berge hat.
Und nein, ich aß dann nicht beim Mexikaner, sondern holte mir eine Pizza und aß sie in der Küche des Hauses, wo sich ein junger Mann zu mir gesellte, ein Gast der Villa, aus Australien stammend, aber in New York lebend, ein Künstler, von Laurent und Tessi zu einem Aufenthalt als “artist in residence” eingeladen. Wir sprachen über das Leben, das uns jeweils in andere Länder verschlagen hat, er ist jung, schüchtern und sehr bescheiden, und erst als ich später seinen Namen googelte, den er mir auf ein Stück Papier geschrieben hatte, wusste ich, dass ich mit einem der aktuell erfolgreichsten Illustratoren geplaudert hatte, während ich mir mit vollem Mund und wie ein Kind die Käsefäden der Pizza von Hand in den Mund geschoben habe.
Ilya Milstein heißt der Künstler und seine Wimmelbilder zieren manchmal den New Yorker, vor kurzem auch eine Ausgabe des Süddeutschen Magazins.
Diese Überschrift steht schon eine ganze Weile hier, der Sommer ist da, es ist heiß, die Schokokekse schmelzen im Küchenschrank und die Zikaden zirpen, nur ich bin krank. Ich habe die Symptome gegoogelt, es ist nur eine Erkältung, und nein, ich habe kein Fieber, aber ich bin müde und schlapp wie lange nicht mehr. Ich habe alle Termine für diese Woche so weit wie möglich nach hinten verschoben, aber am Freitag wollen wir zu einer Hochzeit fahren, ich bin mir derzeit nicht sicher, ob ich wirklich mitkomme. Im Moment schlafe ich auf einer Matratze im Wohnzimmer (um den Gatten nicht anzustecken) und huste Tag und Nacht trocken vor mich hin. Sechs Stunden in einem Auto mit drei anderen MitfahrerInnen, Maske, Klimaanlage … keine reizvolle Aussicht.
Um der Hitze etwas entgegenzusetzen, schreibe ich Ihnen mal einen kleinen erfrischenden Sommertext. Heute ist nämlich Anne Hidalgo, die Bürgermeisterin von Paris, zum Anschwimmen für die JO, in die Seine getaucht. Vor drei Tagen war noch nicht sicher, ob die Seine eine fürs Schwimmen ausreichende Wasserqualität habe. Heute durfte Anne Hidalgo dann in einem Neoprenanzug schwimmen gehen und tauchte tatsächlich beim Kraulen mit dem Kopf unter Wasser.
Falls sie sich die nächsten Tage keinen Magen-Darm-Virus eingefangen hat, wird dort wohl das Freiwasserschwimmen der Olympischen Spiele stattfinden. Oder vielleicht doch auf der RegattaStrecke – bis vor kurzem gab es keine Alternative, und die SchwimmerInnen bereiten sich mit einer komplexen Technik auf die starke Strömung der Seine vor.
Vor Monaten schon habe ich die Folge des PodcastsÜbers Meer über die Segeljungs Tim und Vince gehört. Ursprünglich beschließen vier Jungs aus Bayern ein Segelboot zu klaun und einfach abzuhaun – ach nein, das war ein anderer Film*. Zwei der vier Jungs fuhren dann auf einem (gekauften) Segelschiff fünf Jahr um die Welt.
Erst seit kurzem sind sie wieder an Land und ich folge Tim Hund nun auf Instagram, der peu à peu aus den Segeln der Arrya Taschen, Rucksäcke und Kulturbeutel näht.
Was ich Ihnen auch schon lange, eigentlich schon letzten Sommer, verlinken wollte, ist diese Bahn-Urlaubsreise der deutsch-finnischen Familie (gefunden via Iberty) von Turku über Istanbul und wieder zurück. Es scheint Grenzüberschreitend leichter zu sein mit der Bahn, ich bin auf jeden Fall erstaunt, wie gut das alles geklappt hat. Am Ende des verlinkten Artikels finden Sie alle Reiseabschnitte in der richtigen Reihenfolge. Jetzt habe ich mich auf dem Mäusedoktor-Blog festgelesen, den gibt es schon lange, aber vielleicht kennen Sie ihn (wie ich) auch noch nicht.
Ach so, und ich habe gestern im Dämmerzustand noch einmal den Film La Baule-les-Pins gesehen, den hatte ich im Zusammenhang mit dem Tod des Schauspielers Pierre Bacri schon einmal verlinkt. Es ist ein typischer französischer Sommerfilm, und er ist noch bis Ende Juli auf arte Replay zu sehen. Er ist nicht nur amüsant, aber sehr französisch, vielleicht schauen Sie ihn im Original und mit deutschen Untertiteln, es gäbe ihn aber auch in deutscher Version: ein Sommer an der See.
So viel für heute! à bientôt!
* Das war Nordsee ist Mordsee mit dem Song von Udo Lindenberg, Gott, ist das lange her!
Der politischen Aufgeregtheit der letzten Tage sind wir hier oben ohne Fernseher weitestgehend entgangen, Was uns natürlich nicht davon abhält, dennoch immer und ständig an Politik zu denken und darüber zu sprechen. Im Newsletter von Nils Minkmar finden Sie einiges zur aktuellen Situation in Frankreich, was ich Ihnen nicht im Detail mitgeteilt habe. Ich weiß, dass der Newsletter auch schon an anderer Stelle verlinkt wurde.
Hier oben geht das Leben seinen gewohnten sommerlichen Gang, es regnet viel und ist kühl, aber ab und zu haben wir auch sonnige Tage, an denen ich dann schnell eine Maschine Wäsche wasche, die in der überraschend heißen Julisonne in kürzester Zeit trocknet, ich fahre wie immer zum Einkaufen, stoße dabei auf eine kleine Schafherde auf dem Weg zur Sommerweide, Transhumance heißt diese Wanderung, die zumindest auf den letzten Kilometern wie früher zu Fuß erfolgt. Es kann Ihnen in den Alpen derzeit überall passieren, dass Sie von einer Schafherde ausgebremst werden. Obacht in den Kurven!
Im Dorf stehe ich wieder Schlange und plaudere mit den Leuten, freue mich über meine Einkäufe und vor allem über die echten Himbeeren, die ich auf dem Markt finde und die wir später mit dem Schafsjoghurt der Schäfer aus dem Dorf essen.
Es gibt wieder eine Demonstration, aber es ist keine politische Demonstration, die sind kurz vor den Wahlen verboten, sie wird zwar freundlich von Gendarmen begleitet, aber es ist eher ein öffentliches Fest unter dem Motto “Liberté”.
Später gehe ich Lavendel schneiden, denn im Nachbarhaus wird ein runder Geburtstag gefeiert, da will ich einen Strauß hinbringen.
Wie Sie dem Pullover des Gatten im Hintergrund entnehmen können, ist es nicht immer Juliwarm.
Gestern Nachmittag wurde mir dann erstmals die Aufgabe zugeteilt Blumenschmuck aus Krepppapier für die Dorf-Deko am 14. Juli zu basteln. Was man als Französin alles darf! Ich empfinde es als Ehre!
Und dann kamen wieder die Schafe. Diesmal eine große Herde. Sie kündigen sich schon von weitem an, das Läuten der Glocken, das Bellen der Hunde, die Rufe der Schäfer, und ein dunkles Grummeln, das immer näher kommt. Aus dem Grummeln wird ein intensives Mäh mäh, aber es sind französische Schafe, also machen sie natürlich Bê, bê, laut und leise, aber zumindest für unsere Ohren sehr monoton. Ich laufe so schnell ich kann, um strategisch gut zu stehen, aber ich habe ein wenig Angst, mich wie früher direkt an den Weg zu stellen, ich weiß nicht, wie die Hunde reagieren werden. Aber am Ende laufen sie lammfromm in der Herde.
Abends gab es als Vorspeise Beignets de fleurs de courgette, und ich habe probehalber zwei kleine Blüten der wilden Möhre, die hier wie verrückt wächst und die ich auf meinem Kiesplatz immer ausreiße, bevor sie blüht, haha, mit gebacken. Sie sind essbar und schmecken leicht nach Karotte. Der Frittierteig war diesmal nicht so gut, aber es war trotzdem ein Genuss!
Heute morgen um Neun waren wir schon wählen, und es waren schon fünfzehn Personen vor uns da gewesen. Heute Abend werde ich wieder bei der Stimmenauszählung mithelfen.
So viel für eben zur Einstimmung. Die Ergebnisse liefere ich später! Bleiben Sie dran
etwas unscharf … die Aufregung …
Hoho! Die ersten Ergebnisse in unserem Dorf sind ermutigend: 33 Stimmen für Leila Tonnerre und den Nouveau Front Populaire, 32 für Max Tivoli und den Rassemblement National. 12 die Blanc gewählt haben und eine ungültige Stimme mit zwei zerrissenen Wahlzetteln im Umschlag. Ein erstaunliches Ergebnis für dieses konservative Dorf!
Die nationalen Ergebnisse werden wir später bei Freunden anschauen. Bis später!
Was für eine Erleichterung
Und was für eine Überraschung! Der Rassemblement National hat weder die absolute noch überhaupt eine Mehrheit im Parlament, sie sind auf dem dritten Platz gelandet, nach dem Linksbündnis Nouveau Front Populaire und Ensemble, der Partei Macrons. Uff!
Falls Sie wissen wollen, wie in einem Département oder in einer bestimmten Stadt gewählt wurde, hier entlang oder hier, diese zweite Karte ist vielleicht leichter zu bearbeiten, bei der ersten müssen Sie zunächst den Wahlkreis wissen, das ist ein bisschen mühsam. Aber es ist ernüchternd zu sehen, dass die Côte d’Azur ziemlich fest in der Hand des Rassemblement National ist. Und auch der Wahlkreis, zu dem mein kleines Dorf, das Hinterland, gehört. Das hatte ich im Prinzip vorausgesagt, aber ich war etwas zu euphorisch über das Wahlergebnis in meinem Dorf.
Im Fernsehen wird deutlich unaufgeregter diskutiert, die Erleichterung ist allen anzusehen (abgesehen vom Kandidaten des RN; Bardella btw. hat eine bemerkenswert positive Rede gehalten, die mit der Hoffnung auf die Zukunft endet), aber natürlich bleibt es herausfordernd, dieses Land zu regieren. Koalitionen kennt man hier so nicht. Ich verlinke Ihnen mal diesen Live-Blog für alle weiteren Informationen. Aber wie es weitergeht, sehen wir ab morgen, vorher wird sich auch Macron nicht äußern. Wir gehen jetzt früh und beruhigt schlafen, genau wie die kleine Schafherde im Wäldchen unterhalb des Hauses. Alles ist friedlich. Ab und zu blökt ein Schaf.
Seit gestern Abend stehen die Kandidaten für den zweiten Wahlgang fest: In unserem Wahlkreis wird es Leila Tonnerre vom Linksbündnis NFP Nouveau Front Populaire sein, die gegen Max Tivoli vom RN Rassemblement National antritt. In unserem Dorf hat sie zwar weniger Stimmen bekommen als die Republikaner und auch als die Macron nahestehende Partei Horizons, aber insgesamt liegt sie im Wahlkreis, vor allem in Grasse, ihrem “Hauptquartier”, oft an zweiter Stelle und hat dort je nach Wahlkreis auch ein paar Mal mehr Stimmen bekommen als der Kandidat des RN. Ein gutes Zeichen also? Vielleicht.
Es ist ganz und gar nicht sicher, ob die Menschen in den Dörfern des Hinterlandes, die im ersten Wahlgang konservativ gewählt haben, im zweiten Wahlgang am kommenden Sonntag für die Neue Volksfront stimmen werden, um den Sieg des Rassemblement National zu verhindern. Leila Tonnerre ist Kandidatin von LFI, La France Insoumise, der Partei von Mélenchon. Ich wiederhole mich, hier ist konservatives Terrain, Mélenchon ist für viele ein rotes Tuch und dass er in verschiedenen Interviews schon wieder die Decke zu sich zieht: “J’ai l’intention de gouverner ce pays” , er habe die Absicht dieses Land zu regieren, sagte er, das gefällt vielen nicht. Man munkelt außerdem, dass das kleine rote Dreieck, das nicht nur Mélenchon am Revers seines Anzugs trägt, offiziell ein Zeichen der Erinnerung an die politischen Häftlinge in den Konzentrationslagern und überhaupt ein Zeichen des Widerstandes gegen die Nazis, auch anders gedeutet werden kann: das rote Dreieck, Teil der palästinensischen Flagge, könne auch als Unterstützung für die Palästinenser verstanden werden. Zumal Mélenchon bei verschiedenen Auftritten von einer Parteifreundin mit einem Palästinensertuch um die Schultern begleitet wurde.
Wir haben also in unserem Dorf genau das Szenario, das vor allem die Juden fürchten, nämlich die Wahl zwischen Mélenchon und Le Pen. Auch wenn in unserem Dorf keine Juden leben, befürchte ich, dass es viele NichtwählerInnen oder “Blanc”-WählerInnen geben wird. “Voter blanc” bedeutet, zur Wahl zu gehen, aber einen leeren Stimmzettel (oder einen leeren Umschlag) abzugeben. Diesen Stimme werden zwar dokumentiert, sie werden aber, genau wie die ungültigen Stimmen, nicht gezählt. Man kann damit aber seine Unzufriedenheit ausdrücken und zeigen, dass man für keinen Kandidaten ist.
Aber, und das befürchte ich zumindest für den ländlichen Raum, es wird mehr Le Pen WählerInnen geben.”So schlimm wird es schon nicht werden”, sagt man hier. “Le Pen ist nicht so verrückt wie Hitler”, fügt man noch hinzu, wenn ich ein skeptisches Gesicht mache. Ich habe das ungute Gefühl, unsere (deutsche) Geschichte noch einmal zu erleben. Dieses Gefühl haben die Franzosen natürlich nicht. Nur Monsieur, der gerade ein Buch von Laurence Rees liest, das ist der Historiker, der sämtliche BBC-Sendungen zum Ersten und Zweiten Weltkrieg gemacht hat, erzählt mir aufgeregt, wie es damals war, als Hitler gewählt wurde. Er sagt jetzt: “Was wir gerade erleben, erinnert total an die Zeit der Weimarer Republik!” “Ich weiß”, sage ich bitter.
Aber die Franzosen wissen davon wenig, die deutsche Geschichte ist nicht die ihre. Sie wollen Veränderung, sie hatten Rechte und Linke und jetzt mit Macron sogar die Mitte, sie haben vor allem den arroganten Macron satt, aber auch den ganzen elitären Politklüngel in Paris. Den RN haben sie nie ausprobiert, Marine Le Pen mit ihren populistischen Phrasen und “Frankreich den Franzosen” scheint vielen eine echte Alternative zu sein. Endlich eine, die für Ordnung sorgt. Und wie gesagt: “So schlimm wird’s schon nicht werden”.
Géraldine Schwarz vertritt in ihrem lesenswerten Buch “Die Gedächtnislosen” die These, dass sich die rechtspopulistischen Strömungen in Europa aus dem Umgang des Kontinents mit seiner Geschichte nach dem letzten großen Krieg erklären lassen. Zur Veranschaulichung verknüpft die in Frankreich aufgewachsene deutsch-französische Autorin ihre Familiengeschichte mit der großen Geschichte.
Géraldine Schwarz entdeckt eines Tages, dass ihr deutscher Großvater, ein Mitglied der NSDAP, 1938 im Zuge der Arisierung ein jüdisches Unternehmen in Mannheim erworben hatte. Nach dem Krieg weigerte sich Karl Schwarz, dem einzigen Überlebenden der in Auschwitz ermordeten Fabrikantenfamilie Julius Löbmann eine Entschädigung zu zahlen. Hier beginnt ihre Recherche über drei Generationen ihrer Familie, immer mit der Frage, wie die Verwandten und andere mit der Vergangenheit umgegangen sind – auch in Frankreich, denn bald erfährt die Autorin, dass ihr Großvater mütterlicherseits unter dem Vichy-Regime als Gendarm in einem Gebiet diente, in dem die Franzosen mit Razzien nach Juden fahndeten.
Deutlich werden für sie die Unterschiede im Umgang mit der nationalen Geschichte: Während in Deutschland Mitläufertum und Mittäterschaft zu bestimmenden Themen wurden, blendeten die Franzosen diese weitgehend aus. In der Bundesrepublik entstand auf dieser Grundlage ein differenziertes Verständnis von individueller Verantwortung in der Demokratie und ein kollektives Bewusstsein für die Gefahren rechtspopulistischen Denkens. […] Die Kehrseite dieser These zeigt sich in ganz Europa: Wo die Auseinandersetzung mit der Kollaboration spät oder gar nicht stattfand, erstarken die Parolen des Rechtspopulismus umso unkontrollierter.
Geraldine Schwarz: Die Gedächtnislosen
Am Sonntag kann alles passieren. Ich bin mir nicht sicher, ob die Franzosen dieses Ergebnis wirklich wollen.
Um zehn Uhr morgens, als ich wählen ging, hatten schon 30 Personen gewählt! Wir haben derzeit 88 Personen, die hier zur Wahl eingeschrieben sind, darunter auch die ehemaligen Aubergisten und andere, die im Prinzip mit dem Dorf nichts mehr zu tun haben. Von diesen 88 haben 75 gewählt, das ist eine Wahlbeteiligung von 85%, noch nie dagewesen, oder schon lange nicht mehr.
Ich habe wieder an der Stimmauszählung teilgenommen, es waren zwar mehr Wahlzettel aus den Umschlägen zu nehmen und mehr Stimmen zu zählen, aber es standen viel weniger KandidatInnen zur Wahl, so dass es wieder in einer halben Stunde erledigt war.
Ja, das Rassemblement National, RN, hat die meisten Stimmen bekommen, 24 nämlich, hat damit aber nicht die absolute Mehrheit, sondern wie beim letzten Mal ein Drittel der abgegebenen Stimmen. LR, die Republikaner, die konservative Partei, die hier familiär bedingt eine Hochburg hat, bekamen immerhin 19 Stimmen, und Horizons, die Macron-nahe Partei ebenso 19 Stimmen. Die Kandidatin von La France Insoumise bzw. dem Neuen Front Populaire hat weniger Stimmen bekommen als letzes Mal Raphael Glucksmann, neun nur, und die Grünen bekamen ganze zwei Stimmen. Und es gab zwei “Blanc”-WählerInnen, die einen weißen Zettel in den Umschlag gesteckt haben, weil sie damit ausdrücken wollen, dass sie mit keinem der Kandidaten zufrieden sind.
Hier wurden Sätze wie “Glucksmann hat sich selbst versenkt, weil er sich mit Mélenchon zusammengetan hat” gesagt, und dass Mélenchon sich mit “nur ein toter Flic ist ein guter Flic …” amüsiert hat, hat dem Ansehen des Nouveau Front Populaire noch einmal geschadet. Hier ist ein konservatives Terrain. Hier macht man keine Witze über tote Polizisten.
Hier wird es aber auch ruhig ausgehen, selbst, wenn die extrem rechte Partei auch national gut abschneiden wird. In Paris hingegen verbarrikadieren die Geschäfte in der Innenstadt bereits die Schaufenster, weil sie für dieses Szenario (die Rechtsextremen bekommen die Mehrheit) Angst vor Ausschreitungen der Linken haben.
Um 20 Uhr werden wir bei Freunden die nationalen Hochrechnung im Fernsehen ansehen. So viel für eben. Ich melde mich wieder. Beinahe ein Liveblog
Es bleibt schwierig
In den Politiksendungen, die wir heute Abend kurz gesehen haben, geht es hoch her, alle rufen durcheinander, sprechen gleichzeitig, fallen sich ins Wort und lassen auch die Moderatoren der Sendung kaum zu Wort kommen. “Taisez vous” herrschte Yannick Jadot, ein grüner Politiker einen Politiker von extrem Rechts an, der, von diesem Ton überrascht, vorübergehend zumindest, tatsächlich still wurde. Sie haben es bestimmt irgendwo gelesen oder gehört, in der Tat hat der RN von Marine Le Pen mit 34,2% mehr Stimmen als der Nouveau Front Populaire, der immerhin 29,1% bekommen hat, und die Partei von Macron ist nur die dritte Kraft mit 21,5%. Die Republikaner LR haben nur 10% Stimmen bekommen.
Der Rassemblement National kann also im zweiten Wahlgang nächsten Sonntag tatsächlich die absolute Mehrheit in der Nationalversammlung erreichen und damit den Premierminister stellen. Im zweiten Wahlgang stehen sich die zwei Parteien gegenüber, die im ersten Wahlgang die meisten Stimmen erhalten haben. Häufig zieht sich die drittstärkste Partei zurück, und ruft dazu auf, auf jeden Fall den Gegner des RN zu wählen, selbst, wenn es nicht die Partei ist, die man freiwillig wählen würde. So wählten viele Linke jahrelang im zweiten Wahlgang rechts oder wie in der jüngsten Geschichte Macron, nur um Le Pen zu verhindern.
In meinem Wahlkreis werde ich vielleicht zwei oder auch drei Kandidaten zur Wahl haben, natürlich den des Rassemblement National und dann den oder die Kandidaten, die in meinem Wahlkreis (der von Carros und Grasse bis nach Valberg reicht, viel ländliches Hinterland) als zweitstärkste Kraft gewählt wurde. Wer das ist, ist derzeit noch offen. Es gibt von vielen Politikern, Edouard Philippe, Raphael Glucksmann, Mélenchon schon deutliche Wahlempfehlungen. Glucksmann sagt: auf jeden Fall Le Pen verhindern, dafür auch rechtskonservativ wählen, wenn es sein muss. Edouard Philippe sagt: “weder La France Insoumise von Mélenchon noch Le Pen”. Eric Ciotti, Sie erinnern sich, ein konservativer Politiker, der kurzfristig zum RN gewechselt ist, ruft nun alle konservativen Wähler auf, wie er RN zu wählen.
Das wäre ein guter Filmtitel. Die Prognosen sprechen von einer großen Gruppe von “Unentschlossenen”, die sich erst auf den letzten Metern vor dem Wahllokal entscheiden könnten. Ich bin also nicht allein. Wenn ich mir vorstelle, dass Trump wiedergewählt wird, der bereits angekündigt hat, die Unterstützung für die Ukraine zu beenden, möchte ich sofort ein linkes Statement abgeben und Le Nouveau Front Populaire wählen. Wenn ich höre, wie Mélenchon es lustig findet, dass auf den Demonstrationen skandiert wird: “Ein toter Flic ist eine Stimme weniger für den RN”, bin ich wieder weit davon entfernt, eine Partei zu wählen, in der auch Mélenchon mitarbeitet.
Auch der Sommer ist hier im Süden unentschlossen. Vor zwei Tagen endlich mal kein Regen und fast blauer Himmel. Wir sind früh an den Strand gegangen, ich war so lange nicht mehr schwimmen. In den letzten zwei Wochen hat sich dort alles verändert. Die Bademeisterhütte steht und ist geöffnet, coole junge Männer stehen dort herum, grüne Fähnchen, die unbeschwertes Baden ankündigen, flattern im Wind. Viele Sonnenschirme stehen schräg im Sand, der Strand ist schon um 10 Uhr morgens gut besucht. Das Meer ist kühl, aber schmutzig. Die Kläranlage scheint zu schwächeln, wir schwimmen ein paar Runden durch schäumendes Spülwasser. Weiter draußen wird es sauberer.
Gestern war es wieder bedeckt und um die 24 Grad, nicht gerade das, was man sich unter Sommer an der Côte d’Azur vorstellt. Aber egal, wir sind sowieso wieder in die Berge gefahren. Wir müssen ja wählen. Auf halbem Weg zum Bergdorf ist es plötzlich sonnig, blauhimmelig und die Temperaturanzeige im Auto, eben noch bei 24 Grad, zeigt plötzlich 34 Grad an. Das ist er also, der Sommer! Für uns dauert er noch genau einen halben Tag, jetzt, am Samstag, war der Himmel morgens schon wieder gelblich und haben wir schon wieder Saharasandregen und Temperaturen um die 20 Grad.
Heute Morgen fahre ich ins “große” Dorf zum Einkaufen: Ich erstehe, und das ist wörtlich zu nehmen, denn überall stehen die Leute Schlange: Käse und Joghurt bei der Schäferin, Salat, Zucchini, Mangold und Blumen (meine ersten und vermutlich auch letzten Pfingstrosen und Rittersporn in diesem Jahr!) bei einem kleinen Erzeuger, Pfirsiche, Aprikosen und Melonen, Tomaten und Auberginen am Gemüsestand. Brot (eine Fougasse) beim Bäcker, Schinken und Mittagessen beim Metzger, Milch, Butter, Schokoladenkekse beim kleinen Tante-Emma-Laden und Bio-Müsli und getrocknete Aprikosen bei der Kooperative. Überall steht man an und plaudert mit dem Verkäufer oder der Verkäuferin und mit den ebenfalls anstehenden Dorfbewohnern und Sommergästen, außerdem treffe ich beim Schlendern von einem zum anderen Menschen von “früher”, man bleibt stehen, gibt sich Küsschen, erzählt sich, was es Neues gibt. Mit einer Freundin trinke ich noch einen späten Kaffee in einem der Bistros. Aus dem Augenwinkel sehe ich, dass sich eine Demo formiert. Eine Demo im Dorf! Liberté, Égalité, Fraternité steht auf einem Leintuch, es gibt fetzige Musik, ein paar Plakate und die etwa 50 Leute ziehen, begleitet von zwei Gendarmen, die Straße hinunter, durchs Oberdorf zurück und versammeln sich auf dem Platz vor der Schule, sie tanzen, singen und machen gut gelaunt Lärm: Es sind die “Linken” aus dem Tal, ich erkenne ein paar ehemalige Hippies und Aussteiger aus verschiedenen Dörfern, von meinem Hof sind Leute dabei, man winkt und ruft mich dazu, ich winke und umarme hier und da, aber ich gehe nicht mit; und es sind auch ein paar Jüngere und Ältere dabei, die ich nicht kenne. Es sei die erste politische Demonstration in Guillaumes, sagt mir einer der jungen Männer zufrieden und stolz. Später würden sie noch Wahlprogramme des Nouveau Front Populaire in den Dörfern verteilen.
Beim Metzger treffe ich eine Frau aus der alternativen Szene, ich frage sie, warum sie nicht mitdemonstriere – ich muss mir einen langen Vortrag anhören, dass es ja schön sei, für die “Brüderlichkeit” zu demonstrieren, im Alltag spüre sie davon nichts, da denke wieder jeder nur an sich. Sie wählt links, aber mit “diesen Leuten” würde sie nicht mehr demonstrieren. “Diese Leute” – ich habe mich in diesem sehr linken und alternativen Milieu auch nie so richtig zu Hause gefühlt, aber die Leute vom Hof sind irgendwie doch auch meine Familie, selbst wenn es den Hof so nicht mehr gibt, Leute gestorben sind, andere weggezogen, Paare sich getrennt haben und die Kinder, die zu meiner Zeit zwei und drei Jahre alt waren, erwachsen sind und in Paris studieren, in Marseille oder in der weiten Welt.
Eines der kleinen Mädchen vom Hof, mit dem ich damals “Engelchen flieg” gespielt habe, ist jetzt Anfang 20, ich folge ihr auf Instagram, sie ist so radikal geworden, ich kann es kaum glauben, mir gefällt nicht immer, was sie schreibt, manchmal schockiert es mich auch. Sie hat aber immerhin eine politische Haltung. Die angeheirateten Enkel sind viel unpolitischer, aber auch sie werden wählen gehen. Was wissen sie von der Welt? Die Ukraine berührt sie nicht, viel zu weit weg, obwohl wir die kleine Familie hier aufgenommen haben. Israel interessiert sie nicht, viel zu kompliziert, jüdische Freunde und Freundinnen scheint es nicht zu geben, arabischstämmige auch nicht, das gute katholische Gymnasium, das sie auf das Leben vorbereitet hat, ein weltfremder Ort.
Ich fahre wieder hoch in “mein Dorf”, ich bereite das Mittagessen zu; ich bin immer so tief zufrieden, wenn ich frische Lebensmittel direkt vom Erzeuger gekauft habe, ich koche dann lieber und esse es auch lieber. Und ich bin so verliebt im meine Blumen. Tatsächlich ein Glücksmoment.
Der wird nur kurz getrübt, weil Monsieur während meiner Abwesenheit zwei alte Radios repariert hat und jetzt verkratzt und verrauscht und etwas zu laut Radio hört.
Nachmittags habe ich mir immerhin die Kandidaten meines Wahlkreises in einer Fernsehsendung angesehen, also vier von sieben durften sich vorstellen und auf Fragen antworten. Später besuchen wir Freunde und diskutieren über Unerfreuliches, das sich im Dorf ereignet hat und natürlich auch Politik. Am Abend auf dem Dorfplatz tranken wir einen Apéro, das Dorf ist voll wie selten, die Wahl morgen ist wichtig, alle sind gekommen. Wir diskutieren vor allem Politik. Um 21 Uhr gab es ein Gitarrenkonzert in der kleinen Kirche, die ebenfalls voll ist. Félix Lalanne, ein Gitarrist und Komponist aus Nizza hat ein leichtes aber angenehmes Konzert konzipiert, spielt uns Filmmusiken vor, lässt uns Filmmusiken raten und erzählt kleine Anekdoten aus der Musikwelt. Es ist ein schöner Abend. Ich weiß immer noch nicht, was ich wählen werde.
Gestern sind die Wahlunterlagen angekommen – normalerweise bekommt man ein paar Tage vor der Wahl einen Haufen Papier mit den Infos zu den Parteien und den Namen der Kandidaten, die im jeweiligen Wahlkreis zur Wahl stehen, damit man sich schon mal alles in Ruhe anschauen kann. Wir wählen in den Bergen und gehören zum 2. Wahlkreis des Départements. Ich finde es immer furchtbar unübersichtlich, auch wenn wir in unserem Wahlkreis nur die Wahl zwischen sieben verschiedenen Parteien bzw. Kandidaten haben. Dass sich hinter “Horizons” die Partei von Macrons ehemaligem Premierminister Edouard Philippe verbirgt, der jetzt Bürgermeister von Le Havre ist, musste ich erst herausfinden. Er steht etwas weiter rechts als Macron, aber er schließt sich ihm an.
Konservativer als Horizons sind die Republikaner, LR.
Bei Marine Le Pen und Jordan Bardella kann man sich nicht irren: RN, rechtsextrem. Die junge Frau mit dem komplizierten Namen Indiana Poret-Rinck, Tochter eines Landwirts, will sich besonders um die Menschen in den Dörfern im Hinterland kümmern: “Sie verdienen es, gehört zu werden! Wir werden Ihnen zuhören”. Etwas dünn, aber vielleicht reicht es ja zusammen mit Marine Le Pen, denn natürlich verteidigt auch sie “unser kulturelles Erbe, unsere Werte und unsere Wurzeln”.
Die extreme Linke hat eine Kandidatin für La France Insoumise, von der ich weder ein Bild noch eine konkrete Aussage finde, dafür aber das Konterfei von Mélenchon auf dem Wahlzettel. Eine klare Botschaft. Zur Wahl stünde auch die Lutte ouvrière, die Arbeiterkampfpartei, die Trotzkisten, ebenso linksradikal..
Ach ja, die Grünen, weder links noch rechts, sie stellen die Natur in den Mittelpunkt ihres Handelns, die einzige konkrete Maßnahme, die sie durchsetzen wollen, ist der Erlass der Grundsteuer für diejenigen, die ihr Land einem nachhaltigen Projekt zur Verfügung stellen, aber mit dem Slogan “Generation animal” und dem Foto eines Mädchens, das ein Kaninchen im Arm hält, kommen sie dann doch eher als Tierschutzpartei daher.
Wen soll ich bitte davon wählen? Wen will ich in der Nationalversammlung sehen und wem traue ich zu, dort sinnvoll zu handeln? Es ist ein Dilemma!
Von wegen Sonne. Wir haben gestern Nachmittag den Regen in den Bergen gegen den Regen an der Côte d’Azur eingetauscht. “Du bist so sommerlich angezogen!” wunderte sich eine Freundin aus einem benachbarten Bergdorf, mit der wir zum Essen verabredet waren, und die selbst Fleecepullover über Langarm-T-Shirt trug, und lange Hosen und Socken, klar. “Ich fahre nachher runter und unten ist es Sommer” behauptete ich da noch. “Runter fahren” (descendre) oder “hoch fahren” (monter) sagt man hier, wenn man von den Bergen an die Küste fährt oder eben umgekehrt von der Küste in die Berge.
Beim Runterfahren habe ich aber durchgängig bedeckten Himmel und der Scheibenwischer arbeitet immerhin intermittierend, ich weiß nicht, ob es dafür ein deutsches Wort gibt, er arbeitet nicht durchgängig, so viel Regen ist es nicht, aber doch ein bisschen. Auf der Schnellstraße kurz vor Nizza immer noch kein blauer Himmel in Sicht, uns überholen zwei deutsche Motorradfahrer, ich spare mir hier die weibliche Form, aus RZ, das muss ich erst nachschauen, Ratzeburg, irgendwo im Norden von Deutschland. Die Armen, denke ich, da wollten sie dem grauen deutschen Junihimmel entfliehen und finden satte 1500 km weiter südlich nur grauen französischen Junihimmel. Und Regen. Auf der Autobahn Stau, weil die Autonbahn stellenweise überschwemmt war. Der Regen war, wie in letzter Zeit so häufig, voller Saharasand.
Bevor wir runterfuhren habe ich noch ein bisschen gejätet und dank des vom Regen durchfeuchteten Terrains nun erfolgreich wilde Möhren aus dem Kiesgelände gezogen. Die wachsen hier wie, hm, Unkraut, haha.
wilde Möhre
Und Königskerzen und Variationen von Ampfer und der hübsche gelbe Steinklee, der voller Bienen ist, weshalb er zumindest auf der Zufahrt weiterhin wuchern darf.
Ich weiß nicht mehr, ob und wer sie mir empfohlen hat, aber so wenig ich mit den Vogelgezwitscher-Apps erfolgreich bin, so sehr bin ich es mit der App zur Pflanzenbestimmung Flora Incognita. Funktioniert super und super einfach!
Von der Freundin mit dem Garten weiter unten bekamen wir echte Bergradieschen geschenkt.
Die Kirschen wurden halbreif geerntet, weil sie bei dem Regen sonst aufplatzen, sie sind nicht besonders süß, sie werden (von ihr) mit den ebenso sehr sauren Johannisbeeren zu Konfiture verarbeitet.
Unten angekommen wurde sofort der Fernseher eingeschaltet, es geht natürlich um Politik und alle möglichen Szenarien mit dem Rassemblement National als Sieger der Wahl werden durchgespielt, denn die Wahlprognose sieht sie weit vorne. Und es wird erneut das Mehrheitswahlrecht Frankreichs kritisiert, es wäre alles nicht so dramatisch, wenn man die extrem rechte Partei seit Jahren “verhältnismäßig” im Parlament vertreten hätte, wie es dem WählerInnenverhalten entspricht; jetzt scheint die absolute Mehrheit der extrem Rechten nicht mehr aufzuhalten zu sein. Vielleicht hat Frankreich sich verändert, sagte gestern im Fernsehen auch resigniert der Schauspieler und Regisseur Matthieu Kassowitz, wenn sogar die Juden Marine Le Pen wählen wollen. Vor zehn Jahren wäre das noch nicht möglich gewesen.
Wie gesagt, wenn es ganz schlimm kommt, dann gehen wir in die Berge. Dort geht es schon immer deutlich konservativer zu, und ich habe gelernt damit umzugehen. Es ist so ein bisschen wie in den Büchern von Juli Zeh, “Unter Leuten” etwa, die umstritten sind, aber doch ziemlich nah dran am ländlichen Leben wie es wirklich ist. Also es gibt zumindest Parallelen zu französischen Bergdörfern. Von außen sieht das Leben in den südlichen Alpen, so rau es ist, aber auch sehr romantisch aus. Dies ist ein Lesetipp, der bei Regen oder Sonnenschein passt. Bis die Tage!
Es ist immer wieder erstaunlich, wie alles zusammenhängt oder zumindest zusammenzuhängen scheint. Bei Herrn Buddenbohm habe ich neulich aus dem Augenwinkel den Link zu Konsalik wahrgenommen – den ich aber gar nicht angeklickt habe – Konsalik, an den habe ich bestimmt seit dreißig Jahren nicht mehr gedacht, obwohl ich glaube, dass ich nie wirklich an Konsalik “gedacht” habe, aber man hat seine Bücher wahrgenommen – auf dem Weg zum Zug in der Bahnhofsbuchhandlung, die damals noch einen schlechten Ruf hatte, eben wegen der trivialen Titel, die sie verkaufte; Aber jetzt, wo diese Erinnerung kurz im Hirn aufflackert, was entdecke ich nur wenige Tage später in dem Bergdorf im Hinterland der Côte d’Azur, in der ehemaligen Telefonzelle, die zur “cabine à livres” umfunktioniert wurde? Konsalik! Viele Bände! Natürlich auf Französisch.
Konsalik, leider unscharf
Nein, “Der Arzt von Stalingrad” ist nicht dabei, aber “Kosakenliebe” und “Das Geheimnis der sieben Palmen”, letzteres wird aber selbst von Konsalik-Liebhabern als “seicht” und “eine Zumutung” eingeschätzt, ich habe mich nämlich gerade ein bisschen informiert, den Podcast über Konsalik habe ich mir nun auch angehört. Es hat heute nämlich noch einmal so wahnsinnig viel geregnet, dass ich nicht “Un”-kraut jäten konnte.
livres accès
Im schönen Bücherschrank hier im Dorf (kleines Wortspiel mit “libre accès” und “livres accès”, meint freier Zugang zu Büchern) steht zwar kein Konsalik, dafür aber Erich Maria Remarques “Im Westen nichts Neues”.
Aber ich bin gerade gedanklich im Osten und auch in einem anderen Krieg, ich lese Jonathan Littells “Die Wohlgesinnten” (aus dem Französischen von Hainer Kober), das ich mir leider in einer gebrauchten Taschenbuchausgabe bestellt habe. Nicht nur, dass man es mit fast 1400 Seiten kaum in der Hand halten kann, die Schrift ist auch noch unglaublich klein. Ich habe gerade gesehen, dass es das auch als Hörbuch gibt, aber ich weiß nicht, ob ich mir das antun will. Ich mag das Blättern, das Vor- und Zurücklesen, das fehlt mir beim Hörbuch sehr, und wenn ich da etwas überspringe (was ich mir bei 50 Stunden Vorlesen durchaus vorstellen kann), dann habe ich immer das Gefühl, dass ich etwas Entscheidendes verpasst habe, das ich dann nicht so einfach nachhören kann, wie ich es nachblättern könnte. Verstehen Sie, was ich meine?
Ich weiß nicht, ob Sie “Die Wohlgesinnten” kennen? Ich bin darauf gestoßen, als ich mich mit der Geschichte der Ukraine beschäftigt habe und dabei auf das Massaker von Babyn Jar (es gibt mehrere Schreibweisen) gestoßen bin. Davon hatte ich noch nie gehört – oder nur vage, es war mir vor Jahren bei der Ausstellung über die Verbrechen der Wehrmacht schon einmal begegnet. Aber zu dieser Zeit hatte ich keinen Bezug zur Ukraine und es blieb ein Massaker unter vielen (dass man das sagen kann, ist erschütternd genug).
Von dem Callsen-Prozess, der in Darmstadt stattfand, zugegebenermaßen zu einer Zeit, als ich noch in der Grundschule war, hatte ich übrigens auch noch nie etwas gehört, aber auch später war dieser Prozess nie ein Thema, und ich habe doch in Darmstadt Abitur gemacht und hatte junge engagierte Sozialkunde- und Geschichtslehrer, die mit uns über den Nationalsozialismus gesprochen haben. Dass Kuno Callsen damals in Neu-Isenburg wohnte, wohin es auch meine kleine Herkunftsfamilie verschlagen hat, ist nur ein zusätzliches überraschendes Detail.
“Die Wohlgesinnten”, im französischen Original “Les Bienveillantes”, erschien während meiner Kulturabstinenz, die etwa von 2005 bis 2010 dauerte – meine persönliche Auszeit, in der ich mit dem Eintauchen in das Bergleben, in eine fremde Welt und Sprache völlig ausgelastet war. Deutsche Kultur und Bücher interessierten mich damals nicht (mehr), für französische Kultur und Neuerscheinungen war mein Französisch noch viel zu rudimentär. Auch heute lese ich lieber auf Deutsch (vor allem, wenn es sich um so dicke Wälzer handelt). Aber ich glaube, ich hätte es damals auch nicht gelesen, weil mir der Bezug zur Ukraine gefehlt hat. Es geht um die Erinnerungen des fiktiven SS-Offiziers Maximilian Aue und vor allem um das Massaker von Babyn Jar.
Wegen des Regens bin ich mit dem Ich-Erzähler Maximilian Aue gestern schon in Lemberg, Lviv heißt es heute, angekommen und über Tausende von stinkenden Leichen gestolpert, es gibt Vergeltungsmaßnahmen gegen die Juden, die als Täter gelten. Wir sind erst auf Seite 80 und es ist schon ziemlich unerträglich.
So viel für heute. Wir essen Fertigsuppe, die ich mit frischer Tomate und Knoblauch etwas aufpeppe, aber nein, keine kalte Suppe à la Gazpacho, nein, eine schöne wärmende Gemüsesuppe wird das. Ein Feuer machen wir am ersten Tag des Sommers dennoch nicht, wir ziehen einen zweiten Pullover an. Und Socken, die sowieso. Machen Sie’s gut.
Das hatte ich gestern Abend geschrieben, und dann erschien es mir doch zu düster für den längsten Tag des Jahres, an dem im Norden Mittsommer gefeiert wird und in Frankreich, zumindest in den größeren Städten, “La fete de la musique” stattfindet: viele Open-Air-Konzerte zum Mitsingen und Tanzen. Davon war gestern hier nichts zu spüren und zu hören. Wenn es ganz schlimm kommt, ziehe ich mich in die Berge zurück, sage ich immer und hoffe, dass ich dann auch davon hier nichts mitkriege.
Heute endlich Sonnenschein und blauer Himmel, ich putze die vom schmutzigen Schlammregen verdreckten Fenster und schaue kritisch auf den schon wieder grün werdenden Kiesplatz. Diesen trüben Text schicke ich nun ins hoffentlich überall sonnige Wochenende. Mal sehen, ob ich in nächster Zeit noch einen “Sonnenschein-Lektüre-Text” zusammenbasteln kann. à bientôt!